Liebe F.,
Noch mal zur „Fehlerkultur“
Hach, Deine Sichtweise entspannt mich, denn „natürlich“ habe ich mich sofort fast ein bißchen dafür geschämt, ein so falsches Bild für Deine Situation entwickelt zu haben, von dem ich spontan doch glaubte, es sei stimmig und passend.
Ich hatte den Exkurs fast schon wieder löschen wollen, weil er mir zu weit vom Thema entfernt erschien und ich auch dachte: „Ich muss ja nicht schon wieder eines meiner privaten Steckenpferde hier reiten.“ Wie gut, dass ich ihn stehengelassen habe! :-)
Mir haben deine Missverständnisse und Fehldeutungen auch schon sehr geholfen. Erst durch sie ist mir bewusst geworden, wie sehr ich tatsächlich in der Gegenwart lebe. Das gehörte zwar schon lange zu meinem Selbstbild, vor allem in Abgrenzung zu meinem Mann, der ein großer Nostalgiker war, also gern die Vergangenheit gedanklich bereiste. Aber ich hatte immer den Verdacht, dass es sich bei mir um eine gute Portion Selbststilisierung handelt, denn „Leben ganz im Hier und Jetzt“ ist ja ein solches Klischee und gleichzeitig so schwer zu verwirklichen, dachte ich immer … Aber anscheinend zeigt es sich bei mir tatsächlich in vielen, vielen Kleinigkeiten, was ich noch aussagekräftiger finde, als wenn das in großen Dingen geschieht, weil die Kleinigkeiten ja meistens eher unreflektiert ablaufen, also tatsächlich aus meinem „Wesen“ kommen. Und dieses Wesen ist anscheinend ziemlich profan, praktisch orientiert und phantasielos. Siehe das Folgende.
Ah ja, da habe ich ganz und gar in die falsche Richtung geblickt, weil ich ausschließlich an Imagination gedacht hatte. Wenn ich von „Möglichkeiten“ spreche, dann meine ich nahezu immer Bilder und Gedanken des Vorstellens, während Du –in diesem Fall zumindest- hauptsächlich konkrete Handlungen meinst, die Du erprobst. Möglichkeiten, falls ich es nun richtig verstehe, die Du unter Umständen dauerhaft in Deinen Lebensalltag aufnehmen möchtest.
Jawoll, jetzt richtig verstanden! :-)
Aber male ich mir denn gar nichts aus? Hm … Doch, bestimmt. Aber … Beispiel: Ich könnte nach Japan fahren. Das wäre eine der wenigen Reisen in die Ferne, die mich reizen könnte. Da ich aber genau weiß, dass ich das aus diversen Gründen nicht in die Tat umsetzen werde, habe ich mir das noch nie besonders ausgiebig ausgemalt. Ich könnte auch an die Nordsee fahren. Da das für mich tatsächlich im Bereich des Möglichen liegt, also dessen, was ich verwirklichen könnte und auch wirklich sehr gern möchte, habe ich mich damit schon länger gedanklich auseinandergesetzt – weniger, wie es sein könnte, wenn ich schon da bin, mehr, was ich tun muss, damit es dazu kommt – und es dann letztendlich auch in die Wege geleitet. Ich hänge also nicht so sehr „allem Möglichen“ nach, sondern nur einem kleinen Bereich davon. Deswegen ist die Zeitspanne des Ausmalens auch eher kurz. Denn wenn ich etwas wirklich auf diese Art möchte, dass ich anfange darüber intensiver nachzudenken, dann versuche ich es in der Regel auch bald zu verwirklichen. (Ob das dann auch wirklich klappt, ist ein anderes Thema.) Sachen, die zu vage oder zu unrealistisch sind, geraten dagegen schnell wieder in Vergessenheit, anstatt dass ich sie mir wenigstens in der Phantasie ausmale.
Ja, genau s o ist es mir auch ergangen. Daß Du allerdings diesen Gedanken hattest oder hast, überrascht mich und zwar deswegen, weil Du, im Unterschied zu mir, während Eurer Ehe nur ausnahmsweise an die Möglichkeit des Sterbens Deines Mannes gedacht hast. Die Verlustangst hat mich fast immer –im Hintergrund- begleitet. Andererseits ist die Möglichkeit des Sterbens eine Tatsache, besonders auch, da Dein Mann einige Jahre älter als Du gewesen ist. Auch wenn Du Dich nicht in der Weise gesorgt hast wie ich, so ist es doch ein Sachverhalt, der im Horizont des Möglichen gestanden hat. Da ich es mir nun selber erklärt habe, bin ich über Deine Reaktion doch nicht mehr überrascht.
Ich hoffe, du erträgst es weiterhin, wenn du es nicht so ganz triffst? :-) Denn auch hier ist es bei mir wieder ganz aus der Gegenwart heraus. Die „Befreiung“ bezieht sich bei mir nicht auf die Befreiung von Verlustangst, sondern auf das mehr oder minder gelungene Durchstandenhaben der ersten schrecklichen Zeit: des gemeinsamen Erlebens des Sterbens des Partners und der Zeit unmittelbar danach. DAS steht den anderen Paaren noch bevor. Ich bin durch das tiefste Tal schon hindurch und kann schon wieder aufwärts blicken, während ihnen der Abstieg noch bevorsteht. Dieses Gefühl konnte ich zu Lebzeiten meines Mannes ja noch gar nicht haben.
Mir fällt auf, daß Du zuerst die Vergangenheitsform wählst „später habe ich mir manchmal gedacht“ und anschließend ins Präsens wechselst „trotzdem fühle ich mich“. Hast Du die zeitliche Unterscheidung bewußt vorgenommen? Wenn ich sie auf mich beziehe, dann ist sie nämlich sehr zutreffend. Am Anfang war dieser Gedanke weniger eine Feststellung als vielmehr ein erleichtertes Erleben. Der Gedanke der Privilegierung gegenüber anderen Paaren jetzt hingegen ist hauptsächlich ein bemühter Trost. „Bemüht“ heißt zum "Trost an den Haaren herbeigezogen“. Vom Gefühl her stimmt eher, meistens jedenfalls, der Satz „lieber wäre mir, ich hätte es noch nicht hinter mir“.
Nein, das war keine bewusste Unterscheidung. Ich habe dafür auch keine rechte Erklärung, weiß also nicht, ob ich damit etwas Bestimmtes habe sagen wollen. Bei mir hat sich der positive Aspekt dieses Gefühls jedenfalls noch nicht verflüchtigt.
Zuversicht
Ich würde, nachdem Du mich bei den „Hoffnungs“-Umkreisungen unterstützt hast, jetzt differenzieren, und im Zuge dessen möchte ich mich auch korrigieren. Gegen eine Tatsache zu hoffen, sie sei nicht oder könne rückgängig gemacht werden (wie der Tod) ist ... Schwachsinn oder anders ausgedrückt, das Wort „Hoffnung“ verliert seinen Sinn. „Gegen die Wahrscheinlichkeit“, wie Du in Deinem mail-Brief geschrieben hattest, etwas zu erwarten, das ist Hoffen. Dem schließe ich mich an. Man könnte für die Wahrscheinlichkeit noch Abstufungen in ein mehr oder weniger vornehmen, aber grundsätzlich ist das Hoffen eine gegenläufige Bewegung zu dem, was man mit guten Gründen, d.h. rationaler- oder vernünftigerweise erwarten kann. Die Wahrscheinlichkeit offen halten, weil man über sie nichts weiß, das würde ich heute Zuversicht nennen. 🌱
Zuversicht ist ein sehr schönes Wort! Und eines, das ich spontan auch auf mich beziehen kann, im Gegensatz zur Hoffnung. Vielleicht verwende ich es in etwas anderer Bedeutung als du, aber das macht nichts. Während Hoffnung eine starke zeitliche Dimension hat, nämlich in die Zukunft, weswegen sie für mich keine große Rolle spielt, nach meinem Verständnis auch leicht etwas Drängendes, verstehe ich unter Zuversicht eher eine seelische Verfassung ähnlich dem Urvertrauen, wenn vielleicht auch nicht ganz so stark und grundsätzlich, sondern mehr von Fall zu Fall.
Inhaltlich bringt mein Brief diese Woche nichts Neues, sondern ist nur eine Reaktion auf zwei, drei Punkte von dir, aber ich hoffe (!), das macht nichts. :-)
B.
Kommentar hinzufügen
Kommentare