Brief 45 | Vergleichende Betrachtungen

Liebe B.,

Lebensgefühl

Ich bin mir gar nicht mehr so sicher, ob dieses Bild eigentlich so besonders treffend für mich ist. Ich war ja sogar etwas überrascht, als es auftauchte, es war neu für mich. Passend an dem Bild ist das Moment der Distanz, die ich relativ häufig zu mir selbst einnehme. Nicht so passend ist die Passivität, die mitschwingt („… die Beine hochlegen …“ ). Denn wenn ich diese Distanz zu mir selbst einnehme, ist das in der Regel mit Gedankenarbeit verbunden – ich versuche etwas zu relativieren, mich aus dem Zentrum der Verstricktheit in irgendwelche Vorkommnisse zu lösen o.ä.

Auf dem Seil bleibe ich ja auch öfter stehen um zu reflektieren. Zuerst habe ich diesen Satz in rechtfertigender Absicht geschrieben, bis mir später einfiel, daß aufschlussreicher ist, den Unterschied zu beachten. Meine gedankliche Auseinandersetzung auf dem Seil nehme ich so wahr, als liefe sie nebenher, eine ganz eigene Tätigkeit, die mit dem Gleichgewicht halten gar nichts zu tun hat. Das heißt, ich empfinde sie nicht als Teil meines Lebensgefühles, wie Du es tust.

Das ist ein Lebensgefühl, in das ich mich lieber nicht hineinversetzen möchte. Das stelle ich mir unglaublich anstrengend vor. Ich kann mir auch gar nichts denken, was einen so permanent aus dem Gleichgewicht bringen könnte. Davor bewahrt mich wohl eine gewisse Dickfelligkeit oder Wurschtigkeit. Aber dein Bild der Seiltänzerin ist sehr einprägsam, ich kann mir zumindest diesen Zustand vorstellen.

Daß ich dieses Bild für mich gefunden habe, finde ich schön, weil es wie ein Spiegel ist, den ich mir selber vorhalten kann. Die „Spiegelung“ übernehme ich gerne von Dir, weil ich sie als überaus zutreffend empfinde. Allerdings ist mir durch das Bild (und den Vergleich mit der "Zuschauerin") auch erst richtig bewusst geworden, wie unangenehm anstrengend ein solches Leben ist. Gehört es zu meinen Wesenszügen? Muß das so sein? Ich überlege, ob ich mich während meiner Ehe ebenso gefühlt habe - ja und nein, das Seil spannte sich deutlich tiefer über dem Boden, und außerdem bin ich auch nicht so unablässig auf ihm gelaufen. Ich war also weniger angespannt und vor allen Dingen konnte ich mich öfter ent-spannen. Wer hält mich jetzt fest, falls ich das Gleichgewicht verliere und ja, warum laufe ich nicht besser gleich auf dem sicheren Boden ...? Mir macht die Unkonkretheit ein leichtes Unbehagen, aber ich lasse es so -                      

Wenn ich so drüber nachdenke, dann ist für mich wohl, mehr als die Distanz, die Einstellung bezeichnend „Es ist alles nicht so wichtig“. Das könnte ich tatsächlich als eine Art Lebensgefühl angeben. Das bedeutet nicht, dass ich alles geringschätze, sondern mehr, dass mein Vertrauen darein, dass sich (fast) alles schon irgendwie regelt, wenn nicht so, dann eben anders, sehr groß ist. Allein dadurch, dass das Leben weitergeht, muss sich ja irgendetwas ergeben. Und das muss keineswegs unbedingt so ausfallen, wie ich es plane oder mir wünsche (das ist es vorrangig, was mir nicht so wichtig ist). Irgendetwas wird sich ergeben, und es wird irgendwie schon gut sein oder im weiteren Verlauf halt passend gemacht. Und wenn’s nicht gut ist, sondern „schlimm“ – na gut, dann muss ich eben irgendwie mit dem Schlimmen zurechtkommen. Der größte und beste Trost ist dann für mich, dass es auf jeden Fall nicht ewig währen wird – zum Glück darf man irgendwann sterben und gut ist. (Komischerweise denke ich wieder, wie so oft an diesem Punkt: „Na ja, du hast gut reden, dir ist ja auch noch nie etwas wirklich Schlimmes passiert!“ Das heißt, mein ungebrochener Optimismus hat anscheinend selbst den Tod meines Mannes schon integriert.)

Dazu ein Beispiel: Während meiner Ehe hatte ich öfter eine starke Angst, mein Mann könnte sterben, eine Verlustangst, die aber in nichts Konkretem begründet war – außer in der Möglichkeit, er könne sterben, so wie jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt sterben kann. Ich spekuliere nun, daß Du natürlich auch ab und zu Angst hattest, Deinen Mann zu verlieren, aber eher situationsbedingt (wenn er krank war vielleicht, wenn Ihr Euch gestritten habt), aber doch nicht so, daß diese Angst Dein Leben immer wieder überschattet hat. Ich kann mir diesen Unterschied, den ich jetzt voraussetze ohne es genau zu wissen, nur so erklären, daß Du ein größeres Vertrauen in Deine eigene Kraft hast. Unerwünschtes wird „passend gemacht“, was ja nichts anderes heißt als daß Du Dich als Mitgestalterin siehst. Das Vertrauen in Deine Kraft, finde ich, zeigt sich oder steht im Hintergrund all Deiner oben genannten Lösungswege für die Unwägbarkeiten des Lebens. Hinter der „ganzen Unbestimmtheit“ steht kein bestimmtes, aber ein sicheres Vertrauen in Deine Kraft. Das ist meine Deutung. Hm, wenn ich nun weniger Vertrauen in meine Kraft habe, warum schweben mir dann Situationen vor die Augen (wie der mögliche Tod meines Mannes), von denen ich meine, sie würden meine Kraft überfordern? Es wäre ja ebenso gut möglich, sie würden mir nicht in den Sinn kommen. Du hast kürzlich in einer e-mail –sinngemäß- geschrieben, „warum soll ich mir Gedanken um etwas machen, das sowieso nicht in meiner Macht steht“. Was bestechend richtig ist! Wozu mache ich mir also ziemlich häufig Gedanken um etwas, das sowieso nicht in meiner Hand liegt? Auch diesen Abschnitt beschließe ich fragend -      

(Welche Wörter haben sich in diesem Absatz gehäuft? Irgendwann, irgendwie, irgendwas … normalerweise glätte ich so etwas anschließend, versuche Doppelungen auszumerzen etc. Aber wie schon in meinem letzten Brief die Häufung von „ganz“ sich als bedeutsam erwies, so auch hier die Häufung von irgend … genau diese Unbestimmtheit macht mir das Leben leichter.)

Das gefällt mir so gut, daß ich das schreiben möchte, auch wenn ich sonst weiter nichts dazu zu sagen habe :-))).

Du schriebst mal in einer E-Mail, dass Trauerarbeit Schwerstarbeit sei, und das hatte ich sofort nachempfinden können – ich fühlte mich damals krank, erschöpft, hatte viel abgenommen … Andererseits habe ich, als ich den eben zitierten Absatz las, sofort gedacht, dass ich gar nicht viel Kraft habe aufwenden müssen, um mich an dieses alltägliche Leben allein zu gewöhnen. Es ereignete sich einfach, fast ohne mein Zutun. – Ja, was denn nun?!

Ich werde hier mal meine neue „Taktik“, die ich erst durch unseren Briefwechsel und die intensiven Selbstreflexionen gewonnen habe, einsetzen und nicht versuchen, diese Gegensätze zur Übereinstimmung zu bringen, sondern ich lasse sie einfach so stehen: Es ist schwer und es ist leicht. Punkt.

Dein verbindendes und mit einem Punkt versehenes „und“ taste ich selbstverständlich :-))) nicht an, aber für mich würde ich sagen, war es leichter, als ich es mir vorher vorgestellt hatte, und mit der Kraft, meine ich, ist es ähnlich wie mit den Veränderungen – ich habe sie kaum bemerkt. Zumindest nicht ihr Ausmaß. Auch mein Körper hat mir später gezeigt, w i e  viel Kraftaufwand tatsächlich nötig war.      

 

Lichtblicke

Das Bild der Brücke fasziniert mich. Wenn wir gelegentlich – nicht oft – über die unterschiedlich langen „Vorlaufzeiten“ gesprochen haben (vermutlich habe ich mehr darüber nachgedacht, als dass wir darüber geschrieben haben), dann stellte ich es mir immer als ganz unerträglich schmerzhaft vor, sowohl für dich als auch für deinen Mann, ein ganzes Jahr lang mit dem Wissen leben zu müssen, dass er am Ende einer zwar ungewissen, aber absehbaren Zeit sterben würde. Und ich fragte mich, wie man das bloß aushält?! Und war, trotz aller Schrecklichkeit, froh über die kurze Zeit bei uns. Aber das ist wohl eine sehr ego-zentrische Sichtweise, in dem Sinne, dass man das Unbekannte mehr fürchtet als das, was man kennt. Bei dir war es halt auf diese Weise, und ihr seid damit notgedrungen umgegangen; bei mir war es auf eine andere Weise, und damit sind dann eben wir umgegangen. Beides hinterlässt Spuren, nur eben anderer Art. (Meine Vorstellung: Zermürbung (bei dir) gegen Schock (bei mir). Schwerstarbeit in beiden Fällen.)

Das ist bemerkenswert! Ich habe Deine und meine Situation nie miteinander verglichen, und ich habe meine Situation auch nie mit der Situation anderer Frauen oder Männer verglichen. Derart bemerkenswert, daß ich ein Ausrufezeichen dahinter plaziere, finde ich es deswegen, weil ich mich ansonsten ja ziemlich häufig mit anderen Menschen vergleiche. Aber die Situation mit meinem Mann habe ich von Anfang an als selbstverständlich genommen, so wie sie war. Darin ist wohl auch begründet, warum ich mich zu keiner Zeit in Deine Situation hineinversetzt hatte –7 Wochen-, und in meinem letzten Antwortbrief das allererste Mal Deine Perspektive eingenommen habe. Da bin ich mir, obgleich in anderer Hinsicht als Du, „selbstbezogen“ und unachtsam vorgekommen, weil ich zuvor nie versucht habe, Deine Erfahrung oder besser Dein Erleben nachzuvollziehen. Auf eine andere Art als Du bin ich „baff“ :-))) gewesen, weil ich auf einmal Deine Sicht begriffen habe.        

Nun schreibst du von einer Brücke, und zum ersten Mal kann ich dieser längeren Zeit etwas Positives abgewinnen. Ich weiß nicht, ob man sich während dieser Zeit wirklich an den Gedanken des Todes gewöhnt – bis zuletzt ist der geliebte Mensch ja noch da. Aber im Untergrund der Seele arbeitet da vielleicht schon etwas, was deine anschließende Situation dann so anders machte als meine (von unseren individuellen Unterschieden mal abgesehen). Seele und Zeit als unsichtbare, zarte Brückenbauer … nun ja, manchmal mag ich es sentimental. Wenn du deine Gedanken zu dieser Zeit „der Vorbereitung und des Aufschubs“ irgendwann mal sortiert hast, würde es mich sehr interessieren, mehr davon zu hören.

Ich habe versucht herauszufinden, wann der Zeitpunkt war, an dem ich gewiß war, mein Mann würde sterben, und mir wurde klar, daß ich keinen Zeitpunkt angeben kann, weil es lediglich die Zeitpunkte gibt, zu denen sich die Aufschubzeiten jeweils weiter verkürzten. Nicht mehr 3 Jahre vielleicht, sondern nur noch 1 Jahr, nicht mehr 1 Jahr, sondern nur noch Monate, dann nur noch Tage oder Wochen usf. Am Ende verdichtete sich der Alltag in der Krankheit, von einem Tag zum nächsten leben, nicht mehr darüber hinausdenken können. Ein bisschen wie ein Strudel, in den ich hineingezogen, von dem ich aber nicht mitgerissen wurde, weil das Ende s o, in dieser Form, erwartbar war. Besonders während der letzten Monate hatte ich öfter den Anflug einer Ahnung, wie es sein könnte, von meinem Mann getrennt zu sein. Ich fühlte mich alleine und verlassen in dem Bewusstsein, daß er bereits einen anderen Weg geht als ich. Ich meine damit, den Weg in eine „andere Welt“ als ich, die ich weiterleben werde. Diese Gedanken sind übrigens andere als die, von denen ich im letzten Brief schrieb. Die Entwicklung ist weiter gegangen und heute, wenn ich Dir schreibe, ist dies „wahr“ -und „wahrer“, als es die Gedanken von vor 2 Wochen sind.

Liebe B., ich hoffe, mein Brief enthält –entgegen meinem Eindruck- doch einige Gedanken, an die Du anknüpfen möchtest. 🧲

F.

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