Liebe B.,
Widerborstig
Ich habe nachgeguckt, was ich damals geschrieben habe, und der Satz lautete wörtlich so: „Ach, herrlich, dies ist jetzt mein Leben!“ Dieses „mein“ ist zwar nur ein kleiner, aber in meinen Augen entscheidender Unterschied. Nein, dieses Leben ist nicht immer schön oder herrlich. Aber ich genieße es tatsächlich oft, dass ich jetzt mein Leben führe. Ich habe meinen Mann ja sehr früh kennengelernt, damals war ich erst 19, und ich bin dankbar sowohl für die mehr als 40 gemeinsamen Jahre als auch für die Gelegenheit, jetzt auch noch das Alleinleben kennenlernen zu dürfen. Auch wenn das an manchen Tagen schwerer fällt, aber das gehört mit zu dieser Erfahrung.
Jetzt befinde ich mich also im Zustand der alleinlebenden Einzelgängerin, und ich beginne zu begreifen, warum mir das, nach der schwierigen Anfangszeit, so überraschend leichtfällt: weil es gar keine so große Umstellung ist, sondern meinem Wesen entspricht. Das empfinde ich an meiner Situation als das eigentlich „Herrliche“: dass ich, auf mich allein gestellt, das Wesentliche in mir kennenlerne.
[...] „die Gelegenheit, jetzt auch noch das Alleinleben kennenlernen zu dürfen“ und „das Wesentliche in mir kennenlerne“.
Inzwischen glaube ich Dich so gut zu kennen, daß Du es wirklich ernst meinst. Im „Kennenlernen“ schwingt ja auch die Neugier mit, von der Du schon öfter in Verbindung mit möglichen, in Aussicht stehenden Erfahrungen Deiner selbst gesprochen hast. In meiner gegenwärtigen Stimmung klingen diese Sätze wie aus einer mir fernen Welt. Wider Willen bin ich ins Alleinleben hineingestoßen worden und nur aus der Not heraus habe ich ge-lernt, mich in dieser Situation zurechtzufinden. „Not“ bedeutet zum einen, überhaupt alleine überleben zu können und zum anderen aber auch, nicht unglücklich! zu überleben. Oja, es hat schon viele glückliche und freudige Stunden und Momente gegeben, und manche Woche ist auch einigermaßen friedvoll dahingeflossen, aber wenn ich die Tage des Unglücklichseins dagegen aufrechne, dann wiegen sie schwer auf der Waagschale. Insgesamt, so würde ich es ausdrücken, habe ich das Alleineleben nicht „angenommen“ als mein Leben.
Falls ich schon einmal anderes, weniger aufbegehrend resümiert habe, liebe B., dann halte es mir gerne entgegen. Mir fällt allerdings auf und das finde ich beachtenswert, daß ich mein Aufbegehren in Opposition zu Deinem Einverständnis zu entwickeln scheine. Es scheint mir zumindest auf diese Weise miteinander verknüpft, d.h. Deine positive Sichtweise spült meinen Widerstand, die versammelte Negativität und Ablehnung des Single-Daseins hoch.
Ich würde gerne wieder mit einem Mann zusammenleben, in einer „festen Zweierbeziehung“, wie man es früher nannte (ich weiß nicht, ob man heutzutage auch noch so sagt), dieser Wunsch dauert nun schon immerhin einige Monate an und ist vorher noch niemals aufgetaucht. Das Lieben und Geliebtwerden vermisse ich. In der Vorstellung, bis zum Ende meines Lebens, vielleicht noch 20-30 Jahre alleine weiterleben zu müssen, entdecke ich nichts Schönes. Wenn ich meinen Mann übrigens gelegentlich dazu befragt habe, war er –wider mein Erwarten- nicht hocherfreut, sondern eher ablehnend. Gesprochen hat er gar nichts, es waren sein Blick und seine Haltung. „Verrat“ denke ich – aber da es ohnehin nicht in meiner Verfügung steht ...
Ja, sicher. (War das deine Vermutung?) Nicht mehr so häufig, nicht mehr so intensiv; vielleicht auch nicht mehr so sehr im Zusammenhang mit dem Tod meines Mannes, sondern eher grundsätzlich. Ich halte mich nicht für ein „geschlossenes System“, glaube nicht, dass ich ein für alle Mal gefestigt bin, nur weil ich mich momentan als ziemlich stabil empfinde. Das Wunder der Seele – was geht da im Verborgenen vor sich? Aber mein Vertrauen in mich selbst ist in den letzten zwei Jahren doch ziemlich gewachsen.
Nein, ich hatte vermutet, die Befürchtung, Du würdest das Grundvertrauen in Deine Kraft verlieren, es habe sich zwischenzeitlich in „Luft aufgelöst“. Allerdings bezog sich meine Vermutung ausschließlich auf den Tod Deines Mannes. Und wie Du selbst ja sagst, verblasst dieser Zusammenhang zunehmend.
Normalität
Anfangs tat es mir gut, wenn die Leute „Bescheid“ wussten, sich vielleicht sogar trauten mich darauf anzusprechen. Ich wollte diesen Tod nicht als ein tabuisiertes Gewicht mit mir herumtragen, ich wollte, dass der Umgang mit mir so normal wie möglich war, für beide Seiten, ohne Angst, an etwas „Verbotenes“, zu Schmerzhaftes, Unkontrolliertes zu rühren. Ich signalisierte, dass man mit mir darüber sprechen konnte, und gab (meistens) bereitwillig Auskunft über die Todesumstände und meine Gefühle. Das führte zu einer doppelten Entlastung: Ich lernte darüber zu sprechen und die anderen lernten, dass man mit mir weiterhin ganz normal umgehen konnte.
„Normal“ ist, glaube ich, das beste Wort. Oder noch besser: „Selbstverständlich“. Nicht wie eine „Kranke“ möchte man behandelt werden und trotzdem so, daß man spürt, die Anderen wissen um das Durcheinander der Seele, also so, daß man weiß, die Größe des Ereignisses wird gewürdigt. Wenn ich an mein Verhalten Frauen gegenüber, die ihren Mann verloren hatten, denke, dann ... entschuldige den Ausdruck, war es grottig. Und noch schlimmer, es war mir bewusst. Aber ich wollte mit dem Tod und dem Leiden der Weiterlebenden nichts zu tun haben. Übrigens hat sich das geändert, seit ich selber nun meinen Mann verloren habe. Da es mir geschehen ist, brauche ich die Konfrontation nicht mehr zu vermeiden, d.h. genauer gesagt erlebe ich es gar nicht mehr als Konfrontation. Jetzt kann ich mich „normal“ und „selbstverständlich“ gegenüber anderen Witwen verhalten.
[...] … Ich merke das besonders an meiner Reaktion auf die Frage „Wie geht es dir?“ Anfangs war das leicht zu beantworten, die Frage bezog sich immer auf meine „Tagesform“ im Verhältnis zum Todesereignis, und da ging es mir an manchen Tagen besser und an manchen schlechter. Wenn ich jetzt gefragt werde, so denke ich kurz darüber nach, was gemeint ist bzw. auf welchen Aspekt ich antworten möchte: Wie geht es mir im Hinblick auf den Tod meines Mannes, wie komme ich inzwischen zurecht? – oder: Wie geht es mir heute, einfach so als Person? Um den ersten Aspekt zu beantworten, müsste ich inzwischen viel weiter ausholen, das würde ziemlich kompliziert, deshalb beschränke ich mich meistens auf den zweiten.
Ja, ich setze es zeitlich zwar später an als Du, aber nicht viel. Das heißt, nach ungefähr 2 1/2 Jahren habe ich die Frage „wie geht es dir“ schon gar nicht mehr in Hinsicht auf den Tod meines Mannes verstanden, sondern nur noch in Hinsicht auf mein Alleineleben. Hm, das ist doch ein wenig anders als Du es erzählst. Der erste Aspekt spielte für mich selbst nur noch eine Nebenrolle. Dafür, „wie es mir ging“, war das Zurechtfinden im Alleineleben entscheidend. Der Tod meines Mannes war nur noch insofern wichtig, als er der Grund für mein Alleineleben war.
Dass ich mein Witwendasein nicht „zur Schau stellen“ möchte, hat auch damit etwas zu tun, dass mir mein eigenartiges Gefühl des Stolzes („Seht her, mir ist ein außergewöhnliches Schicksal widerfahren!“) inzwischen etwas peinlich ist. Das Zurschaustellen hat für mich ja nicht nur den Aspekt, dass ich einen Makel, einen Mangel, etwas Trostloses o.ä. Negatives präsentiere (die Stigmatisierung), sondern auch den, dass ich mich damit wichtigtue.
Ja! So geht mir das auch. Und ich trage meinen doppelten Ehering mit sehr viel Stolz und Freude und Liebe (merkwürdiges Konglomerat – aber doch, es stimmt). Ein aufmerksamer Beobachter sieht und versteht ihn – und bei einem aufmerksamen Menschen wäre mir dieses Erkennen recht. Bisher haben mich allerdings erst zwei Menschen darauf angesprochen, und beides waren Witwen (davon eine du).
Der „Stolz“, den Du zweimal anführst, zuerst in Verbindung mit Deinem „außergewöhnlichen Schicksal“, der interessiert mich. Du meinst nicht nur den relativ frühen Tod Deines Mannes, sondern auch die lange Ehezeit zuvor, die den zeitlich größten Teil Deiner bisherigen Lebenszeit ausgemacht hat? Wenn ich es näher bedenke, zielt meine Frage auf das „außergewöhnliche Schicksal“. Es interessiert mich, weil ich in der letzten Zeit öfter über mein Alter nachgesonnen habe. Ab wann eigentlich ist man eine „ältere Witwe“ (im Zusammenhang mit der Trauerkleidung hattest Du den Ausdruck gebraucht)? Und ab wann ist es „normal“, daß einer der Eheleute stirbt? Ist es überhaupt zu irgendeinem Zeitpunkt „normal“? Das Alter ist so relativ. Mein Mann ist 67 Jahre alt geworden. Er hätte auch gerne noch 20 Jahre leben können, andererseits ist 67 nicht mehr in der Mitte des Lebens. Und wie ist es für uns, 30 oder 40 Jahre Zusammenleben, das ist eine lange Zeit, aber es sind weniger als 50 Jahre. Um den Faden wieder aufzunehmen, den ich verloren habe – ist es ein Schicksalsschlag, d.h. „außergewöhnlich“*, wenn die Ehepartner mit Ende 60 sterben und die Witwen Anfang 60 sind? Oder ist es nicht schon eher „normal“? Ich bin so unentschieden, weiß nicht wieso und auch nicht, warum ich die Frage für mich gerne geklärt hätte. Der Tod mit 67 Jahren (mein Alter jetzt) ist nicht „unnormal“ und zugleich viel zu früh, zu früh ...
*Beim abschließenden Lesen meines Briefes fällt mir jetzt ein, daß Du mit dem „außergewöhnlichen Schicksal“ wahrscheinlich an die „Allgemeinheit und Einzigartigkeit“ des Todes anknüpfst. Überall auf der Welt sterben zu jedem Moment Menschen und für diejenigen, denen der liebste Mensch stirbt, ist es, als stürze die Welt ein. „Außergewöhnlich“ wäre lediglich ein anderer Ausdruck für mein Schicksal? Dies in Anlehnung an mein ("herrliches") Leben.
F.
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