Liebe F.,
Der Konjunktiv
Auf dem Seil bleibe ich ja auch öfter stehen um zu reflektieren. Zuerst habe ich diesen Satz in rechtfertigender Absicht geschrieben, bis mir später einfiel, daß aufschlussreicher ist, den Unterschied zu beachten. Meine gedankliche Auseinandersetzung auf dem Seil nehme ich so wahr, als liefe sie nebenher, eine ganz eigene Tätigkeit, die mit dem Gleichgewicht halten gar nichts zu tun hat. Das heißt, ich empfinde sie nicht als Teil meines Lebensgefühles, wie Du es tust.
So recht kann ich das nicht nachvollziehen (was wohl auch daran liegt, dass ich dieses unablässige Balancieren auf dem Seil nicht wirklich nachempfinden kann). Wenn du auf dem Seil stehenbleibst, um zu reflektieren, ist das dann nicht meiner Distanz ähnlich? Du balancierst und reflektierst gleichzeitig – ja, aber worüber eigentlich? Nicht über deine aktuelle Situation, das Gleichgewichthalten, schreibst du. Sondern? (Falls du das überhaupt präzisieren kannst und es dir nicht entgleitet, je mehr du darüber nachdenkst … Ich will aber auch gar nicht auf einer Antwort insistieren, weil ich nicht weiß, wie wichtig dieser Aspekt ist.)
Deine folgenden Überlegungen …
Daß ich dieses Bild für mich gefunden habe, finde ich schön, weil es wie ein Spiegel ist, den ich mir selber vorhalten kann. Die „Spiegelung“ übernehme ich gerne von Dir, weil ich sie als überaus zutreffend empfinde. Allerdings ist mir durch das Bild (und den Vergleich mit der "Zuschauerin") auch erst richtig bewusst geworden, wie unangenehm anstrengend ein solches Leben ist. Gehört es zu meinen Wesenszügen? Muß das so sein? Ich überlege, ob ich mich während meiner Ehe ebenso gefühlt habe - ja und nein, das Seil spannte sich deutlich tiefer über dem Boden, und außerdem bin ich auch nicht so unablässig auf ihm gelaufen. Ich war also weniger angespannt und vor allen Dingen konnte ich mich öfter ent-spannen. Wer hält mich jetzt fest, falls ich das Gleichgewicht verliere und ja, warum laufe ich nicht besser gleich auf dem sicheren Boden ...? Mir macht die Unkonkretheit ein leichtes Unbehagen, aber ich lasse es so -
… bereiten dir leichtes Unbehagen, ich dagegen musste beim Lesen lachen. :-))) „Muß das so sein? […] und ja, warum laufe ich nicht besser gleich auf dem sicheren Boden ...?“ Ja, die Frage stellt sich natürlich! 😊 Allerdings kann ich mir vorstellen, dass es nicht unbedingt in deiner Macht liegt, dieses Gefühl des Seillaufens einfach sein zu lassen, da es sich doch um ein Lebensgefühl handelt, also um etwas ziemlich tief Verwurzeltes.
Dazu ein Beispiel: Während meiner Ehe hatte ich öfter eine starke Angst, mein Mann könnte sterben, eine Verlustangst, die aber in nichts Konkretem begründet war – außer in der Möglichkeit, er könne sterben, so wie jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt sterben kann. Ich spekuliere nun, daß Du natürlich auch ab und zu Angst hattest, Deinen Mann zu verlieren, aber eher situationsbedingt (wenn er krank war vielleicht, wenn Ihr Euch gestritten habt), aber doch nicht so, daß diese Angst Dein Leben immer wieder überschattet hat. Ich kann mir diesen Unterschied, den ich jetzt voraussetze ohne es genau zu wissen, nur so erklären, daß Du ein größeres Vertrauen in Deine eigene Kraft hast. Unerwünschtes wird „passend gemacht“, was ja nichts anderes heißt als daß Du Dich als Mitgestalterin siehst. Das Vertrauen in Deine Kraft, finde ich, zeigt sich oder steht im Hintergrund all Deiner oben genannten Lösungswege für die Unwägbarkeiten des Lebens. Hinter der „ganzen Unbestimmtheit“ steht kein bestimmtes, aber ein sicheres Vertrauen in Deine Kraft. Das ist meine Deutung.
Das ist eine schöne Beschreibung von Selbstwirksamkeitserwartung, ein Begriff aus der Psychologie, den ich erst seit kurzem kenne. Ja, du hast recht, ich habe nur ganz selten und wenn, dann in konkreten Situationen, Angst gehabt, mein Mann könne sterben. Das hat aber wohl auch etwas damit zu tun, dass ich mich fast nie mit der Zukunft beschäftige, also einer unbestimmten Zukunft. Welchen Zug ich nächste Woche nehmen werde, plane ich durchaus; aber wenn es z.B. nicht schon regnet, wenn ich aus der Tür trete, habe ich so gut wie nie einen Schirm dabei, im Gegensatz zu einer Kollegin, die ihren Knirps immer in der Tasche hat – es könnte ja regnen … Der Konjunktiv kommt in meiner Welt so gut wie nicht vor. 😊
Ob mein Vertrauen in meine eigene Kraft aber wirklich so groß ist, wie du vermutest, weiß ich gar nicht. Bis zum Tod meines Mannes war ich mir nicht so sicher, ob ich einen solchen Schicksalsschlag wirklich verkraften würde. Aber als Mitgestalterin der Umstände meines Lebens sehe ich mich unbedingt – du nicht? Ich frage etwas erstaunt, weil es sich bei dir so liest, als beschriebest du mich in einer Art Kontrast zu dir selbst, ich mir aber gar nicht vorstellen kann, wie man sich nicht als Mitgestalterin des eigenen Lebens empfinden kann. Aber vielleicht habe ich dich da auch missverstanden.
Hm, wenn ich nun weniger Vertrauen in meine Kraft habe, warum schweben mir dann Situationen vor die Augen (wie der mögliche Tod meines Mannes), von denen ich meine, sie würden meine Kraft überfordern? Es wäre ja ebenso gut möglich, sie würden mir nicht in den Sinn kommen. Du hast kürzlich in einer e-mail –sinngemäß- geschrieben, „warum soll ich mir Gedanken um etwas machen, das sowieso nicht in meiner Macht steht“. Was bestechend richtig ist! Wozu mache ich mir also ziemlich häufig Gedanken um etwas, das sowieso nicht in meiner Hand liegt? Auch diesen Abschnitt beschließe ich fragend -
Das kommt mir gar nicht so merkwürdig vor, sondern im Gegenteil psychologisch recht verständlich. Etwas holzschnittartig: Wer sich sicher fühlt, hat keine Angst; wer unsicher ist, ist auch ängstlich. (Ich setze dabei voraus, dass deine Gedanken eher ängstlicher Natur sind.)
„Nichts Besonderes“
Das ist bemerkenswert! Ich habe Deine und meine Situation nie miteinander verglichen, und ich habe meine Situation auch nie mit der Situation anderer Frauen oder Männer verglichen. Derart bemerkenswert, daß ich ein Ausrufezeichen dahinter plaziere, finde ich es deswegen, weil ich mich ansonsten ja ziemlich häufig mit anderen Menschen vergleiche.
In der Tat bemerkenswert. Oder vielleicht auch nicht? Du schriebst ja gelegentlich, dass du dich meistens in abwertender Weise mit anderen vergleichst, weil du das Gefühl hast, in irgendeiner Hinsicht nicht richtig oder nicht gut genug zu sein. Hier aber, beim Umgang mit dem Sterben deines Mannes, gab es kein Richtig oder Falsch, nur diese absolute Einmaligkeit? Die du, wie du schreibst, als „selbstverständlich genommen hast“ – das kommt mir gerade wie ein bemerkenswertes Beispiel für radikale Akzeptanz vor. Würdest du das auch so bezeichnen?
Ich hingegen habe mich nicht nur mit dir verglichen, sondern schon ziemlich früh mit allen, die ihren Mann, ihre Frau verloren haben. Obwohl es weniger ein Vergleichen war, sondern mehr ein Relativieren. Es war am Anfang so unglaublich schmerzhaft, und da hat mich der Gedanke an all die anderen, die das auch schon erlebt und überlebt haben, sehr getröstet. Ich war nicht die Einzige, der dieses Schicksal widerfuhr, ich fühlte mich aufgehoben in dieser Gemeinschaft, in dem Gedanken: „So viele Millionen Menschen haben das geschafft, warum sollte ich es dann nicht auch schaffen?“ Was mir widerfuhr, brach in mein Leben zwar als etwas völlig Unerwartetes, Einmaliges ein, aber es war im Grunde „nichts Besonderes“*, es geschieht zu jedem Augenblick auf der Erde gerade tausende Male.
Besonders während der letzten Monate hatte ich öfter den Anflug einer Ahnung, wie es sein könnte, von meinem Mann getrennt zu sein. Ich fühlte mich alleine und verlassen in dem Bewusstsein, daß er bereits einen anderen Weg geht als ich. Ich meine damit, den Weg in eine „andere Welt“ als ich, die ich weiterleben werde.
Ich weiß im Moment gar nichts dazu zu sagen, ich wollte es nur gern noch einmal zur Kenntnis nehmend wiederholen, weil ich, trotz der Kürze der Zeit bei uns, auch dieses Gefühl kennengelernt habe, dass ich meinen Mann, als feststand, dass er in den nächsten zwei oder drei Tagen sterben würde, plötzlich als sehr weit entfernt empfand. (Ui, was für ein verschachtelter Satz …)
B.
*Erst bei nochmaligem Lesen ist mir gerade die Parallele aufgegangen zu dem verbreiteten Spruch, dass Zen „nichts Besonderes“ sei. Und in beiden Fällen ist das sowohl eine starke Untertreibung als auch die tiefe Wahrheit.
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