Liebe B.,
dies wird diesmal ein etwas anderer Brief als sonst. Aber mir war diese Woche nicht so sehr nach Innenschau. :-)
Ich lasse mich gerne darauf ein, indem ich verdeutliche, ergänze, ein Beispiel aus meiner Erfahrung erzähle, ein (Wort)-Feld „links liegen lasse“ und eines neu bestelle.
Demut
Demut bedeutet etymologisch so etwas wie „dienstwillig“. „De“ kommt vom Dienst eines Knechtes oder Gefolgsmannes, und „Mut“ bedeutet ursprünglich Gemütsbewegung, Verlangen, Gesinnung („mir ist heute feierlich zumute“). Ich bin mir nicht zu schade zu dienen. Aber ich wähle selbst, was oder wer mir zu dienen wert erscheint. Die Freiwilligkeit ist entscheidend! Und der Stolz. Freiwillige Demut ohne Stolz, dazu fallen mir Selbsterniedrigung, Unterwürfigkeit, Selbstaufgabe ein. Alles nichts für mich. Unfreiwillige Demut wäre beispielsweise gedemütigt werden – ganz furchtbar!
Ja, man ist oder erfährt sich in der Demut selber als handlungsmächtig, man ist aktiv, während das passive Er-leiden, die Herabsetzung zu einem Objekt eines fremden Willens, Demütigung ist.
[...] Bei Wikipedia werden jedenfalls in Verbindung mit dem antiken Verständnis von Demut solche Begriffe gebraucht wie Unterscheidungsvermögen, kluge Selbstbeherrschung, das Einnehmen einer Mittelposition zwischen unguten Extremen. Aber keine Rede ist von Unterwerfung oder Hingabe an etwas Größeres. „Das rechte Maß“ spielt hier offenbar eine größere Rolle.
Zur Verbindung der Demut mit der Mäßigung habe ich auch noch ein bisschen weiter „geforscht“, weil sie mir ganz unbekannt war und fremd vorkam. Offenbar haben die „Kirchenväter“ im Unterschied zu den antiken Autoren in ihren Tugendkatalogen der Demut den höchsten Stellenwert eingeräumt und im Zuge dessen aber auch die Demut von der Tugend der Mäßigung deutlich unterschieden. In der griech.-röm. Antike hingegen ist die Demut als eine der Tugenden der Mäßigung angesehen worden. Sie bildete eher nur eine Randerscheinung unter den Tugenden und nicht, wie im Christentum, das Zentrum der Tugenden oder wohl richtiger, die „Krone“, d.h. die oberste Spitze der Tugenden.
Stolz
[...] Der mit dem Hochmut verwandte Stolz ist heute nicht so eindeutig negativ belegt. Wenn das Wort nicht in Richtung Hochmütigkeit geht oder Tendenz zur Ausgrenzung hat (Nationalstolz), dann zeigt es ein gutes Selbstwertgefühl an, das freudige Bewusstsein der eigenen oder fremden Leistung („ich bin stolz auf dich!“).
Stolz ist eine Haltung, die man zu sich selber einnimmt (der zweite, von Dir genannte Fall scheint mir nichts anderes zu sein, weil ich denke, daß der Stolz auf jemanden [in der Regel wohl in der Eltern-Kind-Beziehung] über eine Identifikation verläuft), während der Hochmut, ebenso wie die Demut, eine Haltung ist, die man gegenüber etwas, das man selber nicht ist (andere Menschen, Umstände) einnimmt. Demut und Hochmut entstehen also in Beziehung zu einem „außen“.
[...] In diesem Sinne wäre der Stolz also nicht, wie der Hochmut, ein Gegensatz zur Demut, sondern kann sie ergänzen, ja sie vielleicht überhaupt vervollständigen, damit sie nicht ins Erniedrigende abrutscht.
Zur Demut, die mit Stolz verbunden ist, möchte ich Dir ein Beispiel erzählen: Bei meinem ersten Sesshin (ZaZen), an dem ich vor Urzeiten teilgenommen habe, bin ich in die Einführungssitzung mit meiner signalroten Sannyasin-Bekleidung gegangen. Von den Schuhen bis zum Schal, alles in leuchtendem Rot. Der leitende Meister hat dann in seinem einführenden Vorträg einige Sätze über Gemeinschaft, Einordnung, Unauffälligkeit o.ä. gesagt und dies so, daß mir klar war, er meint mich –zumindest auch mich. Nach der Sitzung habe ich heftig mit mir gerungen. Wenn ich die Kleidung wechsle, ist meine „Unterwerfung“ offenkundig, tue ich es nicht, werde ich die ganze Zeit an meinem Durchsetzungswillen kleben. Am ersten „Sitzen“ anschließend habe ich voll in schwarz gekleidet teilgenommen und dabei bin ich geblieben (vorsorglich hatte ich die schwarze Kleidung natürlich mitgenommen). Ich war stolz, sehr stolz über meine Entscheidung und fühlte mich gleichzeitig auf eine befreiende Weise demütig. Ich denke, es ist einmal der Aspekt der Entscheidung aus vollkommen freiem Willen, die Überwindung des Eigenwillens, mit dem ich mich aufgrund der Kleidungsfarbe als etwas Besonderes hatte herausstellen wollen, die den Stolz bewirkte (ich habe meinen Willen freiwillig überwunden) und darüber hinaus ist auch der Aspekt wichtig, daß ich eine (Kleidungs-)Regel oder den eine Regel leitenden Gedanken wert-voller gefunden habe als meinen Eigenwillen oder den meinen Eigenwillen leitenden Wunsch. Nebenbei denke ich mir, daß der „Typ“ die Sache auf eine Art erklärt haben muß, die mir freie Wahl ließ, denn ich war damals vom Grundton her immer eher widerborstig gestimmt.
Maßgebend
[...] Mir gefällt die Erläuterung zu Aristoteles, der sophrosyne als Mitte im Sinne eines Optimums zwischen Extremen versteht. (Das Beste, als Extrem, wäre demnach gerade nicht das Beste!?) Aber auch über den Satz zu Platon, wonach er darunter das „harmonische Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Ebenen der Seele“ versteht, kann man wunderbar weiterdenken. Harmonie entsteht nicht automatisch, wenn man von allen Komponenten das jeweils Beste nimmt. Dann stehen die einzelnen Teile womöglich ohne Bezug zu den anderen nur nebeneinander, ohne Rücksicht aufeinander. Denn dazu wären ja eventuell Abstriche vom Besten nötig, zugunsten der Harmonie des Ganzen.
Ja, das muss man wohl [in jeder Situation neu], wenn man das rechte Maß (das gar nicht immer die Mitte sein muss) treffen will. Das kann mühsam sein, denn da die Konstellationen immer wieder andere sind, kann man dafür keine Standardlösungen einsetzen. Es hat aber den Vorteil, dass ich in der Regel zu einem Ergebnis, einer Befriedung komme. Das gute Leben – das ist ja gerade nicht die Jagd nach dem Besten. Das Beste haben wollen, das ist anstrengend, aufreibend, frisst Zeit und Energie, macht unzufrieden, weil es kein Einhalten gibt, denn wann ist das Beste erreicht? Aber wenn ich nur darauf achten will, ob sich etwas gut oder richtig anfühlt, dann kann ich aufhören, wenn sich dieser Zustand für diesen Moment eingestellt hat. Ich muss dafür nicht vergleichen, sondern kann mich ganz auf mein eigenes Erleben konzentrieren. Das „harmonische Zusammenspiel“, auch wenn es sich auf niedrigerer Ebene bewegt, ist wichtiger als eine Ansammlung von Bestem.
Das „rechte Maß“, das „harmonische Zusammenspiel“ rufen in mir kein Echo hervor, auch kein Widersprechendes. Nur wenn ich zum Maßstab wechsle und das Gefühl, von dem Du schreibst, zur Beurteilung eines situationsgerechten Handelns oder eines Handelns in einer bestimmten Situation als Maßstab heranziehe, dann kann ich das Maß auf mich ansprechende Weise unterbringen. Aber das ist Wortspielerei und führt nicht weiter. Ich denke mir, daß dem Gefühl des „richtig“ und „gut“, an dem man sich orientiert, wahrscheinlich schon Vergleiche, Abwägungen, das „in Bezug setzen“ einzelner Komponenten zugrunde liegen, die wir nur gar nicht bewusst wahrnehmen; sie gehen dem „Erleben“ voraus und fließen in das Gefühl mit ein.
Hier kommt dann auch die Bescheidenheit ins Spiel, im Sinne von sich bescheiden, es genug sein lassen. Ein Punkt, den ich übrigens oft ziemlich schwierig finde: Wann ist etwas genug? Wann sollte ich aufhören? (Mit dem Chipsessen, dem Computerspielen, den Selbstvorwürfen, der Selbstisolation, dem Faulsein ...)
In dem Moment, in dem sich „etwas nicht mehr richtig anfühlt“? In dem Moment, in dem die Frage auftaucht „ist es jetzt nicht genug“? Das ist scherzhaft, aber ernsthaft finde ich den Anspruch unbescheiden, :-))) den jeweils richtigen Zeitpunkt des „sich bescheidens mit“ erkennen zu wollen. Wahrscheinlich geht man meistens einen Schritt über die Grenze hinweg; im Gefühl erlebt man es vielleicht als Überdruß, Langeweile oder Unruhe, die anzeigen, daß man „genug“ hat.
[...] Ich glaube, es hilft mir. Vor allem der Gedanke der Demut, um auf diesen Ausgangspunkt zurückzukommen, rückt für mich die Welt, meine Welt in eine Ordnung, die mich in schlechten Zeiten vor der Verzweiflung bewahrt und in guten Zeiten zur Ruhe finden lässt. Demut bedeutet für mich (unter anderem): Ich kämpfe nicht gegenan, sondern akzeptiere, bin gleichzeitig aber auch nicht ohnmächtig, sondern frei und handlungsfähig.
Ich habe mich gar nicht lange besinnen müssen, um darauf zu kommen, was es ist, das mich durch mein Leben trägt und mich vor der Verzweiflung schützt: Es ist die Hoffnung. Wenn ich heute nicht weiß, was ich tun kann, wie ich den Tag aushalten soll, dann kann es aber sein, daß ich morgen weiß, was ich tun will und daß ich den Tag morgen heller erlebe. Die Hoffnung kann sich auf konkrete Umstände, Handlungen, Gefühle beziehen, manchmal richtet sie sich aber auch auf ein diffuses „besser“ und ebenso ist es mit der zeitlichen Dimension. Gelegentlich geht sie auf den nächsten Tag und öfter auch bezieht sie sich auf eine nahe oder fernere Zukunft. Wenn ich sage, daß ich mich nicht lange habe besinnen müssen, dann meine ich damit nicht, ich hätte die Frage schon viele Male beantwortet. Ganz im Gegenteil! Aber jetzt, da ich mich aufgrund Deiner (Selbst-)Betrachtungen gefragt habe, wusste ich die Antwort unvermittelt, mit intuitiver Gewissheit.
F.
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