Brief 62 | Offenheit

Liebe F.,

Offenheit

Ja, man ist oder erfährt sich in der Demut selber als handlungsmächtig […]

Während ich über diesen Gedanken nachsann, dem ich ja prinzipiell zustimme, fiel mir auf, dass mein Empfinden der Demut genau aus dem Gegenteil entsprungen ist, nämlich dem Gefühl der völligen Ohnmacht gegenüber dem Sterben meines Mannes. Im Angesicht des Todes sind wir tatsächlich ohnmächtig, wir können ihn mit keinen Mitteln abwenden, weder den eigenen Tod noch den der anderen. Alles, worüber wir verfügen, ist unsere Liebe, unser Beistand.

Diese Erfahrung der Ohnmacht war es, die mich demütig gemacht hat. Und dieses Gefühl ging schnell über den Tod hinaus. Es hat mir bewusst gemacht, wie endlich, wie begrenzt wir sind – nicht nur zeitlich, auch wenn dies wohl die deutlichste, die schmerzhafteste Dimension ist. Wir sind nicht allmächtig, wir sind nicht allwissend, sondern begrenzt in jederlei Hinsicht.

An diesem tiefsten Punkt bleibt man aber in der Regel nicht stehen. Denn mögen wir auch nicht allmächtig sein, manchmal sogar ohnmächtig, so sind wir in vielen Situationen ja doch handlungsfähig. Ein Christ würde vielleicht demütig sagen: „Dein Wille geschehe …“ – und dann trotzdem sein Leben selbst in die Hand nehmen, wenn auch immer in dem Bewusstsein, dass es letztlich nicht er selbst ist, der darüber entscheidet, ob seine Pläne aufgehen. Und so lebe ich, die ich nicht an eine höhere Macht glaube, seit dem Tod meines Mannes sehr viel bewusster in dem Gefühl, „im Fluss des Lebens zu schwimmen“, wie du es neulich ausgedrückt hast. Was für mich bedeutet, dass ich zwar versuche, eine bestimmte Richtung ungefähr einzuhalten und vor allem natürlich nicht unterzugehen, aber ansonsten mich dem Leben anzuvertrauen, den eigenen Willen oft fahren zu lassen, vieles einfach geschehen zu lassen. Mit dieser teilweisen Aufgabe meines eigenen Willens geht eine größere Offenheit gegenüber dem Leben und allem, was mir begegnet, einher, wie ich merke, und die finde ich sehr schön. –

Aber diese Offenheit kommt vielleicht gar nicht so sehr aus der Demut als vielmehr daraus, dass ich nach dem Tod meines Mannes das Gefühl habe, ich möchte mein Leben neu ordnen, aber noch gar nicht so richtig weiß, wo es langgehen wird.

Wie möchte ich jetzt leben? Ja gut, am liebsten natürlich weiter wie früher, mit meinem Mann. Aber da das nun einmal unmöglich ist – wie dann? Du hast das für dich inzwischen klar herausgefunden: du möchtest wieder in einer Zweierbeziehung leben. Für mich selbst ist das im Moment keine Option. Vielleicht liegt das daran, dass es bei mir noch nicht so lang her ist wie bei dir, dass mein Mann gestorben ist. Ich habe im Moment noch das Gefühl, mich selbst noch nicht richtig gefunden zu haben. Und da ich noch nicht so genau weiß, wie ich bin oder wie ich sein möchte, weiß ich auch noch nicht, wie ich leben möchte.

Da ist jetzt viel Platz in meinem Leben für Neues, sowohl im konkreten wie im übertragenen Sinn. Manches davon habe ich schon wieder besetzt – mit Dingen, Menschen, Aktivitäten. Aber nicht alles möchte ich füllen; einerseits, weil ich die „gefüllte Leere“ meines Mannes weiterhin spüren möchte, andererseits, weil ich diesen leeren Raum mag, er lässt mich atmen, er ist ein Möglichkeitsraum. Dein Tummelplatzbeitrag über das Mögliche fällt mir dazu ein, in dem du schriebst, dass du dieses Schweben im Möglichen als lustvoll empfandst und gern eine Weile aufrechterhalten hast, bevor du eventuell eine der Möglichkeiten zur Wirklichkeit werden lässt.

Wie ich sein möchte, ist für mich übrigens im Moment die viel spannendere Frage als die, wie ich bin, über die wir anfangs häufiger gesprochen haben. Ob ich da wirklich so frei in der Gestaltung bin, wie es sich manchmal anfühlt, bezweifle ich zwar, aber das ändert nichts daran, dass dieses Gefühl der vielen Möglichkeiten sehr anregend ist.

 

Selbstüberwindung

Zur Demut, die mit Stolz verbunden ist, möchte ich Dir ein Beispiel erzählen: Bei meinem ersten Sesshin (ZaZen), an dem ich vor Urzeiten teilgenommen habe, bin ich in die Einführungssitzung mit meiner signalroten Sannyasin-Bekleidung gegangen. Von den Schuhen bis zum Schal, alles in leuchtendem Rot. Der leitende Meister hat dann in seinem einführenden Vorträg einige Sätze über Gemeinschaft, Einordnung, Unauffälligkeit o.ä. gesagt und dies so, daß mir klar war, er meint mich –zumindest auch mich. Nach der Sitzung habe ich heftig mit mir gerungen. Wenn ich die Kleidung wechsle, ist meine „Unterwerfung“ offenkundig, tue ich es nicht, werde ich die ganze Zeit an meinem Durchsetzungswillen kleben. Am ersten „Sitzen“ anschließend habe ich voll in schwarz gekleidet teilgenommen und dabei bin ich geblieben (vorsorglich hatte ich die schwarze Kleidung natürlich mitgenommen). Ich war stolz, sehr stolz über meine Entscheidung und fühlte mich gleichzeitig auf eine befreiende Weise demütig. Ich denke, es ist einmal der Aspekt der Entscheidung aus vollkommen freiem Willen, die Überwindung des Eigenwillens, mit dem ich mich aufgrund der Kleidungsfarbe als etwas Besonderes hatte herausstellen wollen, die den Stolz bewirkte (ich habe meinen Willen freiwillig überwunden) und darüber hinaus ist auch der Aspekt wichtig, daß ich eine (Kleidungs-)Regel oder den eine Regel leitenden Gedanken wert-voller gefunden habe als meinen Eigenwillen oder den meinen Eigenwillen leitenden Wunsch. Nebenbei denke ich mir, daß der „Typ“ die Sache auf eine Art erklärt haben muß, die mir freie Wahl ließ, denn ich war damals vom Grundton her immer eher widerborstig gestimmt.    

Ich habe versucht mich in diese Situation hineinzuversetzen und konnte deinen Stolz gut nachempfinden. Ja, das ist keine leichte Entscheidung – nichts Besonderes sein zu wollen, sondern im Gegenteil sich zurückzunehmen und einzufügen. Ich habe dabei aber auch gemerkt, dass ich selbst vermutlich nicht Stolz, sondern eine starke Scham empfunden hätte. Ich hätte mich geschämt, so sehr aus der Menge herauszustechen. In jungen Jahren allemal, in manchen Situationen auch heute noch ist es mir unangenehm, wenn ich allzu „präsent“ bin. Da du dich selbst als „eher widerborstig“ beschreibst, ist deine Selbstüberwindung umso höher einzuschätzen.

 

Hoffnung

Ich habe mich gar nicht lange besinnen müssen, um darauf zu kommen, was es ist, das mich durch mein Leben trägt und mich vor der Verzweiflung schützt: Es ist die Hoffnung.

Jetzt, da ich dies lese, muss ich mich ein wenig korrigieren oder präzisieren, denn ich denke, dass die Demut für mich gar nicht DAS zentrale Hilfsmittel für schlechte Zeiten ist, so wie für dich die Hoffnung. Sie ist eher Teil eines Konglomerats, dessen Hauptbestandteil oder besser Oberbegriff die Akzeptanz ist. Du hast beschrieben, dass die antiken Philosophen die Demut als eine der Tugenden der Mäßigung betrachteten, und genau so ist die Demut für mich ein Bestandteil der Akzeptanz (und nicht umgekehrt). Die eher neutrale Akzeptanz ist für mich wichtiger, umfassender als die eher emotionale Demut.

So wie bei dir beim Maß, so gerät bei mir beim Begriff Hoffnung nichts ins Klingen. Was mich ein wenig überrascht hat, denn ich habe ja eine ziemlich ausgeprägte positive Grundhaltung dem Leben gegenüber, und die Hoffnung ist ja eigentlich ein überaus positives Gefühl – sie geht davon aus, dass es (was auch immer dieses „es“ ist) besser werden kann. Ich vermute, es hat was mit der starken zeitlichen Komponente zu tun. Die Hoffnung geht ja immer auf die (nähere oder fernere) Zukunft, und mir kommt es so vor, als wenn sich bei mir dadurch in der Gegenwart, in der ich mich viel stärker „bewege“, sozusagen eine Lücke auftut. Wenn jetzt in der Gegenwart irgendetwas nicht gut ist und ich aber hoffe, dass es vielleicht morgen besser wird – was mache ich solange heute?

Aber vielleicht verkompliziere ich hier unnötig oder habe eine falsche Vorstellung davon, wie die Hoffnung sich bei dir ausprägt. Vielleicht ist sie ja eine andere Form der Offenheit?

B.

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.