Brief 72 | Selbstbilder

Giuseppe Castiglione (1829–1908): Der Salon Carré im Louvre, 1861

(Paris, Louvre. Quelle: wikipedia)


Liebe F.,

zunächst zu deiner Antwort auf meine Verständnisfrage:

Du hattest in Deinem vorletzten Brief ausführlich die Offenheit oder auch Erweiterung Deiner Person der Festlegung Deiner Person gegenübergestellt und als einen der maßgeblichen Gründe (neben der Rollenverteilung) für diese Verengung die Form des Blogbriefes genannt. Diese Ansicht teile ich nicht, das hatte ich sagen wollen. Vorsichtiger ausgedrückt, die Schriftform grundsätzlich und speziell die Blogbriefform fördern zwar –dies ist meine Einschätzung- die Tendenz zur einseitigen Selbstbeschreibung, ich halte sie allerdings nicht für einen maßgeblichen Grund.

Danke für die Aufklärung, da lag ich völlig daneben. Ich hatte deine Skepsis darauf bezogen, dass du meine Neuerungsversuche für wenig erfolgversprechend hältst. Das wäre also abgehakt.

Und noch etwas vorweg: „Die eine singt, die andere nicht“ – diese Assoziation hat mir gut gefallen. Mehr fällt mir dazu nicht ein, aber das hatte ich sagen wollen. 😊

 

Selbstbilder

Es kommt mir spontan und intuitiv und als generelle Antwort in den Sinn, kann also auf Dich zutreffen oder auch nicht, aber das Selbstbild ist, denke ich, mit bestimmten Rollen verknüpft, die wir einnehmen, und die Rollen geben uns Sicherheit. Aus diesem Grunde kann die Entdeckung neuer/alter Eigenschaften (zunächst) verunsichern, weil damit auch unsere Rollen in Beziehungen tangiert sind, ein Konfliktpotential.

Ja, so ungefähr hatte ich das auch verstanden, aber ich hatte Schwierigkeiten mir das vorzustellen. Ich glaube, das liegt daran, dass ich mich isoliert gesehen habe, während du das Ganze in Beziehungsgeflechten verortest. Ich habe mich nur selbst beobachtet und mich über neue Eigenschaften gefreut (ich gehe übrigens immer von positiven bzw. mir angenehmen neuen Eigenschaften aus, ist mir aufgefallen), ohne daran zu denken, wie die anderen wohl auf diese mehr oder minder veränderte B. reagieren werden. Aber das liegt vermutlich daran, dass mir das im Grunde auch egal ist. Konfliktpotential gäbe es vielleicht in einer Liebesbeziehung, wenn einer der Partner sich in eine Richtung entwickelt, die dem anderen nicht behagt oder mit der er nicht umgehen kann oder will („Du bist nicht mehr derselbe Mensch, in den ich mich einmal verliebt habe!“). Da muss das Gefüge dann neu austariert werden, das hatten wir während meiner Ehe einige Male. Aber da ich jetzt ja singulär (Katja Kullmann) bin, entfällt das. Alle anderen Beziehungen – zu Verwandten, Freundinnen, Kolleginnen – geht das nichts an, um es mal ganz grob zu sagen. Die müssen mich nehmen, wie ich bin oder werde (falls sie die kleinen Veränderungen überhaupt bemerken), oder es eben lassen. Hier empfinde ich also keine Verunsicherung.

Was mich allerdings manchmal verunsichert, sind Situationen wie die von dir beschriebene in dem theologischen Gesprächskreis, denn so etwas kenne ich auch nur zu gut (Ähnliches habe ich in einem Philosophiekurs an der VHS erlebt). Das hatte ich auch ganz allgemein mit dem Zurückrutschen in alte Bahnen gemeint, um deine Frage hiernach zu beantworten. Ich hatte dabei also nicht etwas Konkretes aus der Gegenwart im Kopf als vielmehr ein generelles Muster bei mir. Neue Eigenschaften probiere ich in der Regel in neuen Umgebungen aus, wo niemand die „alte B.“ kennt, also auch kein bestimmtes Verhalten von mir erwartet wird. Ich hätte also alle Freiheit, mich so zu verhalten, mich so zu zeigen, wie ich mir das wünsche. Dass das aber nicht so einfach funktioniert, weil ich mein „altes Ich“ ja weiterhin in und mit mir trage, ärgert und frustriert mich dann. 

Im Grunde warte ich direkt darauf, dass sich dieses Muster wiederholt, dass meine Entwicklungsversuche also zu nichts Dauerhaftem führen. Mal gucken, was diese Erwartungshaltung jetzt für Folgen hat. Sie kann sich negativ, wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung auswirken; oder aber, da ich mir dieser Gefahr bewusst bin, kann auch der gegenteilige Effekt eintreten und ich unterlaufe das quasi. Da es sich hier aber um schleichende Prozesse handelt, wird es wohl eine Weile dauern, bis sich da überhaupt eine deutliche Entwicklung zeigt, in welche Richtung auch immer. 

Was sich allerdings bereits verändert hat, das ist eine viel größere Bewusstheit als früher. Das hat einerseits mit der intensiven Auseinandersetzung durch unsere Gespräche zu tun; andererseits ist es aber auch einfach eine überaus angenehme Folge des Älterwerdens. Ich kenne mich so viel besser als früher! Das birgt zwar einerseits die Gefahr, in den immergleichen Bahnen zu bleiben; andererseits weiß ich aber auch viel besser als früher, auf welchen Gebieten ich mir überhaupt Veränderung wünsche und auf welchen anderen ich mich gar nicht erst abkämpfen muss. Ich muss z.B. nicht – um ein für mich extremes Beispiel zu wählen – daraufhin arbeiten, eine lockere Smalltalkerin auf Partys zu werden. Ich gehe ja gar nicht auf Partys (gibt es sowas überhaupt noch?), und zwar aus dem guten Grunde, weil das für mich ausgesprochen öde und anstrengende Veranstaltungen sind. Wenn es sich je zutragen sollte, dass ich doch mal auf eine Feier gehen muss, dann bin ich ziemlich zuversichtlich, dass ich da auch ohne Smalltalk, einfach mit meiner stillen Art durchkommen werde. Es ist mir egal – das ist vielleicht eine der angenehmsten Begleiterscheinungen des Älterwerdens.

 

Montaigne

„Unterschiede zwischen uns und uns selbst“ – das gefällt mir s e h r. Montaigne skizziert, falls ich das kurze Zitat richtig verstehe, ein komplett anderes Modell der Person als das, von dem wir –stillschweigend- ausgegangen sind, wenn wir über unsere Person gesprochen haben. Kein „Kern“, kein „Zentrum“ von „wesentlichen“ Eigenschaften, um die sich kreisförmig herum oder in Abzweigungen gedacht „unwesentlichere“ Eigenschaften tummeln. „Fragmentiert“ würde ich diesen Person-Entwurf nennen oder besser noch, zusammengesetzt aus vielen Mosaiksteinen, die in ständiger Bewegung sind. Wenn man dieses Modell zugrundelegt, kann man von „eine Andere werden“ gar nicht mehr sprechen genaugenommen, weil man sowieso immer schon eine Andere ist. Ich finde dieses Person-Verständnis auf Anhieb sehr reizvoll, auch wenn ich so schnell die Konsequenzen überhaupt nicht überblicken kann.

„Weil man sowieso immer schon eine Andere ist“ – was für ein toller Satz! Und du bist damit genau auf den Zusammenhang gekommen, in dem ich dieses Zitat gefunden habe, nämlich bei Julia Kristeva, „Fremde sind wir uns selbst“, wo es um das Andere in uns selbst geht. Ich hatte zwar die „buntscheckigen Fetzen“ als Überschrift genommen, weil das besser klang, aber eigentlich ging es mir genau um diesen Punkt des Unterschiedes zwischen uns und uns selbst. Ja, das ist ein Gedanke, der nicht so schnell auszuloten ist. Ich lasse das für heute auch unausgelotet, hoffe aber, dass wir irgendwann darauf zurückkommen werden.

Doch noch ein Nachtrag, der sich ergab, als ich eben die Überschrift zum vorigen Abschnitt hinzufügte: In deinem dazu von mir zitierten Abschnitt schreibst du von „Selbstbild“. Ein kleiner Schritt in Montaignes offene Richtung wäre es vielleicht, hier von Selbstbildern zu sprechen, also im Plural. Gerade stelle ich mir vor, ich bin mein eigenes kleines Museum, mit vielen verschiedenen Bildern an der Wand, die alle unterschiedliche Facetten meines Wesens darstellen. Ich kann das entweder in seiner Gesamtheit auf mich wirken lassen oder aber mir ein einzelnes Bild zur genaueren Betrachtung heraussuchen, je nach Anlass oder Laune. Vielleicht stelle ich mich auch an die Staffelei und füge ein neues Bild hinzu! 😊

 

Emotionen

Hm, wenn Du „persönlicher“ mit gefühlsbetonterem Schreiben gleichsetzt, dann schwebte mir das schon vor (Augen), aber höchst diffus. Wichtiger scheint mir allerdings, was Du oben anmerkst: Allmählich wird es Dir zu persönlich. Ich bin perplex. Findest Du, daß wir im Laufe der letzten Monate persönlicher geworden sind, oder hast Du nicht den Eindruck und möchtest selber aber zur Zeit weniger über Gefühle sprechen? Ich habe mir die Briefe der vergangenen Wochen durchgelesen und kann keine Veränderung in der Emotions“lastigkeit“ feststellen. Was natürlich nicht mehr heißt als daß ich keine Veränderung bemerke. Vielleicht schwingt die Vehemenz meiner Gefühle, die ich durchaus an mir selber wahrnehme, im Hintergrund meines Schreibens mit ...?

Vielleicht täuscht mich mein Eindruck, aber ich habe das Gefühl, dass wir ganz am Anfang „allgemeiner“ waren. Ich kann das aber tatsächlich auch nicht als eine konkrete Entwicklungslinie erkennen, es schwankt auch von Brief zu Brief, manche sind allgemeiner, manche persönlicher. Hier bricht aber wohl wieder ein altes Muster bei mir durch: Ich mag es nicht, allzu lange von mir selbst zu erzählen. Ich finde das auf Dauer uninteressant. Interessant wird es für mich, wenn ich aus meinem eigenen Erleben weiterreichende, mehr theoretische Gedanken entwickeln kann. Wenn du nun schreibst, du möchtest mehr „emotions- und eingebungsbetont“ schreiben, dann geht das, zumindest verstand ich das so, in die entgegengesetzte Richtung. Aber man kann natürlich auch temperamentvoll theoretisieren! Das Beste ist, wenn jede von uns so schreibt, wie ihr zumute ist. Lass also gern deinen Gefühlen freien Lauf! 😊 Ich hoffe nur, dass es dich nicht allzu sehr stört, wenn ich nicht in gleicher Intensität antworte, sondern reservierter bleibe. Denn zurzeit drängt es mich überhaupt nicht, meine emotionale Seite auszubauen. 😊

B.

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