Liebe B.,
Rückblick
[...]Später habe ich noch manchmal gedacht: Wie gut, dass ich das Schlimmste, was mir in meinem Leben passieren kann, schon hinter mir habe. Natürlich gibt es weiterhin Schlimmes, was passieren könnte, z.B. mit meinen Kindern oder Enkelkindern. Trotzdem fühle ich mich paradoxerweise manchmal anderen Paaren gegenüber fast so etwas wie befreit. Ihnen steht das noch bevor, ich habe es schon hinter mir.
Ja, genau s o ist es mir auch ergangen. Daß Du allerdings diesen Gedanken hattest oder hast, überrascht mich und zwar deswegen, weil Du, im Unterschied zu mir, während Eurer Ehe nur ausnahmsweise an die Möglichkeit des Sterbens Deines Mannes gedacht hast. Die Verlustangst hat mich fast immer –im Hintergrund- begleitet. Andererseits ist die Möglichkeit des Sterbens eine Tatsache, besonders auch, da Dein Mann einige Jahre älter als Du gewesen ist. Auch wenn Du Dich nicht in der Weise gesorgt hast wie ich, so ist es doch ein Sachverhalt, der im Horizont des Möglichen gestanden hat. Da ich es mir nun selber erklärt habe, bin ich über Deine Reaktion doch nicht mehr überrascht.
Mir fällt auf, daß Du zuerst die Vergangenheitsform wählst „später habe ich mir manchmal gedacht“ und anschließend ins Präsens wechselst „trotzdem fühle ich mich“. Hast Du die zeitliche Unterscheidung bewußt vorgenommen? Wenn ich sie auf mich beziehe, dann ist sie nämlich sehr zutreffend. Am Anfang war dieser Gedanke weniger eine Feststellung als vielmehr ein erleichtertes Erleben. Der Gedanke der Privilegierung gegenüber anderen Paaren jetzt hingegen ist hauptsächlich ein bemühter Trost. „Bemüht“ heißt zum "Trost an den Haaren herbeigezogen“. Vom Gefühl her stimmt eher, meistens jedenfalls, der Satz „lieber wäre mir, ich hätte es noch nicht hinter mir“.
Wir sind unperfekt
Exkurs Fehler: Das Interessante an solchen „falschen“ Bildern oder Worten ist, dass man über den spontanen Widerspruch sehr viel besser zu fassen kriegt, was man denn nun eigentlich meint, so wie du im vorigen Brief bei der „Zweierbeziehung“. Das ist ja das Tolle an Fehlern oder vermeintlichen Fehlern aller Art, in (fast) allen Bereichen: Man lernt aus ihnen so viel mehr als aus dem Richtigen, dem Funktionierenden! Neulich las ich: „Fehler sind Information.“ Ganz neutral.
Hach, Deine Sichtweise entspannt mich, denn „natürlich“ habe ich mich sofort fast ein bißchen dafür geschämt, ein so falsches Bild für Deine Situation entwickelt zu haben, von dem ich spontan doch glaubte, es sei stimmig und passend.
Vermutlich spricht mich dieses Thema deshalb so an, weil ich früher, als Kind und noch lange als Erwachsene, immer bestrebt war, Fehler um jeden Preis zu vermeiden oder wenigstens, wenn sie denn geschehen waren, so gut wie möglich zu verheimlichen, nicht sichtbar werden zu lassen, möglichst selbst auszubügeln, bevor jemand anderes sie bemerkte. Ich bin als Kind anscheinend weitgehend ohne eine „positive Fehlerkultur“ sozialisiert worden. (Bei uns war es üblich, sich über andere lustig zu machen, ganz besonders gern über kleine Kinder. Abscheulich.) Die positive Fehlerkultur habe ich mir erst in späteren Jahren mühsam angeeignet. Inzwischen bin ich ein großer und offensiver Fan von Fehlern, sowohl bei mir selbst als auch bei anderen!
„Fehler“ als „Informationen“ zu verstehen, hat auch mit meiner Sozialisation nicht das Mindeste zu tun, denn wie sonst käme ich darauf, mich anflugsweise zu schämen?! Ja, ich habe den verwerflichen Aspekt des Fehlermachens (gut, daß Du noch um ein „vermeintlich“ ergänzt hast) verinnerlicht und bisher auch nie so richtig bedacht. Entscheidend ist der ablehnende, missbilligende, vorwurfsvolle (die moralische Komponente) vernichtende Blick bei der Ent- oder Aufdeckung eines Fehlers. Eine Vernichtung, die meiner ganzen Person gilt. Ein Fehler ist wie ein Defekt der Person. Aber wichtiger noch, glaube ich, ist die Befürchtung, wegen des Fehlers nicht mehr geliebt zu werden.
Mir fällt dazu das erste Bild ein, das Du mir vor über einem Jahr zum Ansehen gegeben hattest, ein Stilleben von Chardin, auf dem ich irgendeinen Gegenstand sah, von dem Du erstaunt warst, daß ich dieses „Etwas“ als einen solchen Gegenstand identifiziere. Dieses Vorkommnis schlug mindestens 2 Tage lang hohe Wellen in mir, die ich, weil wir damals ja schon ins Gespräch vertieft waren, sorgfältig beobachtet habe. Ich habe mich fürs falsche Sehen (wobei ich, was erschwerend hinzukommt, wie selbstverständlich davon ausgegangen bin, ich hätte falsch gekuckt) geschämt, und ich habe registriert, daß ich Angst hatte, Du würdest Dich abwenden und mit mir nichts mehr zu tun haben wollen. Wenn ich das jetzt schreibe, kommt mir meine Reaktion selber fast unglaublich 😯 vor: Wegen eines nichtigen Fehlers würde ich evtl. nicht mehr gemocht werden! An dieser Stelle finde ich interessant zu bemerken, wie wenig die Zeit mit meinem Mann diese Prägung hat verändern können. In der Beziehung mit ihm gab es das Problem nicht.
Und auch das Folgende könnte man unter einem fehlerhaften Lesen meinerseits verbuchen. Das kann ich nach dem –für mich neuen- Einblick in die positive „Fehlerkultur“ nun ohne vorwurfsvollen Blick auf mich, feststellen:
Das Ausmalen, das du beschreibst, fällt bei mir übrigens eher rudimentär aus. Bei mir läuft das mehr so ab, dass ich manches ausprobiere und dabei dann feststelle, ob das was für mich ist oder nicht, und es entsprechend fortsetze oder abbreche. Ich merke aber, dass ich dazu im Moment gar nicht viel schreiben kann. Vielleicht, weil das noch zu sehr in Gange ist? Da muss sich wohl erst was setzen. Das Wasser ist noch zu trüb!
Ah ja, da habe ich ganz und gar in die falsche Richtung geblickt, weil ich ausschließlich an Imagination gedacht hatte. Wenn ich von „Möglichkeiten“ spreche, dann meine ich nahezu immer Bilder und Gedanken des Vorstellens, während Du –in diesem Fall zumindest- hauptsächlich konkrete Handlungen meinst, die Du erprobst. Möglichkeiten, falls ich es nun richtig verstehe, die Du unter Umständen dauerhaft in Deinen Lebensalltag aufnehmen möchtest.
Das ist die Gefahr bei diesen Zu- und Beschreibungen, dass sie dadurch, dass sie einen Schwerpunkt setzen, den Gegenpol außer Acht lassen und dadurch einseitig werden [...] Man sollte dann halt im Geiste die Differenzierungen, Ambivalenzen, Inkonsequenzen immer mitbedenken.
Ja, so war ich neulich sehr überrascht, als Du in einem mail-Brief schriebst, ich sei konsequenter als Du, was den Austausch des „ja, aber“ durch ein „und“ angeht. Du hattest auf so wohlbedachte Art und Weise Deine Gedanken dazu dargelegt, daß ich überhaupt nicht auf die Möglichkeit einer „Inkonsequenz“ bei Dir gekommen bin :-))). Doch, ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt für unser Gespräch, insbesondere auch, weil die Schriftform die Tendenz zur Einseitigkeit fördert. Da wir uns im Alltag nicht erleben, ist es gut, wenn wir diesen fehlenden Teil in der Schriftlichkeit versuchen, zumindest zum Teil auszugleichen. „Mitbedenken“ können wir die Vielfalt bzw. die Gegenpole ja nur dann, wenn wir untereinander davon wissen, d.h. sie mitteilen.
Liebe B., der Abschnitt über das Unperfekte ist ineins die Demonstration der unzulänglichen Ausführung eines Themas, wie ich am Ende feststelle. Mir ist das nicht Perfekte, das ich sehr reizvoll zu bedenken finde, unter den Händen zerbröselt ... und ich gebe es unvollständig wie es ist, in Deine Hände weiter.
Hoffnung
Ja, das hatte ich mir später noch gedacht, dass die Hoffnung eine positive, aktive Bedeutung für dich hat. Vielleicht kann man sich bis zu einem gewissen Grad dazu entscheiden zu hoffen? Ich stelle mir vor, dass sie den zeitweisen Stillstand in einer ausweglos erscheinenden Situation heller macht.
Toll! Dieser für mich fast wichtigste Aspekt des Hoffens war mir völlig entgangen. Das Schlimmste in solchen Situationen ist ja –meistens- der Gedanke, daß es so, genau s o für immer und ewig (bis zum Tod) bleiben wird. Die zeitliche Ausdehnung ist das Unerträgliche. Und die zeitliche Dimension, die Ausweitung des Jetzt auf die Zukunft, die wird durch die Hoffnung aufgebrochen!
Ich würde, nachdem Du mich bei den „Hoffnungs“-Umkreisungen unterstützt hast, jetzt differenzieren, und im Zuge dessen möchte ich mich auch korrigieren. Gegen eine Tatsache zu hoffen, sie sei nicht oder könne rückgängig gemacht werden (wie der Tod) ist ... Schwachsinn oder anders ausgedrückt, das Wort „Hoffnung“ verliert seinen Sinn. „Gegen die Wahrscheinlichkeit“, wie Du in Deinem mail-Brief geschrieben hattest, etwas zu erwarten, das ist Hoffen. Dem schließe ich mich an. Man könnte für die Wahrscheinlichkeit noch Abstufungen in ein mehr oder weniger vornehmen, aber grundsätzlich ist das Hoffen eine gegenläufige Bewegung zu dem, was man mit guten Gründen, d.h. rationaler- oder vernünftigerweise erwarten kann. Die Wahrscheinlichkeit offen halten, weil man über sie nichts weiß, das würde ich heute Zuversicht nennen. 🌱
F.
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