Brief 53 | Die Kraft der Worte

Liebe B.,

Wißbegier

Genau das war mein Gedanke, als ich am ersten Todestag mit meinen Töchtern am Grab meines Mannes stand. Ich fühlte mich geradezu verdammt dazu, nun den – statistisch gesehen noch recht großen – Rest meines Lebens allein bleiben zu müssen. Meine jüngere Tochter muss das gespürt haben, denn sie sagte überraschenderweise: „Ich weiß, es ist dafür noch viel zu früh, aber wenn du doch wieder jemanden kennenlernen solltest, sollst du wissen, dass das für mich völlig in Ordnung ist.“ Und meine andere Tochter stimmte ihr zu.

Wenn ich mir die Situation aus umgekehrter Perspektive denke, dann kann ich mir gar nicht vorstellen, ich würde am ersten Todestag auch nur die Möglichkeit einer neuen „Liebe“ zu erwähnen wagen, selbst unter Berücksichtigung des zu frühen Zeitpunktes. Ich würde eine solche Bemerkung für völlig „fehl am Platze“ halten. Das heißt, Deine Tochter muß ein sehr feines Gespür haben oder vielleicht stimmt es noch mehr, wenn ich denke, die Fäden zwischen Euch müssen sehr fein gesponnen sein. Denn Du warst ja nicht etwa brüskiert oder gekränkt, sondern Du hast Dich verstanden gefühlt.  

Ja, es war noch viel zu früh für diesen Gedanken, und auch jetzt noch ist er für mich „wie aus einer mir fernen Welt“. Aber nicht, weil mir inzwischen das Alleinsein so gut gefällt. (Im Gegenteil, ich stecke schon seit mehreren Wochen in einer Tiefphase und habe bis jetzt noch keinen Weg herausgefunden. Wenn ich in meinen letzten Briefen trotzdem Optimismus verbreitet habe, so war das mehr eine Erinnerung an einen schon einmal erlebten Zustand als Beschreibung der aktuellen Wirklichkeit. Da ich diesen Zustand (also den positiven) aber schon mal so lange und so intensiv erlebt habe, habe ich die Hoffnung, dass er sich früher oder später wieder einstellen wird.) Es ist mehr das Gefühl, dass in meinem Leben (noch) kein Platz für einen anderen Menschen ist. Da ist zwar einerseits eine große Leerstelle, andererseits nimmt diese Leerstelle viel Raum ein, sie ist sozusagen „gefüllt“, so widersinnig das klingt. (Wer es kennt: In Picknick am Wegesrand der Gebrüder Strugatzki gibt es leere und volle Nullen. Dies wäre also eine volle Null.)

Liebe B., würdest Du mir ein bisschen mehr über die „gefüllte Leerstelle“ erzählen? Konkretisiert Du sie an einem Beispiel? (Ich kenne weder ein Buch von den Strugatzkis noch eine Verfilmung; den Namen habe ich eben googeln müssen). Ich lese „die Leerstelle, die einen großen Raum einnimmt“ und bin von diesem Gedanken unmittelbar, ohne jede Überlegung, fasziniert. Vermutlich rühren mein „Anspringen“ und meine Wißbegier daher, daß ich die Ahnung habe, wenn ich den Gedanken verstünde, wäre mir dies eine Hilfe – mich und meine gegenwärtige Situation besser zu verstehen. Ich schreibe Dir die beiden Ideen, die ich dazu habe, obwohl ich glaube, daß sie nur annähernd erfassen, was Dir vorschwebt. Eine allgemeine Formulierung wäre die „Präsenz der Abwesenheit“, die sich konkretisiert zum Beispiel in dem Bild des Frühstückstisches zeigt, auf den ein zweiter Teller und eine zweite Tasse gestellt werden, die ungenutzt bleiben ... und auch nie mehr genutzt sein werden.  

Dass du so entschieden und klar – inklusive Widerborstigkeit – deinen Wunsch nach einer neuen Beziehung formulieren kannst, kommt mir wie ein Aufklaren vor. Ich weiß natürlich überhaupt nicht, ob das auch deinem Empfinden entspricht, es ist also komplett meine Interpretation. Aber ich stelle mir vor, dass du einerseits durch den Kontrast zu mir besser erkennst, was du selbst denkst, fühlst, wünschst, und du andererseits, unabhängig von unserem Gespräch, einfach durch den Verlauf der Zeit, eine Entwicklung durchgemacht hast, die lange Zeit unbemerkt verlief, aber jetzt offen zutage tritt.

Ich weiß nicht, ob es ein „Aufklaren“ oder ein Vernebeln ist. Ich versuche öfter, mich mir selber zu erklären, aber dabei verstricke ich mich nur immer mehr. Deswegen schreibe ich jetzt auch nichts Erklärendes, es hat keinen Sinn. In der vergangenen Woche bin ich dauernd hin- und hergewechselt zwischen einer lichteren Stimmung, in der ich glaube, mein Wunsch und Wille zum nicht Alleineleben hätten Realisierungsmacht. Jedesmal, wenn ich aus diesem kindlichen Traum erwache und erkenne, daß die Realität mein Alleineleben ist („verdammt dazu“, das ist sehr zutreffend von Dir formuliert), dann weine ich und bin sehr traurig. Aber schön ist es, daß ich es Dir erzählen kann.                

 

Relationen

Zum „außergewöhnlichen Schicksal“: Da ist zum ersten der mehr vordergründige Aspekt, dass es in meinem Umfeld tatsächlich außergewöhnlich ist; ich kenne kaum jemanden, der den Partner oder die Partnerin verloren hat. Da du dein früheres Verhalten anderen Verwitweten gegenüber beschreiben kannst, ist das bei dir anders?

Im beruflichen Umfeld hatte ich häufiger Kontakt zu Frauen, die ihren Mann verloren hatten. Daher weiß ich, wie ich –innen- reagiert und mich äußerlich verhalten habe. Gemieden habe ich diese Frauen, aus dem Weg gegangen bin ich ihnen. Was besonders in den Fällen, in denen ich vorher das Gespräch gesucht habe, einfach nur ein „unmögliches“ Verhalten ist.      

Nun war ich also selbst in diese Sphäre gekommen, und auch wenn sich darin gar nichts so sehr Geheimnisvolles abspielt, so empfinde ich sie doch als etwas Herausgehobenes. Das Leben darin ist auch jetzt noch, nach zwei Jahren, nicht normal, nicht alltäglich für mich. Ich empfinde das Leben darin und ich empfinde auch mich selbst dabei als etwas Besonderes. Vielleicht kommt daher der etwas morbide Stolz?

Ich würd’s gerne etwas anders konturieren. Du würdigst Dich und Deine Situation angemessen ... „würdigen“ ist vielleicht ein zu großes Wort (damit wäre ich wieder in der anderen „Sphäre“ gelandet): anerkennst ist schlichter.  

[...] Ich bin dann irgendwann auf den Gedanken gekommen, dass wir trotz dieses relativ frühen Todes eine sehr lange Zeit zusammen gewesen sind, über 40 Jahre. Und dieses Verhältnis von relativ frühem Tod zu langem Zusammensein ist für mich viel entscheidender als der Vergleich mit anderen Paaren.

Ich kenne 2 Frauen und 2 Männer, von denen ich weiß, daß sie in ihrem ganzen bisherigen Leben (alle sind in unserem Alter) keine feste Paar-Beziehung hatten. Diese 4 Menschen haben aus meiner Sicht ihr Leben beruflich und beziehungsmäßig toll gestaltet. In der vergangenen Woche habe ich mir überlegt, daß ich dennoch keinen von den Vieren danach fragen würde, wie es ihnen mit dem dauerhaften Alleinleben ergangen ist und ergeht. Ich hätte das Gefühl, in eine offene Wunde zu stechen. Das kann aussschließlich meine Projektion sein, es kann genauso gut Sensibilität sein. Die Botschaft, die ich aus dieser Überlegung ziehe, ist für mich selber die, daß ich mein bisheriges Leben und das Gute, das mir widerfahren ist, nicht achtlos zertrampeln sollte. Oder anders gesagt, mit diesem Vergleich bezähme ich meine derzeit ausgeprägte Schwarzmalerei.              

Nachtrag: Heute las ich das Wort „Kinderhospiz“. Das macht alle meine Überlegungen hinfällig. Mein Mann wurde 68 Jahre alt, wir waren mehr als 40 Jahre zusammen. Alles ist gut.

„Alles ist gut“ verfehlt bei mir seine Wirkung nie. Die drei Worte heilen meine unfrohe Seele -mein Gott, welch ein Pathos!- Meine ganze Verwirrung, die Traurigkeit, die Unzufriedenheit, die Maßlosigkeit, das Nicht-Wissen, sie sind hineingenommen und werden befriedet.

F.

 

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