Brief 47 | Selbstwirksamkeit

Liebe B.,

Der Konjunktiv (als Grammatik für ein Lebensgefühl, gefällt mir so gut, daß ich ihn übernehme).

So recht kann ich das nicht nachvollziehen (was wohl auch daran liegt, dass ich dieses unablässige Balancieren auf dem Seil nicht wirklich nachempfinden kann). Wenn du auf dem Seil stehenbleibst, um zu reflektieren, ist das dann nicht meiner Distanz ähnlich? Du balancierst und reflektierst gleichzeitig – ja, aber worüber eigentlich? Nicht über deine aktuelle Situation, das Gleichgewichthalten, schreibst du. Sondern? (Falls du das überhaupt präzisieren kannst und es dir nicht entgleitet, je mehr du darüber nachdenkst … Ich will aber auch gar nicht auf einer Antwort insistieren, weil ich nicht weiß, wie wichtig dieser Aspekt ist.) 

Und ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, wie Du an dieser Stelle darauf kommst, es scheint mir wie ein –im wörtlichen Sinne- Wunder, aber Du hast völlig recht, sobald ich versuche, die Seil-Situation gedanklich zu konkretisieren, rutschen mir die Gedanken in dem Moment, in dem ich sie festhalten will, weg. Ich bin verblüfft über Deine ... „Hellsichtigkeit“ :-))).

... bereiten dir leichtes Unbehagen, ich dagegen musste beim Lesen lachen. :-))) Muß das so sein? […] und ja, warum laufe ich nicht besser gleich auf dem sicheren Boden ...?“ Ja, die Frage stellt sich natürlich! Allerdings kann ich mir vorstellen, dass es nicht unbedingt in deiner Macht liegt, dieses Gefühl des Seillaufens einfach sein zu lassen, da es sich doch um ein Lebensgefühl handelt, also um etwas ziemlich tief Verwurzeltes.

O, das ist „in Arbeit“. Mehr als eine bewusste Übung ist es bisher nicht, aber ich probiere mir zu vergegenwärtigen, zu imaginieren, wie ich vom wackeligen Seil runtertrete auf den sicheren Boden. Wie es wohl nicht anders zu erwarten war, fühle ich mich unten auf dem sicheren Boden ganz schnell haltloser als oben auf dem Seil. „Leere“ ist ein gutes Wort für meine Empfindung. Das ist natürlich aufschlussreich, weil es zeigt, daß man sich in einer kippeligen Erlebenswelt, in der man sich auskennt („tief verwurzelt“), zugleich sicher fühlen kann, während die unangespannte und unangestrengte Situation mich zunächst einmal verunsichert.      

Das ist eine schöne Beschreibung von Selbstwirksamkeitserwartung, ein Begriff aus der Psychologie, den ich erst seit kurzem kenne. Ja, du hast recht, ich habe nur ganz selten und wenn, dann in konkreten Situationen, Angst gehabt, mein Mann könne sterben. Das hat aber wohl auch etwas damit zu tun, dass ich mich fast nie mit der Zukunft beschäftige, also einer unbestimmten Zukunft. Welchen Zug ich nächste Woche nehmen werde, plane ich durchaus; aber wenn es z.B. nicht schon regnet, wenn ich aus der Tür trete, habe ich so gut wie nie einen Schirm dabei, im Gegensatz zu einer Kollegin, die ihren Knirps immer in der Tasche hat – es könnte ja regnen … Der Konjunktiv kommt in meiner Welt so gut wie nicht vor.

Ich halte es genau so wie Deine Kollegin und bin von Deinem Einfall beeindruckt, eine höchst banale Alltagssituation zur Demonstration einer Lebenshaltung heranzuziehen. ☔ Aber viel wichtiger: Deine Selbst-Aussage finde ich so prägnant formuliert, daß ich sie markiert habe. Ich habe es bisher immer für einigermaßen „normal“ gehalten, daß man von Gedanken an Krankheiten, an Verluste von Menschen und Dingen, die einem möglicherweise widerfahren könnten, behelligt wird (warum eigentlich nicht von Gedanken an freudige, angenehme Ereignisse, die möglicherweise eintreten könnten). Bist Du die Ausnahmeerscheinung oder ich? Übrigens müsste sich der fehlende Konjunktiv eigentlich auch in Hinsicht auf Dich selbst zeigen. Weniger ein „ich könnte dies und das tun" als vielmehr ein „ich tue dies und das“ (oder auch nicht, denn nichts tun ist ebenso eine Form des Handelns).      

Ob mein Vertrauen in meine eigene Kraft aber wirklich so groß ist, wie du vermutest, weiß ich gar nicht. Bis zum Tod meines Mannes war ich mir nicht so sicher, ob ich einen solchen Schicksalsschlag wirklich verkraften würde. Aber als Mitgestalterin der Umstände meines Lebens sehe ich mich unbedingt – du nicht? Ich frage etwas erstaunt, weil es sich bei dir so liest, als beschriebest du mich in einer Art Kontrast zu dir selbst, ich mir aber gar nicht vorstellen kann, wie man sich nicht als Mitgestalterin des eigenen Lebens empfinden kann. Aber vielleicht habe ich dich da auch missverstanden.

Die Kontrastierung bezog sich ausschließlich auf das „Konjunktivische“ der Gedanken, denn ich verstehe mich als Mitgestalterin meines Lebens. Der Kontrast dazu wäre ja die Opferrolle. Und nein, ganz und gar nicht sehe ich mich als Opfer der Umstände oder anderer Menschen. Aber die Wirkung Deiner dezidierten Nachfrage finde ich schon erhellend. Wie im Zeitraffer blicke ich zurück auf die vergangenen 36 Jahre (meine Ehe und anschließend ohne meinen Mann) und stelle fest, daß und wie viel ich mitgestaltet, worauf ich Einfluß genommen habe. Die Frage ist vielleicht eher die, wie man sich selbst wahrnimmt? Mir wird nämlich deutlich, daß ich den Teil des Einflußnehmens, das Initiativwerden, die aktive Gestaltung (zur passiven Gestaltung fällt mir im Augenblick nur die Depression, d.h. die Verweigerung ein, möglicherweise gibt es da aber doch auch positive Aspekte) bisher nicht genug gesehen habe. Um einen Punkt aus der gleich folgenden „Selbstwirksamkeitserwartung“ vorwegzunehmen, nur um der aparten Formulierung willen: Die „Illusion der Nicht-Mitgestaltung“ hatte sich bei mir in den Vordergrund gedrängt.  

Zu den „Selbstwirksamkeitserwartungen“ habe ich eine Seite der Uni Wien  gefunden und zitiere Dir daraus diese Passage:

Folgende Aussagen charakterisieren das Konzept (sie enthalten immer einen Bezug zum Selbst):

  • „Schwierigkeiten sehe ich gelassen entgegen, da ich immer auf meine eigenen Fähigkeiten vertrauen kann."
  • „Wenn ein Problem auftaucht, kann ich es aus eigener Kraft meistern.“
  • „Auch bei überraschenden Ereignissen glaube ich, dass ich gut damit zurechtkommen kann."

Es gibt viele Erläuterungen zur „Selbstwirksamkeit“, bei denen ich hin- und her gegrübelt habe, aber die obigen Selbstaussagen sind einigermaßen klar, finde ich, weil man sie fast ebenso klar beantworten kann. Aussage 1: „Gelassen“? Nein. Aussage 2: Bei sehr vielen Problemen „ja“ (aus eigener Kraft schließt für mich ein, mir fremde Hilfe zu holen). Aussage 3: „Gut“ zurechtkommen „nein“; zurechtkommen „ja“. Aber man müsste eigentlich näher erläutern oder festlegen, was mit „Ereignis“, „Problem“, „Schwierigkeit“ gemeint ist. Extremsituationen wie ich bekomme eine Todesdiagnose, mir wird die Wohnung gekündigt, mir wichtige Menschen sterben, habe ich bei meinen Antworten nicht berücksichtigt.      

 

Das Ineins der Gegensätze

In der Tat bemerkenswert. Oder vielleicht auch nicht? Du schriebst ja gelegentlich, dass du dich meistens in abwertender Weise mit anderen vergleichst, weil du das Gefühl hast, in irgendeiner Hinsicht nicht richtig oder nicht gut genug zu sein. Hier aber, beim Umgang mit dem Sterben deines Mannes, gab es kein Richtig oder Falsch, nur diese absolute Einmaligkeit? Die du, wie du schreibst, als „selbstverständlich genommen hast“ – das kommt mir gerade wie ein bemerkenswertes Beispiel für radikale Akzeptanz vor. Würdest du das auch so bezeichnen?

Ja! Und weiter fällt mir jetzt das erste Mal die Gleichzeitigkeit auf, daß ich im ersten Jahr nach dem Tod meines Mannes (davon hatte ich Dir erzählt) auch mich selbst nicht mit anderen Menschen verglichen habe. So, als habe das Ereignis des Todes mich immun gemacht gegen die Selbstentwertungstendenz.  

Ich hingegen habe mich nicht nur mit dir verglichen, sondern schon ziemlich früh mit allen, die ihren Mann, ihre Frau verloren haben. Obwohl es weniger ein Vergleichen war, sondern mehr ein Relativieren. Es war am Anfang so unglaublich schmerzhaft, und da hat mich der Gedanke an all die anderen, die das auch schon erlebt und überlebt haben, sehr getröstet. Ich war nicht die Einzige, der dieses Schicksal widerfuhr, ich fühlte mich aufgehoben in dieser Gemeinschaft, in dem Gedanken: „So viele Millionen Menschen haben das geschafft, warum sollte ich es dann nicht auch schaffen?“ Was mir widerfuhr, brach in mein Leben zwar als etwas völlig Unerwartetes, Einmaliges ein, aber es war im Grunde „nichts Besonderes“*, es geschieht zu jedem Augenblick auf der Erde gerade tausende Male.

*Erst bei nochmaligem Lesen ist mir gerade die Parallele aufgegangen zu dem verbreiteten Spruch, dass Zen „nichts Besonderes“ sei. Und in beiden Fällen ist das sowohl eine starke Untertreibung als auch die tiefe Wahrheit.

Falls es –noch- nicht der richtige Zeitpunkt ist, dann übersieh meine Frage, aber mich interessiert, was Dein „ich schaffe es vielleicht nicht“ bedeutet. Du hattest einmal in einem Brief auf meine Frage hin gesagt, „daß meine Seele Schaden nehmen könnte“, aber diese Antwort ist ähnlich unkonkret. Anknüpfend an das Obige vermute ich nun, „ich schaffe es nicht“ hätte bedeutet, daß Dich der Schmerz und die Bilder für immer quälen? In gleichbleibender Intensität und gleichbleibender zeitlicher Frequenz.

„Nichts Besonderes“ – ja, der Tod ist allgemein und zugleich einzigartig. Die Aufgehobenheit in der Gemeinschaft, das habe ich, wie mir jetzt wieder einfällt, auf dem Friedhof erlebt. Die Gemeinschaft der Trauernden und der Toten, und dort, auf dem Friedhof, das ist ein faszinierender Gedanke, eine „tiefe Wahrheit“, Danke!, hat das Nicht-Besondere die Einzigartigkeit meiner Erfahrung, meines Leids nicht geringer gemacht. Das heißt, das Allgemeine und zugleich Einzigartige habe ich als Verbundenes, wie ein Zusammenfallen der -scheinbaren- Gegensätze erlebt. In der normalen Welt ist es mir oft auseinandergefallen. Das Einzigartige, das ich erlebt hatte und erlebte, schien unerheblich angesichts der Allgemeinheit des Todes.                  

F.

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.