Liebe F.,
Dankbarkeit
Jetzt erst, in Verbindung mit dem Aspekt der Ohnmacht, aus dem die Demut entspringt, kommen mir die Bilder des Sterbens und des Todes meines Mannes in den Sinn und meine allererste Reaktion, als ich Gewißheit hatte, daß er tot ist. Es war eine derart überwältigende Dankbarkeit, die ich empfunden habe, daß ich hätte auf die Knie fallen wollen. Diesen Impuls habe ich bewusst wahrgenommen in dem Moment, da ich ihn hatte. […] Demutsgeste und Dankbarkeitsempfinden? Demütig dankbar passt wohl am besten. Dankbar dafür, daß das Warten auf den baldigen Tod, die Angst davor, wie mein Mann sterben wird, endlich vorbei sind. Erleichterung.
Ich kann diese Erleichterung sehr gut nachempfinden! Ich hatte mir ja schon immer vorgestellt, dass es unglaublich zermürbend, ja zerrüttend sein muss, ein ganzes Jahr mit dem Wissen um den kommenden Tod des geliebten Anderen zu leben, auf ihn zu warten … Bei mir war das Gefühl ein anderes. Da alles so schnell ging, war ich im Moment seines Todes – ja, was eigentlich …? Fassungslos trifft es vielleicht ganz gut – Fassung im Sinne von umschließender Form. Alles löste sich auf, es gab keinen Halt, keine Form, keine Fassung mehr. Aber eine große, geradezu überfließende Dankbarkeit habe ich auch empfunden. Ich war dankbar dafür, dass wir noch diese zwei Wochen zu Hause zum Abschiednehmen hatten. Ich war dankbar dafür, dass mein Mann gut gestorben ist, schnell, schmerzlos. Ich war unendlich dankbar für unsere gemeinsamen mehr als 40 Jahre. Dieses überströmende Gefühl der Dankbarkeit hielt noch etwa ein Vierteljahr an. Anfangs konnte es zeitweise sogar den Schmerz überdecken, sich immer wieder mit ihm abwechseln, ihn ablösen. Später habe ich noch manchmal gedacht: Wie gut, dass ich das Schlimmste, was mir in meinem Leben passieren kann, schon hinter mir habe. Natürlich gibt es weiterhin Schlimmes, was passieren könnte, z.B. mit meinen Kindern oder Enkelkindern. Trotzdem fühle ich mich paradoxerweise manchmal anderen Paaren gegenüber fast so etwas wie befreit. Ihnen steht das noch bevor, ich habe es schon hinter mir.
Veränderungen
Ich bin überaus überrascht gewesen, weil ich eine (größere) Offenheit ... nein, richtiger ist: Gelassenheit nach dem Tod meines Mannes erwartet hatte, die sich aber nicht einstellte. Schon schnell, nach bereits wenigen Tagen merkte ich, daß ich mich geirrt hatte. Ich fand mich in derselben, häufig engen (nicht gelassenen/offenen) Welt wieder, in der ich zuvor gelebt hatte (Du kennst es nun schon, meine Ängste und Sorgen um das, was sein könnte). Doch, ich war darüber sehr erstaunt, weil ich angenommen hatte, würde dieses vollkommen unbegreifliche Ereignis Realität werden, dann würde aus meiner Wirklichkeit die Angst ein für allemal verschwunden sein.
Ja, es ist erstaunlich, wie wenig man sich grundlegend verändert, egal was passiert. Ich versinke nicht im Leid, du verlierst nicht die Angst. Angeblich sollen ja die meisten Menschen nach einer relativ kurzen Zeit wieder in ihre normale psychische Verfassung zurückkehren, egal, was an Schrecklichem ihnen widerfahren ist. Ich denke mal, bei richtigen Traumatisierungen wird das wohl nicht der Fall sein, aber in den meisten anderen Fällen durchaus. Allerdings stellen wir beide ja auch immer wieder fast etwas erstaunt fest, wieviel sich eben doch bei uns verändert hat, nicht nur im Äußeren, sondern auch im Inneren. Aber das sind wohl eher Veränderungen, die sich durch die veränderten Lebensumstände ergeben, also Teil eines ganz normalen Entwicklungsprozesses sind, weniger eine direkte Reaktion auf den Tod. Deshalb auch das Schleichende, nicht die plötzliche Veränderung.
Wenn ich die Einrichtung einer neuen und somit leeren Wohnung als Bild heranziehe, dann hast Du bisher, also in den ersten gut 2 Jahren die Wohnung grundausgestattet. Die für den Alltag nötigen Möbel in den einzelnen Zimmern verteilt, Vorhänge aufgemacht, Teppiche gelegt und Lampen montiert. Nun sind die feineren Arbeiten an der Reihe. Ja, die sind gut aufschiebbar, weil fürs angenehme Wohngefühl das Bisherige auch schon reicht. Ins Bild hinein passt sogar noch der Umstand, daß man z.B. bei der Überlegung, an welcher Stelle genau man ein Bild (ein Gemälde) aufhängen möchte, oft viel mehr Zeit benötigt als für die Entscheidung, wo man das Sofa oder das Bett hinplaziert. Hm, wenn ich es näher bedenke, ist der letztere Aspekt doch nicht besonders glücklich gewählt, denn Du beschreibst eine Erweiterung des Raumes (der Möglichkeiten), während ich mit meinem Beispiel auf die Raum-Details verenge.
Meine spontane Reaktion auf dieses Bild ist, dass es (für mich) nicht passt. Ich habe keine leere Wohnung eingerichtet. Ganz im Gegenteil. Daraus resultieren wohl auch teilweise meine Schwierigkeiten. Ich bin nicht unbefangen, nicht unbelastet. Ich musste nicht einräumen, sondern ausräumen. Was du beschreibst, passt eher zum Stichwort der „Geschiedenen Frau“, die vor einem gewollten Neuanfang steht.
[Exkurs Fehler: Das Interessante an solchen „falschen“ Bildern oder Worten ist, dass man über den spontanen Widerspruch sehr viel besser zu fassen kriegt, was man denn nun eigentlich meint, so wie du im vorigen Brief bei der „Zweierbeziehung“. Das ist ja das Tolle an Fehlern oder vermeintlichen Fehlern aller Art, in (fast) allen Bereichen: Man lernt aus ihnen so viel mehr als aus dem Richtigen, dem Funktionierenden! Neulich las ich: „Fehler sind Information.“ Ganz neutral.
Vermutlich spricht mich dieses Thema deshalb so an, weil ich früher, als Kind und noch lange als Erwachsene, immer bestrebt war, Fehler um jeden Preis zu vermeiden oder wenigstens, wenn sie denn geschehen waren, so gut wie möglich zu verheimlichen, nicht sichtbar werden zu lassen, möglichst selbst auszubügeln, bevor jemand anderes sie bemerkte. Ich bin als Kind anscheinend weitgehend ohne eine „positive Fehlerkultur“ sozialisiert worden. (Bei uns war es üblich, sich über andere lustig zu machen, ganz besonders gern über kleine Kinder. Abscheulich.) Die positive Fehlerkultur habe ich mir erst in späteren Jahren mühsam angeeignet. Inzwischen bin ich ein großer und offensiver Fan von Fehlern, sowohl bei mir selbst als auch bei anderen! 😊]
Das finde auch ich spannend, denn ich kann mich nicht erinnern, daß Du bisher überhaupt einmal darüber gesprochen hast, wie Du sein möchtest. Weil ich mir unsicher bin, worauf Du die „Gestaltung“ beziehst (Dich oder die Umstände) frage ich nach. Für mich klingt es eher so, als würdest Du mit der „Gestaltung“ wieder zurückkehren in die Möglichkeiten, Deine Lebensweise oder die Lebensumstände noch weiter zu verändern ... ah, ich glaube, jetzt verstehe ich doch, was Du meinst. Obwohl Du die Möglichkeiten der Selbstveränderung für begrenzt hältst, macht es Dir Spaß, Möglichkeiten des Tuns, d.h. des Handelns in der Phantasie zu ersinnen und auszumalen. 🌏
Ja, mit den begrenzten Gestaltungsmöglichkeiten hatte ich in diesem Zusammenhang mich selbst gemeint, erst in zweiter Linie die Umstände. Wobei das natürlich zusammenhängt und aufeinander einwirkt, also nicht so klar zu trennen ist.
Das Ausmalen, das du beschreibst, fällt bei mir übrigens eher rudimentär aus. Bei mir läuft das mehr so ab, dass ich manches ausprobiere und dabei dann feststelle, ob das was für mich ist oder nicht, und es entsprechend fortsetze oder abbreche. Ich merke aber, dass ich dazu im Moment gar nicht viel schreiben kann. Vielleicht, weil das noch zu sehr in Gange ist? Da muss sich wohl erst was setzen. Das Wasser ist noch zu trüb! 😊
Hoffnung
Deiner positiven Grundhaltung liegen weder Befürchtungen, denen Du die Hoffnung entgegensetzt, noch Erwartungen auf Gutes, das eintreten wird, zugrunde, sondern Du denkst nicht daran, daß sich Gutes oder Schlechtes ereignen könne.
Ja, im Prinzip ist das richtig. Aber wenn ich den Satz so lese, kommen mir lauter Beispiele in den Sinn, wo ich durchaus Befürchtungen und Erwartungen habe. Das ist die Gefahr bei diesen Zu- und Beschreibungen, dass sie dadurch, dass sie einen Schwerpunkt setzen, den Gegenpol außer Acht lassen und dadurch einseitig werden. Man müsste eigentlich immer schreiben: „Ich bin überwiegend positiv, aber manchmal auch negativ“ oder „Ich bin überwiegend penibel, aber manchmal auch nachlässig“ oder „Ich bin überwiegend schüchtern, aber manchmal auch großspurig“ oder was auch immer. Aber das macht die Darstellung natürlich ziemlich umständlich, außerdem kann eine mehr holzschnittartige Beschreibung auch hilfreich sein, weil sie manches klarer werden lässt. Man sollte dann halt im Geiste die Differenzierungen, Ambivalenzen, Inkonsequenzen immer mitbedenken.
„Was mache ich solange heute?“ Ich hoffe. Einerseits gebe ich zwar die Auflösung, d.h. irgendeine Art von Veränderung an ein unbestimmtes Außen ab, andererseits ist das Hoffen selbst ein aktiver Vorgang. Es ist nicht viel, macht mir einzelne Tage aber erträglich.
Ja, das hatte ich mir später noch gedacht, dass die Hoffnung eine positive, aktive Bedeutung für dich hat. Vielleicht kann man sich bis zu einem gewissen Grad dazu entscheiden zu hoffen? Ich stelle mir vor, dass sie den zeitweisen Stillstand in einer ausweglos erscheinenden Situation heller macht.
Zum Abschluß fällt mir dazu ein, daß Hoffen immer bedeutet, dies (was immer "dies" ist) nicht zu akzeptieren.
Du bist die größere Kämpferin von uns beiden! Ja, man muss nicht alles akzeptieren. Ich neige oft dazu, viel zu schnell etwas hinzunehmen, auch Schlechtes. Geduld und Akzeptanz sind ja schön und gut; aber damit die Welt besser wird (ich weite den Gedanken jetzt kurzerhand mal auf die ganze Welt aus 😊), braucht es auch immer wieder Veränderung, und die kommt nicht von Leuten wie mir. Oder vielleicht besser gesagt: Es braucht immer wieder ein Ausbalancieren der Kräfte, und wenn das nicht in einer Person allein geschieht (so wie bei diesem Aspekt bei mir mit meinem allzu großen Phlegma), dann wird das durch Menschen wie dich ausgeglichen, die sich vielleicht mit der Radikalen Akzeptanz schwerer tun, dafür aber nicht bereit sind, Schlechtes oder Ungutes widerspruchslos hinzunehmen, sondern auf Veränderung drängen. Yin und Yang.
B.
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