Liebe B.,
Gelassenheit
[...] mein Empfinden der Demut genau aus dem Gegenteil entsprungen ist, nämlich dem Gefühl der völligen Ohnmacht gegenüber dem Sterben meines Mannes. Im Angesicht des Todes sind wir tatsächlich ohnmächtig, wir können ihn mit keinen Mitteln abwenden, weder den eigenen Tod noch den der anderen. Alles, worüber wir verfügen, ist unsere Liebe, unser Beistand.
Diese Erfahrung der Ohnmacht war es, die mich demütig gemacht hat. Und dieses Gefühl ging schnell über den Tod hinaus. Es hat mir bewusst gemacht, wie endlich, wie begrenzt wir sind – nicht nur zeitlich, auch wenn dies wohl die deutlichste, die schmerzhafteste Dimension ist. Wir sind nicht allmächtig, wir sind nicht allwissend, sondern begrenzt in jederlei Hinsicht.
Jetzt erst, in Verbindung mit dem Aspekt der Ohnmacht, aus dem die Demut entspringt, kommen mir die Bilder des Sterbens und des Todes meines Mannes in den Sinn und meine allererste Reaktion, als ich Gewißheit hatte, daß er tot ist. Es war eine derart überwältigende Dankbarkeit, die ich empfunden habe, daß ich hätte auf die Knie fallen wollen. Diesen Impuls habe ich bewusst wahrgenommen in dem Moment, da ich ihn hatte. Wenn ich mir jetzt überlege, warum ich ihm nicht gefolgt bin, dann glaube ich, daß ich es in Hinsicht auf die Anwesenheit der Sterbebegleiterin und der betreuenden Pflegkraft nicht getan habe. Eine Scham, diese theatralische Geste zu tun? Seltsam ... da dieser Punkt jetzt keine Rolle spielt, gehe ich nicht weiter darauf ein. Demutsgeste und Dankbarkeitsempfinden? Demütig dankbar passt wohl am besten. Dankbar dafür, daß das Warten auf den baldigen Tod, die Angst davor, wie mein Mann sterben wird, endlich vorbei sind. Erleichterung. Und demütig dankbar in dem Bewusstsein, daß das rasche und das gute Sterben sich vollkommen meiner Verfügung entziehen, ich ausgeliefert bin an das, was geschieht. Selbst jetzt noch, Jahre später, während ich dies schreibe, wird die demütige Dankbarkeit in mir lebendig.
[...]und so lebe ich, die ich nicht an eine höhere Macht glaube, seit dem Tod meines Mannes sehr viel bewusster in dem Gefühl, „im Fluss des Lebens zu schwimmen“, wie du es neulich ausgedrückt hast. Was für mich bedeutet, dass ich zwar versuche, eine bestimmte Richtung ungefähr einzuhalten und vor allem natürlich nicht unterzugehen, aber ansonsten mich dem Leben anzuvertrauen, den eigenen Willen oft fahren zu lassen, vieles einfach geschehen zu lassen. Mit dieser teilweisen Aufgabe meines eigenen Willens geht eine größere Offenheit gegenüber dem Leben und allem, was mir begegnet, einher, wie ich merke, und die finde ich sehr schön. –
Aber diese Offenheit kommt vielleicht gar nicht so sehr aus der Demut als vielmehr daraus, dass ich nach dem Tod meines Mannes das Gefühl habe, ich möchte mein Leben neu ordnen, aber noch gar nicht so richtig weiß, wo es langgehen wird.
Ich bin überaus überrascht gewesen, weil ich eine (größere) Offenheit ... nein, richtiger ist: Gelassenheit nach dem Tod meines Mannes erwartet hatte, die sich aber nicht einstellte. Schon schnell, nach bereits wenigen Tagen merkte ich, daß ich mich geirrt hatte. Ich fand mich in derselben, häufig engen (nicht gelassenen/offenen) Welt wieder, in der ich zuvor gelebt hatte (Du kennst es nun schon, meine Ängste und Sorgen um das, was sein könnte). Doch, ich war darüber sehr erstaunt, weil ich angenommen hatte, würde dieses vollkommen unbegreifliche Ereignis Realität werden, dann würde aus meiner Wirklichkeit die Angst ein für allemal verschwunden sein.
Entwicklungen
Wie möchte ich jetzt leben? Ja gut, am liebsten natürlich weiter wie früher, mit meinem Mann. Aber da das nun einmal unmöglich ist – wie dann? Du hast das für dich inzwischen klar herausgefunden: du möchtest wieder in einer Zweierbeziehung leben. Für mich selbst ist das im Moment keine Option. Vielleicht liegt das daran, dass es bei mir noch nicht so lang her ist wie bei dir, dass mein Mann gestorben ist.
Ich stolpere über den Ausdruck „Zweierbeziehung“, weil ich mit ihm ein Leben nach dem Muster meiner Ehe assoziiere. „Wir beide sind uns genug und andere Menschen sind nicht wichtig“. Das ist mein Bedürfnis nicht, was ich sehr aufschlussreich für mich finde, denn es zeigt mir, daß ich mich verändert haben muß. Seit wir uns kennengelernt haben, bin ich sicherer mit mir geworden, was zur Folge hat, daß ich anderen Menschen gegenüber weniger ängstlich bin, mich freier fühle ihnen einfach so zu begegnen, wie ich bin, oder wie ich mich gerade befinde. Diese mehr oder weniger dichten Begegnungen, für die ich „offen“ bin, empfinde ich als bereichernd. Sie machen mich lebendiger. Und diesen Teil meines neuen Lebens (zu dem ganz besonders Du gehörst) gebe ich nicht wieder her. Ich möchte das, wonach ich mich sehne, „Liebesbeziehung“ nennen.
Ich habe im Moment noch das Gefühl, mich selbst noch nicht richtig gefunden zu haben. Und da ich noch nicht so genau weiß, wie ich bin oder wie ich sein möchte, weiß ich auch noch nicht, wie ich leben möchte. Da ist jetzt viel Platz in meinem Leben für Neues, sowohl im konkreten wie im übertragenen Sinn. Manches davon habe ich schon wieder besetzt – mit Dingen, Menschen, Aktivitäten. Aber nicht alles möchte ich füllen; einerseits, weil ich die „gefüllte Leere“ meines Mannes weiterhin spüren möchte, andererseits, weil ich diesen leeren Raum mag, er lässt mich atmen, er ist ein Möglichkeitsraum. Dein Tummelplatzbeitrag über das Mögliche fällt mir dazu ein, in dem du schriebst, dass du dieses Schweben im Möglichen als lustvoll empfandst und gern eine Weile aufrechterhalten hast, bevor du eventuell eine der Möglichkeiten zur Wirklichkeit werden lässt.
Wenn ich die Einrichtung einer neuen und somit leeren Wohnung als Bild heranziehe, dann hast Du bisher, also in den ersten gut 2 Jahren die Wohnung grundausgestattet. Die für den Alltag nötigen Möbel in den einzelnen Zimmern verteilt, Vorhänge aufgemacht, Teppiche gelegt und Lampen montiert. Nun sind die feineren Arbeiten an der Reihe. Ja, die sind gut aufschiebbar, weil fürs angenehme Wohngefühl das Bisherige auch schon reicht. Ins Bild hinein passt sogar noch der Umstand, daß man z.B. bei der Überlegung, an welcher Stelle genau man ein Bild (ein Gemälde) aufhängen möchte, oft viel mehr Zeit benötigt als für die Entscheidung, wo man das Sofa oder das Bett hinplaziert. Hm, wenn ich es näher bedenke, ist der letztere Aspekt doch nicht besonders glücklich gewählt, denn Du beschreibst eine Erweiterung des Raumes (der Möglichkeiten), während ich mit meinem Beispiel auf die Raum-Details verenge.
Wie ich sein möchte, ist für mich übrigens im Moment die viel spannendere Frage als die, wie ich bin, über die wir anfangs häufiger gesprochen haben. Ob ich da wirklich so frei in der Gestaltung bin, wie es sich manchmal anfühlt, bezweifle ich zwar, aber das ändert nichts daran, dass dieses Gefühl der vielen Möglichkeiten sehr anregend ist.
Das finde auch ich spannend, denn ich kann mich nicht erinnern, daß Du bisher überhaupt einmal darüber gesprochen hast, wie Du sein möchtest. Weil ich mir unsicher bin, worauf Du die „Gestaltung“ beziehst (Dich oder die Umstände) frage ich nach. Für mich klingt es eher so, als würdest Du mit der „Gestaltung“ wieder zurückkehren in die Möglichkeiten, Deine Lebensweise oder die Lebensumstände noch weiter zu verändern ... ah, ich glaube, jetzt verstehe ich doch, was Du meinst. Obwohl Du die Möglichkeiten der Selbstveränderung für begrenzt hältst, macht es Dir Spaß, Möglichkeiten des Tuns, d.h. des Handelns in der Phantasie zu ersinnen und auszumalen. 🌏
Hoffnung
So wie bei dir beim Maß, so gerät bei mir beim Begriff Hoffnung nichts ins Klingen. Was mich ein wenig überrascht hat, denn ich habe ja eine ziemlich ausgeprägte positive Grundhaltung dem Leben gegenüber, und die Hoffnung ist ja eigentlich ein überaus positives Gefühl – sie geht davon aus, dass es (was auch immer dieses „es“ ist) besser werden kann. Ich vermute, es hat was mit der starken zeitlichen Komponente zu tun. Die Hoffnung geht ja immer auf die (nähere oder fernere) Zukunft, und mir kommt es so vor, als wenn sich bei mir dadurch in der Gegenwart, in der ich mich viel stärker „bewege“, sozusagen eine Lücke auftut. Wenn jetzt in der Gegenwart irgendetwas nicht gut ist und ich aber hoffe, dass es vielleicht morgen besser wird – was mache ich solange heute?
Aber vielleicht verkompliziere ich hier unnötig oder habe eine falsche Vorstellung davon, wie die Hoffnung sich bei dir ausprägt. Vielleicht ist sie ja eine andere Form der Offenheit?
Ja, ich bin neugierig gewesen, ob die Hoffnung in Deinem Leben eine Bedeutung hat, genau aus dem Grunde, den Du oben anführst: Weil Dir eine positive Grundhaltung eigen ist. Wenn ich auf das banale Regenschirmbeispiel zurückgreife, dann würde zu hoffen, es werde schon nicht regnen, voraussetzen, Du befürchtetest, es könne regnen. Tatsächlich aber ist es so, daß Du überhaupt keinen Gedanken daran verschwendest, ob es nun regnen könne oder nicht. Entweder es regnet in dem Moment, da Du das Haus verlässt oder es regnet nicht. Übertrage ich dieses Beispiel auf wichtigere Ereignisse, die sich in (D)einem Leben ereignen können, dann scheint mir dieser Umstand entscheidend: Deiner positiven Grundhaltung liegen weder Befürchtungen, denen Du die Hoffnung entgegensetzt, noch Erwartungen auf Gutes, das eintreten wird, zugrunde, sondern Du denkst nicht daran, daß sich Gutes oder Schlechtes ereignen könne. Ja, die Hoffnung bezieht sich immer und grundsätzlich auf Zukünftiges, niemals das Jetzt und Deine Überlegung „was mache ich solange heute“ erhellt mir die entscheidende Funktion des Hoffens in meinem Leben. Damit springe ich zu mir.
Ich setze sie dann ein, wenn ich keine einzige andere Lösung weiß, mit der ich mich aus eigener Kraft aus einer mir ausweglos scheinenden „Lage“ befreien kann. Das kann sich sowohl auf Ereignisse beziehen als auch auf meine Einstellung zu den Ereignissen oder meine Gefühle und Gedanken. Wenn ich mich außerstande sehe, irgendetwas selber zu verändern, dann greife ich zum Rettungsanker der Hoffnung. „Wenn ich heute nicht weiß, was ich tun kann und wie ich heute und morgen weiterleben könnte, vielleicht weiß ich es morgen“.💡 „Was mache ich solange heute?“ Ich hoffe. Einerseits gebe ich zwar die Auflösung, d.h. irgendeine Art von Veränderung an ein unbestimmtes Außen ab, andererseits ist das Hoffen selbst ein aktiver Vorgang. Es ist nicht viel, macht mir einzelne Tage aber erträglich. „Offenheit“ würde ich allenfalls in dem Sinne sagen, daß die Hoffnung ein Ausweg ist, wo kein anderer möglich scheint, aber ich finde das Wort damit überstrapaziert.
[...] sie geht davon aus, dass es (was auch immer dieses „es“ ist) besser werden kann.
Zum Abschluß fällt mir dazu ein, daß Hoffen immer bedeutet, dies (was immer "dies" ist) nicht zu akzeptieren.
F.
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