Brief 69 | Bewegungsdrang

Liebe B.,

Das Ende Deines Briefes setze ich an den Anfang meines Briefes,

Ich weiß im Moment nicht so recht, wie ich mich verhalten soll. Das macht aber nichts. Die Selbstvergewisserung macht einer neuen Unsicherheit Platz, und das gefällt mir ganz gut.

weil mich Dein Brief verunsichert hat, ich diese Verunsicherung aber ebenfalls als nicht direkt unangenehm empfinde. Es ist eine Erwartungsspannung in mir, wie es wohl weitergeht, weitergehen könnte.

Dich habe ich so verstanden, daß sich die „Verhaltens“-Unsicherheit darauf bezieht, was Du in den Blogbriefen thematisieren und wie Du schreiben möchtest.  

Als ich jetzt also so in aller Akribie beschrieb, wie ich mich verhalte beim Verreisen usw., dachte ich plötzlich: Nee … jetzt ist gut. Das ist wirklich zu viel …

Auf diesen Impuls von Dir habe ich spontan zustimmend reagiert. Das heißt, mir ist zur Zeit auch nicht nach mikroskopischer Besichtigung, Vertiefung und Beschreibung meines Innenlebens oder auch meines Verhaltens (ob sich das Bedürfnis irgendwann wieder einstellt muß ich offenlassen, denn das kann ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt natürlich nicht wissen). In dieser Hinsicht gäbe es also eine Übereinstimmung zwischen uns. Das ist es im Moment nicht.      

[..] Geht es dir ähnlich oder ganz anders? Hast du das Gefühl, dich zu ent-falten, viele Facetten aufzublättern? Oder eher, dich auf bestimmte Eigenschaften zu konzentrieren, zu beschränken? Oder spielt das für dich alles überhaupt keine Rolle? :-)

Doch, es spielt auch für mich eine Rolle, und auch ich finde mich eher beschränkt, was anders herum gewendet bedeutet, mich nicht so entfalten zu können, wie ich es mir wünsche. Nur, ob wir hinsichtlich des Aspektes (Festlegung, Starrheit versus Offenheit) übereinstimmen, das weiß ich im Augenblick, am Beginn meines Briefes, nicht zu sagen.    

Das muss einem tiefen Bedürfnis nach Selbstvergewisserung entsprochen haben. [...] Wer bin ich – ich für mich allein, nicht als Teil eines Paares? Das musste ich mir erst mühsam erarbeiten bzw. tue das noch.

Andererseits habe ich in letzter Zeit immer mehr das Gefühl, als wenn durch all diese Selbstbe- und -zuschreibungen langsam aber sicher eine virtuelle Person entsteht, die ich so gar nicht wirklich bin oder sein möchte. Das ist ja alles nicht verkehrt, was ich bisher geschrieben habe – aber es ist auch nicht so wirklich richtig. Nicht in dieser Ausschließlichkeit, dieser Einseitigkeit. Ich fühle, wie ich mich mehr und mehr fest-lege, fest-stelle, im Sinne einer Einschränkung, einer Starrheit.

[...] Solche Aufteilungen nimmt man natürlich nicht absichtlich vor, sie bilden sich im Laufe der Jahre von selbst. Und sie geschehen auch nicht willkürlich, sondern folgen einer schon vorhandenen Tendenz. Mein Mann war tatsächlich sehr viel ungeduldiger als ich. Aber meine Ruhe hat seine Ungeduld befördert und umgekehrt. Im Zusammenspiel mit meinem Mann hat sich mein Charakter zu einem gewissen Grade vereinseitigt. Das ist unumgänglich. Mit einem anderen Partner hätten wir jeweils andere Charakterzüge mehr verstärkt. Das ist einfach so, das ist das Leben, das uns prägt und uns zu denen macht, die wir sind.

Diese neue Offenheit scheint mir hier im Blog aber gerade ein wenig rückläufig zu sein. Einerseits, weil ich in dir eine Gegen-Spielerin gefunden habe, bei der ich dadurch, dass wir so sehr gegensätzlich sind (uns teilweise auch als gegensätzlich stilisieren?), wieder vor allem meine komplementären Eigenschaften betone. Das ist natürlich nicht so intensiv wie im tagtäglichen Zusammenleben mit meinem Mann, aber dadurch, dass es so explizit und reflektiert geschieht, doch auch wieder sehr deutlich. Andererseits wird diese Einseitigkeit auch durch das Medium gefördert. Ich versuche meistens, mich einigermaßen kurz zu fassen, nur das Wesentliche zu schreiben, nicht zu ausufernd zu werden (nun ja, in diesem Brief gerade nicht, er ist jetzt schon viel zu lang – es lebe die Widersprüchlichkeit! :-)). Das hat zur Folge, dass ich viele Differenzierungen unter den Tisch fallen lasse, die aber für ein vollständiges Bild notwendig wären. Müsste ich also jedesmal, wenn ich von dem einen rede, das andere mit erwähnen? Auch wenn es in diesem Zusammenhang vielleicht gerade keine Rolle spielt? Nur um den Eindruck der Einseitigkeit zu vermeiden?

Mir scheint die Rollenverteilung ein zentraler Punkt bei Deinem und meinem Eindruck der Festlegung. Sie ist zwar verschränkt mit dem Medium des Blogschreibens, wie Du auch sagst, aber ich würde die Rollenaufteilung unter uns für entscheidend ansehen. Deswegen gehe ich zuerst darauf ein. Wir neigen dazu, was ganz normal ist, in jeder Beziehung zu einem anderen Menschen, die uns vertraute Rolle, verbunden mit den entsprechenden Eigenschaften, wieder einzunehmen. Diesen Vorgang habe ich an mir von Anfang an sehr bewusst wahrgenommen. Anders gesagt, manchmal, wenn Du mir sehr deutlich einen Zug von mir gespiegelt hast, der nicht zu meinem Rollenverständnis gehörte, dann habe ich dies mit Erstaunen registriert. Aha, Du siehst mich anders. So bin ich also auch. Trotzdem haben sich insgesamt unsere Rollen im Laufe der Zeit verfestigt. Du die Ruhige, die mit Distanz sowohl ihr eigenes Leben als auch das der Anderen, in diesem Fall meines, betrachtest. Ich diejenige, die ständig hadert und emotional instabil ist.    

Unsere unterschiedliche Entwicklung in den letzten Monaten, die ich als gegenläufig bezeichnen würde, hat die Rollen, die wir einnehmen, noch verstärkt. Du hattest in einem e-mail-Brief geschrieben, es ginge Dir seit Wochen oder Monaten gut bis sehr gut, Du empfändest Dich als stabil, in Dir ruhend. Wie es heute ist, weiß ich nicht, aber eine Stabilität über mehrere, mindestens Wochen hinweg, ist ja schon eine längere Phase. Ich hingegen bin seit Monaten unglücklich, es geht mir nicht gut und das ebenfalls andauernd. Instabil wäre das passende Gegenstück und selbst einen Ausdruck wie „Krise“ möchte ich nicht gebrauchen, weil dies bereits eine Distanz voraussetzt, die ich nicht habe. Worauf ich hinauswill: Diese Situation, so nehme ich an, trägt entscheidend dazu bei, daß wir beide noch konsequenter in die uns vertrauten Rollen schlüpfen, die wie Zahnräder ineinandergreifen. Mein Unbehagen hat sich darin geäußert, was mir jetzt allerdings erst deutlich wird, daß ich mir gelegentlich gewünscht habe, Du würdest auch einmal mit einem heftigen Problem meine Unterstützung suchen. Das wäre wie eine Umkehr unserer Rollen.        

Von mir kann ich sagen, daß ich im Unterschied zu der Zeit vor ungefähr 5-6 Jahren nicht –mehr- das Bedürfnis nach mütterlichem oder väterlichem Schutz habe. Das ist es nicht. Was ich mir wünsche, das ist eine verständnisvolle gedankliche Begleitung, und ich möchte emotions- und eingebungsbetonter das niederschreiben, was mir auf der Seele liegt - ohne jeweils eine Einordnung in eine Entwicklung vorzunehmen. In meiner Entfaltung finde ich mich durch diesen Anspruch gehemmt.  

Bei dem Wort „Begleitung“ mache ich nun doch einen Schwenk zu Dir. Du hattest kürzlich von den „Möglichkeiten“ gesprochen und dem Ausprobieren verschiedener Möglichkeiten. An der Stelle hatte sich ja herausgestellt, daß Du Konkretes meinst, d.h. das probeweise Realisieren von Möglichkeiten. Auf der praktischen, der Handlungsebene, so wie ich es sehe, versuchst Du, Dich selbst und Deinen Lebensspielraum zu erweitern. Vielleicht geht es dabei für Dich auch mehr um ein die neuen Möglichkeiten begleitendes Schreiben ...?

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Damit springe ich zum virtuellen Medium, dem Blogschreiben als Begründung für die Festlegung, die „rückläufige“ Offenheit, die Du registrierst. Die virtuelle Realität ist real, aber sie ist zu unterscheiden von der Realität, in der die Sinne in jeder Hinsicht real erleben. Das ist ein grundlegender Unterschied, ja. Die Blogform, das Blogbriefschreiben selbst legen, wie ich finde, allerdings kaum fest. Wie wir die Briefe gestalten, liegt an uns. Ob wir „impulsiver“ und „spontaner“ oder wohlüberlegter und reflektierender schreiben, entscheiden wir selbst. Du hast in der Vergangenheit ja schon einige Versuche unternommen, Deinen Einfällen zu folgen, indem Du Neuerungen in Deine Briefe aufgenommen hast. Du siehst, ich bin skeptisch.

Ich bin über einen Abschnitt gestolpert, zu dem ich Dir meine Idee schreiben möchte, weil mir dazu meine Erfahrung beim Blogbriefschreiben in den Sinn gekommen ist.        

Wenn ich aber immer alle meine Charakterzüge beschreiben wollte (nur theoretisch, praktisch ist das ja gar nicht möglich), ergäbe das gar keine genauere, sondern eine beliebige, nichtssagende Beschreibung. Erst die Auswahl, die Beschränkung, die Gewichtung macht mich ja zu der, die ich bin und als die ich mich von anderen Menschen unterscheide.

Ich glaube, es geht nicht um die wesentlichen, die unwesentlichen und alle Eigenschaften, sondern es geht mehr darum, daß man die noch nicht vertrauten, die neu entdeckten, die sich zart und zögerlich entwickelnden Eigenschaften ungern aufschreibt. Eine Eigenschaft meiner Person, derer ich mir noch überhaupt nicht sicher bin ... wenn ich sie schwarz auf weiß schreibe, öffentlich mache, Dir mitteile, dann kann ich nicht so einfach davon wieder zurücktreten. Hier stimmt es, ich lege –mich- fest, wovor ich mich scheue, denn sind die Eigenschaften erst einmal ins Licht geholt worden, muß ich mich mit ihnen auseinandersetzen. Noch ein weiterer Aspekt kommt hinzu. Rücke ich die neuen Eigenschaften –beispielsweise in einem Brief- in den Vordergrund, bewege ich mich auf unsicherem Terrain, denn in diesem Moment rückt das vertraute Selbstbild, das mir Halt und Sicherheit gibt, in den Hintergrund. Die Erklärung für diese Scheu habe ich jetzt, erst nachträglich gefunden. Der Ausgangspunkt allerdings war die von mir öfter beobachtete Zurückhaltung beim Mitteilen neu erworbener oder bisher wenig ausgeprägter Eigenschaften. Die Stelle des „ich bin soundso“ ("Selbstvergewisserung") könnte evtl. ein „ich probiere mich in dieser und jener Hinsicht aus“ sein.          

Du hast sehr viel geschrieben, und ich weiß nicht, ob ich die Dir am Herzen liegenden Aspekte exakt und vollständig erfasst habe. Zuerst hatte ich versucht, wie eine Beobachterin Dich, mich und am Ende uns beide zusammen zu sehen, aber da diese distanzierte Sicht einzunehmen mich vollkommen überfordert hat, bin ich dahin gewechselt, in erster Linie nur das zu betrachten, was mich angeht, und möglichst ohne längeres Hin- und Herüberlegen zu schreiben. Falls ich dabei Aspekte vernachlässigt oder verfehlt habe, die Dir besonders wichtig sind, dann möchte ich Dich bitten, sie nochmals zu nennen.

F.

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