Brief 68 | Abzweigung

Liebe F.,

während ich mittendrin war, als Antwort auf deinen letzten Brief dem Thema nachzugehen, ob ich die Zukunft imaginiere oder die Dinge mehr auf mich zukommen lasse, fühlte ich mich plötzlich unbehaglich. Denn immer, wenn ich etwas schrieb, mich selbst beschrieb, fiel mir sofort ein Gegenbeispiel ein, das genauso richtig war. Und wenn man bedenkt, wie sehr es mir normalerweise widerstrebt, von mir selbst zu erzählen, dann ist es schon erstaunlich, wie unglaublich ausführlich ich hier über mich selbst rede. Als ich jetzt also so in aller Akribie beschrieb, wie ich mich verhalte beim Verreisen usw., dachte ich plötzlich: Nee … jetzt ist gut. Das ist wirklich zu viel …

Und ich trat gedanklich einen Schritt zurück und fragte mich, was das Blogschreiben eigentlich mit mir macht.

Einerseits hat es mir einen enormen Erkenntnisgewinn gebracht, dieses Nachdenken über mich selbst, die Versuche der Selbstbeschreibung, die Spiegelung durch deine Reaktionen, deine Fragen und dein Gegen-Bild (wie inspirierend, dass wir so gegensätzlich sind!).

Das muss einem tiefen Bedürfnis nach Selbstvergewisserung entsprochen haben. Dass man sich nach dem Tod des Partners wie halbiert fühlt, habe ich mehrfach gehört, und ähnliches habe ich ja auch empfunden. Du nanntest es zu Anfang unseres E-Mail-Briefwechsels mal „Ich-Verlust“, und ich kann mich noch daran erinnern, dass ich damals Schwierigkeiten hatte zu verstehen, was du damit meintest. Ich fand den Ausdruck zu „stark“, ich hatte für mich selbst nicht das Gefühl, mein Ich verloren zu haben. Aber wenn ich an diese Zeit zurückdenke und auch an die Anfänge unseres Schreibens hier im Blog, dann sehe ich, dass wir über lange Strecken um genau dieses Thema gekreist sind. Ich hatte es nur anders genannt – ich hatte mein Ich nicht verloren, aber ich hatte ständig das Gefühl, mich gar nicht wirklich zu kennen. Wer bin ich – ich für mich allein, nicht als Teil eines Paares? Das musste ich mir erst mühsam erarbeiten bzw. tue das noch.

Andererseits habe ich in letzter Zeit immer mehr das Gefühl, als wenn durch all diese Selbstbe- und -zuschreibungen langsam aber sicher eine virtuelle Person entsteht, die ich so gar nicht wirklich bin oder sein möchte. Das ist ja alles nicht verkehrt, was ich bisher geschrieben habe – aber es ist auch nicht so wirklich richtig. Nicht in dieser Ausschließlichkeit, dieser Einseitigkeit. Ich fühle, wie ich mich mehr und mehr fest-lege, fest-stelle, im Sinne einer Einschränkung, einer Starrheit.

Ich habe mal gelesen, dass Kinder in einer Familie psychologische oder charakterliche Nischen besetzen. Wenn das erste Kind also beispielsweise eine Draufgängerin ist, könnte das zweite Kind eher seine kontemplativen Seiten ausleben, während ein drittes Kind vielleicht den Part des Familienclowns übernimmt, das vierte rebellisch ist usw. … Genauso haben mein Mann und ich während unserer Ehe verschiedene Charakteranteile unter uns aufgeteilt. Er war der Bedächtige, Zögerliche, ich die Unbekümmerte; er war aufbrausend, ich war zickig; er war ungeduldig, ich die Ruhe selbst … Solche Aufteilungen nimmt man natürlich nicht absichtlich vor, sie bilden sich im Laufe der Jahre von selbst. Und sie geschehen auch nicht willkürlich, sondern folgen einer schon vorhandenen Tendenz. Mein Mann war tatsächlich sehr viel ungeduldiger als ich. Aber meine Ruhe hat seine Ungeduld befördert und umgekehrt. Im Zusammenspiel mit meinem Mann hat sich mein Charakter zu einem gewissen Grade vereinseitigt. Das ist unumgänglich. Mit einem anderen Partner hätten wir jeweils andere Charakterzüge mehr verstärkt. Das ist einfach so, das ist das Leben, das uns prägt und uns zu denen macht, die wir sind.

Aber die nicht oder nur teilweise entwickelten Seiten sind ja nicht verschwunden, sie ruhen sozusagen nur. Und als mein Mann nun gestorben war, hatte ich zwar einerseits das Gefühl, dass mir die Ergänzung abhandengekommen war, mir also tatsächlich „eine Hälfte“ fehlte. Andererseits war aber auch die Bindung durch das Gegenpartspiel weggefallen und ich hatte das Gefühl, dass ich nun möglicherweise andere Seiten von mir entwickeln, ausleben, überhaupt erst kennenlernen könnte, die bisher nicht oder kaum zum Zuge gekommen waren. Das war verbunden mit Gefühlen der Freiheit, Freude, Neugier, Offenheit, auch Lust an der Widersprüchlichkeit, dadurch, dass ich nicht mehr festgelegt bin.

Diese neue Offenheit scheint mir hier im Blog aber gerade ein wenig rückläufig zu sein. Einerseits, weil ich in dir eine Gegen-Spielerin gefunden habe, bei der ich dadurch, dass wir so sehr gegensätzlich sind (uns teilweise auch als gegensätzlich stilisieren?), wieder vor allem meine komplementären Eigenschaften betone. Das ist natürlich nicht so intensiv wie im tagtäglichen Zusammenleben mit meinem Mann, aber dadurch, dass es so explizit und reflektiert geschieht, doch auch wieder sehr deutlich. Andererseits wird diese Einseitigkeit auch durch das Medium gefördert. Ich versuche meistens, mich einigermaßen kurz zu fassen, nur das Wesentliche zu schreiben, nicht zu ausufernd zu werden (nun ja, in diesem Brief gerade nicht, er ist jetzt schon viel zu lang – es lebe die Widersprüchlichkeit! :-)). Das hat zur Folge, dass ich viele Differenzierungen unter den Tisch fallen lasse, die aber für ein vollständiges Bild notwendig wären. So habe ich mich beispielsweise mehrfach als phlegmatisch beschrieben. Gleichzeitig bin ich aber auch manchmal impulsiv und spontan. (Das UND, nicht das ODER!) Müsste ich also jedesmal, wenn ich von dem einen rede, das andere mit erwähnen? Auch wenn es in diesem Zusammenhang vielleicht gerade keine Rolle spielt? Nur um den Eindruck der Einseitigkeit zu vermeiden?

Wenn ich aber immer alle meine Charakterzüge beschreiben wollte (nur theoretisch, praktisch ist das ja gar nicht möglich), ergäbe das gar keine genauere, sondern eine beliebige, nichtssagende Beschreibung. Erst die Auswahl, die Beschränkung, die Gewichtung macht mich ja zu der, die ich bin und als die ich mich von anderen Menschen unterscheide.

Ich weiß im Moment nicht so recht, wie ich mich verhalten soll. Das macht aber nichts. Die Selbstvergewisserung macht einer neuen Unsicherheit Platz, und das gefällt mir ganz gut.

Wie sieht das bei dir aus? Geht es dir ähnlich oder ganz anders? Hast du das Gefühl, dich zu ent-falten, viele Facetten aufzublättern? Oder eher, dich auf bestimmte Eigenschaften zu konzentrieren, zu beschränken? Oder spielt das für dich alles überhaupt keine Rolle? :-)

B.

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