Liebe B.,
Inhaltlich bringt mein Brief diese Woche nichts Neues, sondern ist nur eine Reaktion auf zwei, drei Punkte von dir, aber ich hoffe (!), das macht nichts. :-)
Nein, das macht überhaupt nichts. Ganz im Gegenteil. Ich habe Deinen Brief gelesen und meine Antworten sind aus mir wie aus einer Quelle herausgesprudelt. Zu Beginn möchte ich nur einen Punkt noch einmal klarstellen, weil ich an Deiner Antwort merke, daß ich mich missverständlich ausgedrückt oder richtiger, unscharf gedacht und deswegen unpräzise formuliert hatte.
Ich hoffe, du erträgst es weiterhin, wenn du es nicht so ganz triffst? :-) Denn auch hier ist es bei mir wieder ganz aus der Gegenwart heraus. Die „Befreiung“ bezieht sich bei mir nicht auf die Befreiung von Verlustangst, sondern auf das mehr oder minder gelungene Durchstandenhaben der ersten schrecklichen Zeit: des gemeinsamen Erlebens des Sterbens des Partners und der Zeit unmittelbar danach. DAS steht den anderen Paaren noch bevor. Ich bin durch das tiefste Tal schon hindurch und kann schon wieder aufwärts blicken, während ihnen der Abstieg noch bevorsteht. Dieses Gefühl konnte ich zu Lebzeiten meines Mannes ja noch gar nicht haben.
Ich meinte nicht die Befreiung von der Verlustangst (bei mir), sondern daß ich noch zu Lebzeiten meines Mannes oft daran gedacht habe, wie es sein könnte/würde, wenn er stürbe. Genau genommen habe ich mich also ebenso auf die Zeit (unmittelbar) danach bezogen, nur in antizipierender Weise. Befreit und erleichtert fühlte ich mich deswegen hauptsächlich auch von dem Umstand, das Ereignis des Todes und der Zeit danach bereits zu erleben und zum Teil schon durchlebt zu haben.
„Ausmalen“ und Umsetzen
[...] wie sehr ich tatsächlich in der Gegenwart lebe. Das gehörte zwar schon lange zu meinem Selbstbild, vor allem in Abgrenzung zu meinem Mann, der ein großer Nostalgiker war, also gern die Vergangenheit gedanklich bereiste. Aber ich hatte immer den Verdacht, dass es sich bei mir um eine gute Portion Selbststilisierung handelt, denn „Leben ganz im Hier und Jetzt“ ist ja ein solches Klischee und gleichzeitig so schwer zu verwirklichen, dachte ich immer … Aber anscheinend zeigt es sich bei mir tatsächlich in vielen, vielen Kleinigkeiten, was ich noch aussagekräftiger finde, als wenn das in großen Dingen geschieht, weil die Kleinigkeiten ja meistens eher unreflektiert ablaufen, also tatsächlich aus meinem „Wesen“ kommen. Und dieses Wesen ist anscheinend ziemlich profan, praktisch orientiert und phantasielos.
Aber male ich mir denn gar nichts aus? Hm … Doch, bestimmt. Aber … Beispiel: Ich könnte nach Japan fahren. Das wäre eine der wenigen Reisen in die Ferne, die mich reizen könnte. Da ich aber genau weiß, dass ich das aus diversen Gründen nicht in die Tat umsetzen werde, habe ich mir das noch nie besonders ausgiebig ausgemalt. Ich könnte auch an die Nordsee fahren. Da das für mich tatsächlich im Bereich des Möglichen liegt, also dessen, was ich verwirklichen könnte und auch wirklich sehr gern möchte, habe ich mich damit schon länger gedanklich auseinandergesetzt – weniger, wie es sein könnte, wenn ich schon da bin, mehr, was ich tun muss, damit es dazu kommt – und es dann letztendlich auch in die Wege geleitet. Ich hänge also nicht so sehr „allem Möglichen“ nach, sondern nur einem kleinen Bereich davon.
Das ist ein spannender Punkt, den ich aufgreifen möchte. Gehe ich von mir aus, dann bewegt mich der Wunsch („sehr gern möchte“ bei Dir) deswegen, weil ich mir –zuhause, an einem anderen Ort also- vorstelle, wie es an der Nordsee sein könnte, wenn ich tatsächlich dort wäre. Mir ist nun nicht klar, wie Dein Weg verläuft. Daß am Ende der Schritt zur Umsetzung vollzogen werden muß und die gedankliche Auseinandersetzung damit, soweit kann ich Dir folgen, aber der Schritt oder die Schritte zuvor? Wie kommt es zum Wünschen? Nun sagst Du zwar nicht, Du habest keinen Gedanken daran verschwendet, wie es an der Nordsee sein könnte, sondern Du sagst „weniger als“ und dennoch scheinen wir uns hier zu unterscheiden.
Ich würde mich an der Nordsee an einem fiktiven Ort imaginieren, allerdings sehe ich mich bei konkretem Tun. Schwimme ich im Meer? Um Himmels willen, nein. Aber ich sehe mich auf dem Watt unter weitem Horizont laufen, also muß ich einen Ort wählen, der die Möglichkeit des Wattlaufens bietet. Ich sehe mich auf dem Deich sitzen und über langgestreckte Wiesen und Salzwiesen blicken. Sandstrand? Nein! Da ich genau sein möchte, muß ich verdeutlichen, daß ich, zuhause sitzend, nicht wie eine Beobachterin mich auf dem Deich oder übers Watt laufen sehe, sondern daß ich so tue (imaginiere), als sei ich dort.
Vielleicht gehören diese Aspekte schon zu Deinen Überlegungen der Umsetzung, denn Du musst planen und entscheiden, wo und wie Du wohnst, welche Verkehrsanbindungen Du haben möchtest usw. Vielleicht sind unsere Vorgehensweisen dann doch nicht so unterschiedlich wie ich zuerst dachte, weil Du Dir sicher auch überlegst, was konkret Du tun möchtest. Dann läge der wesentliche Unterschied vielmehr darin, daß ich mir mehr als Du vorwegnehmend „ausmale“, wie ich mich bei den entsprechenden Tätigkeiten fühle, während Du hauptsächlich die gedankliche Ebene umkreist. Oder aber, ich spitze zur Verdeutlichung zu, Du triffst am Reiseort ein und beginnst erst dann mit näheren Überlegungen, was Du dort tun möchtest? Das würde zu Deiner Ausrichtung am „Hier und Jetzt“ natürlich bestens passen.
Deswegen ist die Zeitspanne des Ausmalens auch eher kurz. Denn wenn ich etwas wirklich auf diese Art möchte, dass ich anfange darüber intensiver nachzudenken, dann versuche ich es in der Regel auch bald zu verwirklichen.
Mir fällt dazu spontan ein Ereignis aus „unserer gemeinsamen Zeit“ ein, d.h. meine Wahrnehmung dieses Ereignisses. Nachdem wir uns in gemächlichem Tempo darauf verständigt hatten, im Internet „etwas zusammen zu machen“ und am Ende der Blog als Ergebnis dabei herauskam, hast Du in der Folgezeit ein aus meiner Sicht derart rasantes Tempo vorgelegt, von dem ich mich fast überrumpelt, auf jeden Fall aber bedrängt fühlte (ich stelle dies sachlich fest, liebe B., es ist nichts von einem Vorwurf darin). Da ich die Tage lebhaft erinnere, so als sei es jetzt, erinnere ich mich auch, was damals in mir ablief, d.h. wie ich meine Reaktionen bewusst wahrgenommen, beobachtet und reflektiert habe. Ich hätte nach der Entscheidung die Umsetzung am liebsten auf einen ungewissen späteren Zeitpunkt verschoben, irgendwann einmal, weil das Blogschreiben –wie für Dich auch- unvertrautes Gelände war und Ängste auslöste. Wie? Öffentlich, exponiert schreiben?! Das kann ich nicht! Die Auseinandersetzung mit diesen Befürchtungen hätte von mir aus eine lange Zeit andauern können, bis ich endlich den Sprung zu tun traue. Ich habe mich damals dafür entschieden, Deiner Geschwindigkeit zu folgen, weil mir klar war, daß es eine gute Gelegenheit ist, um mich aus der Angewohnheit zu lösen, die Umsetzung von Möglichkeiten immerfort zu verschieben, nur um damit die Angstschwelle nicht überwinden zu müssen. Wie Du in kurzer Zeit, vielleicht zwei, drei Wochen lang, vollkommen auf den Punkt konzentriert vorgegangen bist ... da habe ich gestaunt! Mit mir selber war ich richtig zufrieden, weil es mir gelungen war, mich auf Dein Tempo einzulassen, wodurch ich tatsächlich beweglicher und risikiobereiter geworden bin. Die Zeit zwischen einer Entscheidung für ... und der Umsetzung ist kürzer geworden.
Wenn ich an die Folgezeit denke, dann kommt mir in den Sinn, daß Du Dich, im Unterschied zu mir, während der schnellen und konzentrierten Umsetzungsphase nicht um den nächsten Schritt, nämlich die Zeitplanung gekümmert hast. Wie der Blog in die zur Verfügung stehende Zeit zu integrieren ist. In der Lösung dieses Problems bestand der nächste Schritt. Je kürzer die Zeit zwischen einem Entschluß und seiner Umsetzung ist, desto weniger wird man alle erdenklichen Aspekte vorweg bedenken und einplanen, während eine lange Überlegungsdauer eher dazu führt, alle zu lösenden Aufgaben vorher schon in den Blick zu nehmen. Das ist nur folgerichtig.
Zum Schluß gehe ich damit noch einmal zurück zum Anfang. Auch die Dauer, Ausführlichkeit und Intensität des „Ausmalens“ einer Möglichkeit als die erste Phase zur Realisierung beeinflusst natürlich den Umfang dessen, was man beachten und bedenken wird. Mögliche Hindernisse und Schwierigkeiten werden ins Bewusstsein gerufen genau s o wie schöne, angenehme Vorstellungen, die man anstrebt in der Wirklichkeit zu erfahren. Die Frage, die ich mir gestellt habe, ist die, ob und wenn ja, wie oft ich im Bereich des Möglichen geblieben bin, weil die Ausmalungsphase in Dauer überging. Eine Antwort habe ich bisher, bis zum Absendetermin :-))) meines Briefes nicht gefunden.
Dieser Brief, liebe B., ist nun zwar interessebedingt wie aus einem Guß, thematisch allerdings so monoton, wie es monotoner nicht mehr geht (eine Zumutung .. ) ich hoffe, Du findest Abzweigungen -oder startest neu.
F.
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