Brief 71 |"Die eine singt, die andere nicht"

Liebe B.,

Meine Antwort auf Deine „Verständnisfrage“ stelle ich vorweg, und auch sonst habe ich ein bisschen „umgebaut“. Während des Lesens ist mir die gedankliche „Unordnung“ überhaupt nicht aufgefallen; erst als ich anfing, die Abschnitte hin- und herzuschieben, wurde mir bewußt, daß Deine Einschätzung richtig war.

Nein, ich sehe/verstehe nicht. Skeptisch in Bezug auf was?

Du hattest in Deinem vorletzten Brief ausführlich die Offenheit oder auch Erweiterung Deiner Person der Festlegung Deiner Person gegenübergestellt und als einen der maßgeblichen Gründe (neben der Rollenverteilung) für diese Verengung die Form des Blogbriefes genannt. Diese Ansicht teile ich nicht, das hatte ich sagen wollen. Vorsichtiger ausgedrückt, die Schriftform grundsätzlich und speziell die Blogbriefform fördern zwar –dies ist meine Einschätzung- die Tendenz zur einseitigen Selbstbeschreibung, ich halte sie allerdings nicht für einen maßgeblichen Grund.      

[...] Es ist bei mir das alte Spiel: Ich probiere voller Elan etwas Neues aus, nur um mich nach einiger Zeit doch wieder in den alten Bahnen wiederzufinden. Woran liegt das? Weil das Neue mir eben doch nicht entsprochen hat? Ist es eine Rückkehr zum „wahren“ Kern oder eher zur Gewohnheit? Gerade diese Gewohnheit möchte ich aber zumindest teilweise überwinden. [...] Andererseits habe ich das Gefühl, irgendwie nicht „richtig“ zu leben, wenn alles bleibt, wie es war, und nur mein Mann fehlt. [...]

Ob Du das "Neue" und die „alten Bahnen“ näher beschreiben willst und kannst ...? Ich habe den Eindruck, kann ihn aber gedanklich nicht fassen, Du würdest etwas Anderes meinen als Du im folgenden Absatz erzählst (die Entwicklung von der „Einzelgängerin“ zur „geselligen Einzelgängerin“).

Unabhängig von Dir trifft die Formulierung bei mir auf regen Widerhall. Im 2. Jahr nach dem Tod meines Mannes bin ich zum Beispiel einem theologischen Gesprächskreis beigetreten und fand mich dort –frustriert und erstaunt- mit mir selber konfrontiert wieder, mit der alten Person; dem alten Muster, mich nicht zu trauen, in einer Gruppe redend in Erscheinung zu treten, obwohl ich gerne geredet und mich beachtet gefühlt hätte. Ich saß also mit mir nörgelnd, mich in meiner Haut nicht wohlfühlend herum und habe mich jedes Mal zu den Treffen hingequält, bis der Kreis aufgelöst wurde - was mich einer Entscheidung enthob. Vom „Setting“ her war die Veranstaltung am Rande meiner „Komfortzone“, denn gesprochen wurde anhand von Texten über Thematisches, d.h. es war kein „geselliges Beisammensein“. Insofern entsprach die Gesprächsrunde schon meinem Interesse und war von der Form her auch so angelegt, daß sie nicht jenseits meiner Fähigkeiten lag. Das „alte Muster“, das leidige Minderwertigkeitsgefühl, die Gewohnheit sind in der neuen Situation nur wieder ans oder ins Licht getreten.        

Gleich ein Widerspruch: [...]Hatte ich mich früher als Einzelgängerin beschrieben, so würde ich mich heute als etwas geselligere Einzelgängerin bezeichnen. Das ist tatsächlich eine Veränderung.

Ich empfinde neue Eigenschaften meist nicht als Verunsicherung, sondern als Bereicherung. Wenn ich beispielsweise feststelle, wie sehr es mich zum Alleinsein, zum Einsiedlerleben drängt, viel mehr als früher – so registriere ich das eher mit Erstaunen. Oder die Kehrseite: Wenn ich merke, dass ich neuerdings offener für Kontakte bin – warum sollte mich das verunsichern, nur weil das meinem bisherigen Selbstbild nicht entspricht?

Es kommt mir spontan und intuitiv und als generelle Antwort in den Sinn, kann also auf Dich zutreffen oder auch nicht, aber das Selbstbild ist, denke ich, mit bestimmten Rollen verknüpft, die wir einnehmen, und die Rollen geben uns Sicherheit. Aus diesem Grunde kann die Entdeckung neuer/alter Eigenschaften (zunächst) verunsichern, weil damit auch unsere Rollen in Beziehungen tangiert sind, ein Konfliktpotential.    

Du schreibst das fast so nebenbei – empfindest du diese Veränderung auch als so bemerkenswert wie ich eben beim Lesen?

Ja. Und das ist zugleich ein wundervolles Beispiel für meine Zögerlichkeit, neue Aspekte meiner Person womöglich „voreilig“ schwarz auf weiß zu fixieren. Natürlich hat sich das Herauswachsen aus der Kindrolle über einen längeren Zeitraum – unmerklich zunächst- vollzogen und irgendwann, anlässlich eines bestimmten Ereignisses oder zu einem bestimmten Zeitpunkt habe ich bewusst registriert, daß sich etwas verändert hat. Die zarten Anzeichen, väterliche oder mütterliche Zuwendung nicht mehr zu suchen und zu benötigen, habe ich aber lieber im Verborgenen gehalten. Übrigens auch mir selber gegenüber habe ich sie irgendwo am Rande stehen lassen, denn es könnte ja sein ...

Wenn ich morgen wieder schüchtern, gehemmt oder genervt bin und mich zurückziehe – dann tu ich das eben, auch wenn ich heute etwas anderes schreibe.

daß es nicht von Dauer ist :-))).

Erst jetzt, da sich die Veränderung unüberseh- und unüberfühlbar auswirkt, traue ich mich, sie festzuklopfen.    

Bei weiterem Überlegen denke ich, es geht gar nicht so sehr um Veränderung im Sinne von „eine ganz Andere werden“ – diesen „Kern“, von dem ich schrieb, den möchte ich ja gar nicht verändern. Es geht mehr um Weiterentwicklung.

Von Montaigne, dem Meister der inneren Vielfalt, las ich neulich dieses Zitat:

Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinanderhängen, dass jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will; daher gibt es ebenso viele Unterschiede zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und den anderen.

(Montaigne, Die Essais. Zweites Buch, Erstes Kapitel „Die Unbeständigkeit unseres Handelns“)

„Unterschiede zwischen uns und uns selbst“ – das gefällt mir s e h r. Montaigne skizziert, falls ich das kurze Zitat richtig verstehe, ein komplett anderes Modell der Person als das, von dem wir –stillschweigend- ausgegangen sind, wenn wir über unsere Person gesprochen haben. Kein „Kern“, kein „Zentrum“ von „wesentlichen“ Eigenschaften, um die sich kreisförmig herum oder in Abzweigungen gedacht „unwesentlichere“ Eigenschaften tummeln. „Fragmentiert“ würde ich diesen Person-Entwurf nennen oder besser noch, zusammengesetzt aus vielen Mosaiksteinen, die in ständiger Bewegung sind. Wenn man dieses Modell zugrundelegt, kann man von „eine Andere werden“ gar nicht mehr sprechen genaugenommen, weil man sowieso immer schon eine Andere ist. Ich finde dieses Person-Verständnis auf Anhieb sehr reizvoll, auch wenn ich so schnell die Konsequenzen überhaupt nicht überblicken kann.  

Eine Konsequenz ist ganz sicher die Offenheit für die vielen Facetten und Eigenschaften unserer Person und andererseits, jetzt komme ich auf Deinen vorletzten Brief zurück, ist es unter dieser Voraussetzung schwierig, überhaupt Aussagen über die eigene Person zu machen. Wenn man doch so Vieles und Viele ist.  

Das möchtest du tatsächlich hier im Blog, in der Öffentlichkeit? Na ja, vielleicht verstehe ich nicht ganz, was du mit „emotions- und eingebungsbetont“ meinst, und vielleicht liegt dein Schwerpunkt auch eher auf der Einordnung. Aber es trifft trotzdem einen Punkt, der für mich eine Rolle spielt, denn mir wird es hier allmählich zu „persönlich“. Ich möchte gerade nicht so intensiv von mir selbst und meinen Gefühlen reden, sondern mich selbst höchstens nur als Beispiel nehmen. Ja ja, ich und die Distanz wieder! :-)

Hm, wenn Du „persönlicher“ mit gefühlsbetonterem Schreiben gleichsetzt, dann schwebte mir das schon vor (Augen), aber höchst diffus. Wichtiger scheint mir allerdings, was Du oben anmerkst: Allmählich wird es Dir zu persönlich. Ich bin perplex. Findest Du, daß wir im Laufe der letzten Monate persönlicher geworden sind, oder hast Du nicht den Eindruck und möchtest selber aber zur Zeit weniger über Gefühle sprechen? Ich habe mir die Briefe der vergangenen Wochen durchgelesen und kann keine Veränderung in der Emotions“lastigkeit“ feststellen. Was natürlich nicht mehr heißt als daß ich keine Veränderung bemerke. Vielleicht schwingt die Vehemenz meiner Gefühle, die ich durchaus an mir selber wahrnehme, im Hintergrund meines Schreibens mit ...?                            

Denn ja, auf diese Weise könnte ich vielleicht doch über mehr Persönliches schreiben. Die Frage ist nur, ob wir damit nicht eventuell zu sehr auseinanderdriften. Denn auch hier kann es ja zum Effekt der Selbstverstärkung kommen – ich diejenige, die ihren Handlungsspielraum immer mehr ausweitet und nach ihren Vorstellungen gestaltet, du diejenige, die in ihrem Unglück verharrt und sich durch den Kontrast womöglich immer schlechter fühlt, je besser es mir geht.

Ja. „Die eine singt, die andere nicht“* (die deutsche Übersetzung des Titels eines Filmes von Agnès Varda).

*Damit ist keine Anspielung auf den Inhalt des Filmes verbunden, weil ich den, im Unterschied zum Titel, fast vollständig vergessen habe.

F.

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