Brief 70 | "Buntscheckige Fetzen"

Liebe F.,

auch ich will mit dem Ende anfangen:

Du hast sehr viel geschrieben, und ich weiß nicht, ob ich die Dir am Herzen liegenden Aspekte exakt und vollständig erfasst habe.

Das ist ja gar nicht nötig! Ich mache es ja genau so wie du, nämlich in erster Linie nur das zu betrachten, was mich angeht, und möglichst ohne längeres Hin- und Herüberlegen zu schreiben“.

Ich finde, du hast wunderbar den Kernpunkt weiter ausgeführt, nämlich unsere Rollenverteilung und wie sie zur Verfestigung unserer Selbstbeschreibungen beiträgt. Ich zitiere das jetzt nicht im Einzelnen, weil ich da völlig mit dir übereinstimme.

Mir ist aber jetzt beim Nachdenken noch ein weiterer Aspekt eingefallen, der bei mir zu dieser Verfestigung beiträgt, mit dem Blog und unseren Rollen aber nichts zu tun hat. Es ist bei mir das alte Spiel: Ich probiere voller Elan etwas Neues aus, nur um mich nach einiger Zeit doch wieder in den alten Bahnen wiederzufinden. Woran liegt das? Weil das Neue mir eben doch nicht entsprochen hat? Ist es eine Rückkehr zum „wahren“ Kern oder eher zur Gewohnheit? Gerade diese Gewohnheit möchte ich aber zumindest teilweise überwinden. Mein Leben hat sich durch den Tod meines Mannes so sehr verändert, wieso verändere ich mich selbst so wenig? Dieses Thema zieht sich von Anfang an durch meine Briefe. Einerseits ist es tröstlich, dass ich mich so wenig verändert habe, denn ich mag meinen „Kern“ ja, er ist positiv, selbstgenügsam, glücksfähig. Andererseits habe ich das Gefühl, irgendwie nicht „richtig“ zu leben, wenn alles bleibt, wie es war, und nur mein Mann fehlt. Mein Leben spiegelt den einschneidenden Bruch nicht wider, so hattest du es mal sehr treffend formuliert. Hinzu kommt, dass ich auch Lust verspüre, mich zu verändern, wenigstens ein bisschen. Ich wiederhole noch etwas (aus dem Gedächtnis), was du zu diesem Thema schon mal geschrieben hast, dass nämlich diese Veränderungen vermutlich unmerklich, unterschwellig längst stattfinden. Vielleicht bin ich in diesem Punkt manchmal nicht aufmerksam genug oder auch zu ungeduldig, um diese schleichenden Veränderungen zu registrieren.

Gleich ein Widerspruch: Gestern traf ich mich mit einer Frau, die ich noch aus der Zeit kenne, als unsere Kinder klein waren, und im Gespräch mit ihr, bei all den üblichen Fragen, was in den vielen Jahren dazwischen so passiert ist, wurde mir bewusst, als ich von den letzten zwei Jahren, also nach dem Tod meines Mannes, erzählte, dass sich tatsächlich etwas verändert hat: Ich gehe sehr viel mehr auf Leute zu oder bin offen dafür, wenn sie auf mich zukommen. Ich bin geselliger, würde ich es nennen. Und zwar nicht notgedrungen, weil ich mich sonst zu einsam fühlen würde, sondern es gefällt mir. Ich fühle mich „frei“ dafür – einerseits frei in dem Sinne, dass ich jetzt als Alleinstehende ungebunden bin, frei über meine Zeit verfügen kann; aber auch gefühlsmäßig frei. Ich kann – immer noch in sehr bescheidenem Maße – Kontakte herstellen, aber mich auch wieder zurückziehen, wenn es mir zuviel wird. Hatte ich mich früher als Einzelgängerin beschrieben, so würde ich mich heute als etwas geselligere Einzelgängerin bezeichnen. Das ist tatsächlich eine Veränderung.

(Nachtrag: Bei weiterem Überlegen denke ich, es geht gar nicht so sehr um Veränderung im Sinne von „eine ganz Andere werden“ – diesen „Kern“, von dem ich schrieb, den möchte ich ja gar nicht verändern. Es geht mehr um Weiterentwicklung.)

Ich glaube, es geht nicht um die wesentlichen, die unwesentlichen und alle Eigenschaften, sondern es geht mehr darum, daß man die noch nicht vertrauten, die neu entdeckten, die sich zart und zögerlich entwickelnden Eigenschaften ungern aufschreibt. Eine Eigenschaft meiner Person, derer ich mir noch überhaupt nicht sicher bin ... wenn ich sie schwarz auf weiß schreibe, öffentlich mache, Dir mitteile, dann kann ich nicht so einfach davon wieder zurücktreten.

Doch, genau diese Freiheit möchte ich mir nehmen. Von Montaigne, dem Meister der inneren Vielfalt, las ich neulich dieses Zitat:

Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinanderhängen, dass jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will; daher gibt es ebenso viele Unterschiede zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und den anderen.

(Montaigne, Die Essais. Zweites Buch, Erstes Kapitel „Die Unbeständigkeit unseres Handelns“)

Wenn ich morgen wieder schüchtern, gehemmt oder genervt bin und mich zurückziehe – dann tu ich das eben, auch wenn ich heute etwas anderes schreibe.

Noch ein weiterer Aspekt kommt hinzu. Rücke ich die neuen Eigenschaften –beispielsweise in einem Brief- in den Vordergrund, bewege ich mich auf unsicherem Terrain, denn in diesem Moment rückt das vertraute Selbstbild, das mir Halt und Sicherheit gibt, in den Hintergrund

Das erlebe ich bei mir anders. Ich empfinde neue Eigenschaften meist nicht als Verunsicherung, sondern als Bereicherung. Wenn ich beispielsweise feststelle, wie sehr es mich zum Alleinsein, zum Einsiedlerleben drängt, viel mehr als früher – so registriere ich das eher mit Erstaunen. Oder die Kehrseite: Wenn ich merke, dass ich neuerdings offener für Kontakte bin – warum sollte mich das verunsichern, nur weil das meinem bisherigen Selbstbild nicht entspricht?

Unsere unterschiedliche Entwicklung in den letzten Monaten, die ich als gegenläufig bezeichnen würde, hat die Rollen, die wir einnehmen, noch verstärkt. Du hattest in einem e-mail-Brief geschrieben, es ginge Dir seit Wochen oder Monaten gut bis sehr gut, Du empfändest Dich als stabil, in Dir ruhend. Wie es heute ist, weiß ich nicht [das ist immer noch so], aber eine Stabilität über mehrere, mindestens Wochen hinweg, ist ja schon eine längere Phase. Ich hingegen bin seit Monaten unglücklich, es geht mir nicht gut und das ebenfalls andauernd. Instabil wäre das passende Gegenstück und selbst einen Ausdruck wie „Krise“ möchte ich nicht gebrauchen, weil dies bereits eine Distanz voraussetzt, die ich nicht habe. Worauf ich hinauswill: Diese Situation, so nehme ich an, trägt entscheidend dazu bei, daß wir beide noch konsequenter in die uns vertrauten Rollen schlüpfen, die wie Zahnräder ineinandergreifen. Mein Unbehagen hat sich darin geäußert, was mir jetzt allerdings erst deutlich wird, daß ich mir gelegentlich gewünscht habe, Du würdest auch einmal mit einem heftigen Problem meine Unterstützung suchen. Das wäre wie eine Umkehr unserer Rollen.

Aber das ist doch längst geschehen!  Der Tod meines Mannes war das „heftige Problem“, das uns zusammengeführt hat und bei dem du mich über viele Monate hin unterstützt hast, mehr als ich mir jemals erhofft hatte. Ein weiteres „heftiges Problem“ möchte ich gar nicht haben, auch nicht unserer Gruppendynamik zuliebe. :-)

 

Von mir kann ich sagen, daß ich im Unterschied zu der Zeit vor ungefähr 5-6 Jahren nicht –mehr- das Bedürfnis nach mütterlichem oder väterlichem Schutz habe.

Du schreibst das fast so nebenbei – empfindest du diese Veränderung auch als so bemerkenswert wie ich eben beim Lesen?

Was ich mir wünsche, das ist eine verständnisvolle gedankliche Begleitung, und ich möchte emotions- und eingebungsbetonter das niederschreiben, was mir auf der Seele liegt - ohne jeweils eine Einordnung in eine Entwicklung vorzunehmen.

Das möchtest du tatsächlich hier im Blog, in der Öffentlichkeit? Na ja, vielleicht verstehe ich nicht ganz, was du mit „emotions- und eingebungsbetont“ meinst, und vielleicht liegt dein Schwerpunkt auch eher auf der Einordnung. Aber es trifft trotzdem einen Punkt, der für mich eine Rolle spielt, denn mir wird es hier allmählich zu „persönlich“. Ich möchte gerade nicht so intensiv von mir selbst und meinen Gefühlen reden, sondern mich selbst höchstens nur als Beispiel nehmen. Ja ja, ich und die Distanz wieder! :-)

Noch ein Selbstwiderspruch:

Du hattest kürzlich von den „Möglichkeiten“ gesprochen und dem Ausprobieren verschiedener Möglichkeiten. An der Stelle hatte sich ja herausgestellt, daß Du Konkretes meinst, d.h. das probeweise Realisieren von Möglichkeiten. Auf der praktischen, der Handlungsebene, so wie ich es sehe, versuchst Du, Dich selbst und Deinen Lebensspielraum zu erweitern. Vielleicht geht es dabei für Dich auch mehr um ein die neuen Möglichkeiten begleitendes Schreiben ...? […]

Die Stelle des „ich bin soundso“ ("Selbstvergewisserung") könnte evtl. ein „ich probiere mich in dieser und jener Hinsicht aus“ sein.

Denn ja, auf diese Weise könnte ich vielleicht doch über mehr Persönliches schreiben. Die Frage ist nur, ob wir damit nicht eventuell zu sehr auseinanderdriften. Denn auch hier kann es ja zum Effekt der Selbstverstärkung kommen – ich diejenige, die ihren Handlungsspielraum immer mehr ausweitet und nach ihren Vorstellungen gestaltet, du diejenige, die in ihrem Unglück verharrt und sich durch den Kontrast womöglich immer schlechter fühlt, je besser es mir geht.

 

Zum Schluss noch eine Verständnisfrage:

Die Blogform, das Blogbriefschreiben selbst legen, wie ich finde, allerdings kaum fest. Wie wir die Briefe gestalten, liegt an uns. Ob wir „impulsiver“ und „spontaner“ oder wohlüberlegter und reflektierender schreiben, entscheiden wir selbst. Du hast in der Vergangenheit ja schon einige Versuche unternommen, Deinen Einfällen zu folgen, indem Du Neuerungen in Deine Briefe aufgenommen hast. Du siehst, ich bin skeptisch.

Nein, ich sehe/verstehe nicht. Skeptisch in Bezug auf was?

 

Liebe F., ich glaube, ich bin in diesem Brief gedanklich ziemlich hin und her gesprungen, aber ich möchte das gar nicht im Nachhinein noch ordnen, wie ich das sonst oft tue. Das bleibt jetzt einfach so, wie es ist. Die Form passt zum Inhalt – buntscheckige Fetzen! 🌈

B.

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