Brief 73 | Von neuen Tönen 🎵

Liebe B.,

Und noch etwas vorweg: „Die eine singt, die andere nicht“ – diese Assoziation hat mir gut gefallen. Mehr fällt mir dazu nicht ein, aber das hatte ich sagen wollen.

Von der „anderen“ weiß man nur eines, sie „singt nicht“. Alles andere bleibt vollkommen offen. Meinen Part, den Du so zusammengefasst hattest: „du verharrst im Unglück“, hatte ich damit öffnen wollen für jede Art von Interpretation. Insbesondere dem „Verharren“ hatte ich weder zustimmen noch ihm widersprechen wollen.

Singulär

[...] Ich habe mich nur selbst beobachtet und mich über neue Eigenschaften gefreut (ich gehe übrigens immer von positiven bzw. mir angenehmen neuen Eigenschaften aus, ist mir aufgefallen), ohne daran zu denken, wie die anderen wohl auf diese mehr oder minder veränderte B. reagieren werden. Aber das liegt vermutlich daran, dass mir das im Grunde auch egal ist. Konfliktpotential gäbe es vielleicht in einer Liebesbeziehung, wenn einer der Partner sich in eine Richtung entwickelt, die dem anderen nicht behagt oder mit der er nicht umgehen kann oder will („Du bist nicht mehr derselbe Mensch, in den ich mich einmal verliebt habe!“). Da muss das Gefüge dann neu austariert werden, das hatten wir während meiner Ehe einige Male. Aber da ich jetzt ja singulär (Katja Kullmann) bin, entfällt das. Alle anderen Beziehungen – zu Verwandten, Freundinnen, Kolleginnen – geht das nichts an, um es mal ganz grob zu sagen. Die müssen mich nehmen, wie ich bin oder werde (falls sie die kleinen Veränderungen überhaupt bemerken), oder es eben lassen. Hier empfinde ich also keine Verunsicherung.

Da ich mich als Deine Freundin verstehe, bin ich zuerst brüskiert gewesen – dies aber nur für einen Moment, weil ich ziemlich schnell selber –über meine Reaktion- habe lachen müssen. Denn es ist sicher richtig, daß das Zusammenleben als Ehepaar den Effekt hat, worüber wir zu Beginn ja ausführlichst gesprochen haben, daß wir in der Ehe wie ein „erweitertes Ich“ leben. In einer derart engen Beziehung, die in feinsten Nuancen austariert ist, können auch schon kleinere Veränderungen des Partners oder der Partnerin hohe Wellen schlagen. Alle anderen Beziehungen, in denen sich „Ichs“ treffen, sind nicht in dieser Weise ineinander verwoben.    

Was mir außerdem auffällt: Der ganze Abschnitt ist in einem derart entschiedenen und bestimmten Ton gehalten, den ich tatsächlich als neu empfinde. „Das bin ich und da wird mir auch niemand in die Quere kommen“, so würde ich Deine Beschreibung bündig zusammenfassen. Übrigens passt dazu, wie ich finde, auch die Bestimmung Deines Status als „singulär“. Wenn man sagt, man sei verwitwet, dann ist das eine Bestimmung vom „Anderen“ her, von dem her, was nicht (mehr) ist, d.h. es ist die Statusfestlegung als ein Reduziertes. „Singulär“ hingegen ist eine Bestimmung, die ein eigenständiges Ganzes ausdrückt.

Was sich allerdings bereits verändert hat, das ist eine viel größere Bewusstheit als früher. Das hat einerseits mit der intensiven Auseinandersetzung durch unsere Gespräche zu tun; andererseits ist es aber auch einfach eine überaus angenehme Folge des Älterwerdens. Ich kenne mich so viel besser als früher! Das birgt zwar einerseits die Gefahr, in den immergleichen Bahnen zu bleiben; andererseits weiß ich aber auch viel besser als früher, auf welchen Gebieten ich mir überhaupt Veränderung wünsche und auf welchen anderen ich mich gar nicht erst abkämpfen muss. Ich muss z.B. nicht – um ein für mich extremes Beispiel zu wählen – daraufhin arbeiten, eine lockere Smalltalkerin auf Partys zu werden. Ich gehe ja gar nicht auf Partys (gibt es sowas überhaupt noch?), und zwar aus dem guten Grunde, weil das für mich ausgesprochen öde und anstrengende Veranstaltungen sind. Wenn es sich je zutragen sollte, dass ich doch mal auf eine Feier gehen muss, dann bin ich ziemlich zuversichtlich, dass ich da auch ohne Smalltalk, einfach mit meiner stillen Art durchkommen werde. Es ist mir egal – das ist vielleicht eine der angenehmsten Begleiterscheinungen des Älterwerdens.

In dieser Hinsicht, wo die Grenzen meines Veränderungswunsches verlaufen, bin ich durch unser Gespräch auch gut vorangekommen. Bei geselligen Veranstaltungen von Gruppen fühle ich mich unwohl, und jetzt will ich auch gar nicht mehr ergründen, warum das so ist, und wie ich mich dahingehend verändern kann, daß ich mich „smalltalkend“ wohlfühle.  Inzwischen bin ich in dieser Hinsicht mit mir vollkommen sicher. Ich möchte nicht ohne Kontakte und einsam sein, aber meine Vorliebe für Zweierkontakte bzw. Zweier-Beziehungen, die kann ich fördern, damit ich nicht einsam bin. Wo indes noch reichlich Luft nach oben ist, das sind Veranstaltungen, in geschlossenen Räumen!, Veranstaltungen wie Konzerte oder auch Ausstellungen (insbesondere in kleineren Räumlichkeiten). Ich trete dort oder besser ich muß dort alleine auftreten, weil ich keinen Mann habe. Weil ich alleine bin. Weil niemand mich liebt. Da nützt auch der Ehering nichts mehr. Schäme ich mich? Ja. Und schlimmer als je zuvor: Ich suche einen Mann. Wohin soll ich meine Blicke wenden? Unsichtbar möchte ich mich machen. Also begebe ich mich in solche Situationen erst gar nicht. Dies formuliere ich meinerseits jetzt sehr drastisch, um die Sache auf den Punkt zu bringen. Im nächsten Abschnitt geht es noch weiter ...

Neue Töne  📯       

Vielleicht täuscht mich mein Eindruck, aber ich habe das Gefühl, dass wir ganz am Anfang „allgemeiner“ waren. Ich kann das aber tatsächlich auch nicht als eine konkrete Entwicklungslinie erkennen, es schwankt auch von Brief zu Brief, manche sind allgemeiner, manche persönlicher. Hier bricht aber wohl wieder ein altes Muster bei mir durch: Ich mag es nicht, allzu lange von mir selbst zu erzählen. Ich finde das auf Dauer uninteressant. Interessant wird es für mich, wenn ich aus meinem eigenen Erleben weiterreichende, mehr theoretische Gedanken entwickeln kann. Wenn du nun schreibst, du möchtest mehr „emotions- und eingebungsbetont“ schreiben, dann geht das, zumindest verstand ich das so, in die entgegengesetzte Richtung. Aber man kann natürlich auch temperamentvoll theoretisieren! Das Beste ist, wenn jede von uns so schreibt, wie ihr zumute ist. Lass also gern deinen Gefühlen freien Lauf! Ich hoffe nur, dass es dich nicht allzu sehr stört, wenn ich nicht in gleicher Intensität antworte, sondern reservierter bleibe. Denn zurzeit drängt es mich überhaupt nicht, meine emotionale Seite auszubauen.

„Ganz am Anfang“, das würde ich Dir spontan bestätigen. Es war ja auch unsere Ursprungsidee, Themen aus den mail-Briefen in die Blogbriefe auszulagern, um sie hier in allgemeinerer Form eingehender besprechen und vertiefen zu können. Vielleicht ist die Entwicklung zu einer persönlicheren Note auch einer der unmerklich verlaufenden Prozesse gewesen ... ich glaube allerdings, es ist müßig, weil es nicht weiterführt, dem jetzt weiter nachzugehen. Du hast Dein Unbehagen geäußert und das festgefahrene Rad bewegt sich wieder.

Die Frage, die ich in meinem letzten Brief vergessen hatte zu stellen, beantwortest Du netterweise oben. „Mich als Beispiel“ nehmen, hattest Du geschrieben und was Du mit Dir selber als Beispiel meintest, das war mir nicht klar. Die Entwicklung theoretischer Gedanken aus dem eigenen Erleben bedeutet andersherum gewendet, theoretische Konzepte auf das eigene Leben hin anzuwenden. Insofern bist Du dann ein –konkretes –Beispiel. Insgesamt empfinde ich Deinen Schreibstil als ersichtlich narrativer als meinen ... hm, das stimmt vielleicht sogar, nur wäre dazu einzuwenden, daß allgemeine Erwägungen in erzählender Form darzulegen nicht gleichbedeutend damit ist, hauptsächlich die eigene Person oder das eigene Erleben in den Mittelpunkt des Schreibens zu stellen.

Mein „emotionsbetonteres“ Schreiben muß ich korrigieren, weil mir jetzt in diesem Brief deutlich geworden ist, daß ich etwas anderes meinte. Das Vermeidungs-Beispiel oben, mich alleine gesellschaftlich-kulturellen Zusammenkünften auszusetzen, daran wurde es mir klar. Ich will nicht beschönigen, beschwichtigen, übertünchen, weichspülen, glattbügeln. Ich betrachte solche Situationen gerne genau und möchte sie benennen. Scham? Alleine? Ohne Mann? Ungeliebt? Das hört sich verquer unemanzipatorisch an. Dann ist es das! Ich glaube „natürlich“, daß ich ein einigermaßen normaler Mensch, eine normale Frau bin, was nicht heißt, daß die meisten Frauen oder Menschen dies so empfinden müssten wie ich (vielleicht gibt es eine andere Sorte von Menschen, die in eine kleine Kunstgalerie gehen und sagen: „hier komme ich. Und ich will was“ [eine Frau, einen Mann]). Aber ich auf meine Art bin sicher nichts Exotisches.

Übrigens fällt mir auf, wenn Du oben sagst „im Grunde ist mir das egal“, dann gehört diese Art Dich zu äußern, auch zu dem, was ich meine, Du harmonisierst nicht (mehr).            

Vielfältigkeit

„Weil man sowieso immer schon eine Andere ist“ – was für ein toller Satz! Und du bist damit genau auf den Zusammenhang gekommen, in dem ich dieses Zitat gefunden habe, nämlich bei Julia Kristeva, „Fremde sind wir uns selbst“, wo es um das Andere in uns selbst geht. Ich hatte zwar die „buntscheckigen Fetzen“ als Überschrift genommen, weil das besser klang, aber eigentlich ging es mir genau um diesen Punkt des Unterschiedes zwischen uns und uns selbst. Ja, das ist ein Gedanke, der nicht so schnell auszuloten ist. Ich lasse das für heute auch unausgelotet, hoffe aber, dass wir irgendwann darauf zurückkommen werden.

Ja, das wäre schön. Kristeva habe ich vor ungefähr 25 Jahren gelesen, fasziniert von ihrer Gedankenschärfe und ihrer brillianten Schreibweise -und zugleich erinnere ich nichts mehr von dem, was sie inhaltlich schreibt – sofern ich damals überhaupt mehr als ahnungsweise verstand, was ihre Aussagen sind.

Doch noch ein Nachtrag, der sich ergab, als ich eben die Überschrift zum vorigen Abschnitt hinzufügte: In deinem dazu von mir zitierten Abschnitt schreibst du von „Selbstbild“. Ein kleiner Schritt in Montaignes offene Richtung wäre es vielleicht, hier von Selbstbildern zu sprechen, also im Plural. Gerade stelle ich mir vor, ich bin mein eigenes kleines Museum, mit vielen verschiedenen Bildern an der Wand, die alle unterschiedliche Facetten meines Wesens darstellen. Ich kann das entweder in seiner Gesamtheit auf mich wirken lassen oder aber mir ein einzelnes Bild zur genaueren Betrachtung heraussuchen, je nach Anlass oder Laune. Vielleicht stelle ich mich auch an die Staffelei und füge ein neues Bild hinzu!

Wie es mir erging, als ich das kurze Montaigne-Zitat von den „buntscheckigen Fetzen“ las, veranschaulicht der Louvre-Saal von Castiglione wirklich toll, finde ich. Mir wurde vor lauter Fülle und Unübersichtlichkeit (meiner eigenen Person) fast ein bisschen schwindelig-übel. „Wie wenn“ man sich beim Sufi-Tanzen um die eigene Achse dreht und die Augen keinen Fixpunkt finden. Deine Modifikation des Gemäldes, nicht jedes der Selbstbilder stelle ein in sich abgeschlossenes Ganzes dar, sondern nur Facetten, die sich insgesamt dann zu einem Ganzen zusammenfügen, nimmt der „Sache“ das schwindelerregende Moment. Bemerkenswert finde ich übrigens die Wucht des Raumes, die die Menschen winzig und wie verloren erscheinen lässt. Übersetzt auf die Facetten des Selbstbildes würde dies bedeuten, sie bestimmen uns ...? An der Stelle endest Du häufig mit den Worten, man solle oder müsse die Übertragbarkeit –der Bilder- nicht überziehen. So ist es :-))).

F.

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.