Brief 44 | Spiegelungen

Liebe F.,

Lebensgefühl

Was ich wieder einmal, nicht zum ersten Mal, jammerschade finde, daß wir niemals für wenigstens eine kurze Zeit das Bewusstsein oder das Lebensgefühl eines anderen Menschen annehmen können. Wie es sich anfühlt, Zuschauerin des eigenen Lebens zu sein, das wüsste ich gerne.    

Ich bin mir gar nicht mehr so sicher, ob dieses Bild eigentlich so besonders treffend für mich ist. Ich war ja sogar etwas überrascht, als es auftauchte, es war neu für mich. Passend an dem Bild ist das Moment der Distanz, die ich relativ häufig zu mir selbst einnehme. Nicht so passend ist die Passivität, die mitschwingt („… die Beine hochlegen …“ 😊). Denn wenn ich diese Distanz zu mir selbst einnehme, ist das in der Regel mit Gedankenarbeit verbunden – ich versuche etwas zu relativieren, mich aus dem Zentrum der Verstricktheit in irgendwelche Vorkommnisse zu lösen o.ä.

Daß Dir der Tanz einfällt, passt wundervoll zu dem Bild, das mir plötzlich in der vorletzten Woche für mich in den Sinn kam. Das Bild ... allerdings einer Seiltänzerin. Wahrscheinlich ausgelöst von der Redewendung, die ich im letzten Brief benutzt hatte: „mit Netz und doppeltem Boden“. Dieses Bild gibt mein tägliches Daseinsgefühl perfekt wieder. Ich spaziere auf dem Seil und bin ständig damit beschäftigt, mein Gleichgewicht nicht zu verlieren, damit ich nicht runterfalle. Das Bild hat natürlich mehrere Facetten, aber eine ist es, die mir besonders „ins Auge sticht“. Das Bild der Seiltänzerin erklärt die hohe Anspannung, in der ich mich tagtäglich, d.h. im Normalzustand, befinde (der „psychogene Bluthochdruck“).

Das ist ein Lebensgefühl, in das ich mich lieber nicht hineinversetzen möchte. 😊 Das stelle ich mir unglaublich anstrengend vor. Ich kann mir auch gar nichts denken, was einen so permanent aus dem Gleichgewicht bringen könnte. Davor bewahrt mich wohl eine gewisse Dickfelligkeit oder Wurschtigkeit. Aber dein Bild der Seiltänzerin ist sehr einprägsam, ich kann mir zumindest diesen Zustand vorstellen.

Wenn ich so drüber nachdenke, dann ist für mich wohl, mehr als die Distanz, die Einstellung bezeichnend „Es ist alles nicht so wichtig“. Das könnte ich tatsächlich als eine Art Lebensgefühl angeben. Das bedeutet nicht, dass ich alles geringschätze, sondern mehr, dass mein Vertrauen darein, dass sich (fast) alles schon irgendwie regelt, wenn nicht so, dann eben anders, sehr groß ist. Allein dadurch, dass das Leben weitergeht, muss sich ja irgendetwas ergeben. Und das muss keineswegs unbedingt so ausfallen, wie ich es plane oder mir wünsche (das ist es vorrangig, was mir nicht so wichtig ist). Irgendetwas wird sich ergeben, und es wird irgendwie schon gut sein oder im weiteren Verlauf halt passend gemacht. Und wenn’s nicht gut ist, sondern „schlimm“ – na gut, dann muss ich eben irgendwie mit dem Schlimmen zurechtkommen. Der größte und beste Trost ist dann für mich, dass es auf jeden Fall nicht ewig währen wird – zum Glück darf man irgendwann sterben und gut ist. (Komischerweise denke ich wieder, wie so oft an diesem Punkt: „Na ja, du hast gut reden, dir ist ja auch noch nie etwas wirklich Schlimmes passiert!“ Das heißt, mein ungebrochener Optimismus hat anscheinend selbst den Tod meines Mannes schon integriert.)

(Welche Wörter haben sich in diesem Absatz gehäuft? Irgendwann, irgendwie, irgendwas … normalerweise glätte ich so etwas anschließend, versuche Doppelungen auszumerzen etc. Aber wie schon in meinem letzten Brief die Häufung von „ganz“ sich als bedeutsam erwies, so auch hier die Häufung von irgend… genau diese Unbestimmtheit macht mir das Leben leichter.)

Und diese Intensitätssteigerung dauert auch nach 6 Jahren des Alleinelebens noch an!  

Das ist schön! Ein schöner Ausblick in die Zukunft für mich.

Trotzdem ist mir jetzt, da Du oben wieder die Veränderung der äußeren Lebensumstände thematisierst, bewusst geworden, daß ich in meinem Brief hauptsächlich die innere Veränderung beschrieben und gemeint hatte. Den Anpassungsprozeß an die neue Situation würde ich es nennen. Die Kraft, die aufgewendet oder die Arbeit, die geleistet werden muß, um sich vom alltäglichen Leben zu Zweit zum alltäglichen Leben alleine umzugewöhnen.

Du schriebst mal in einer E-Mail, dass Trauerarbeit Schwerstarbeit sei, und das hatte ich sofort nachempfinden können – ich fühlte mich damals krank, erschöpft, hatte viel abgenommen … Andererseits habe ich, als ich den eben zitierten Absatz las, sofort gedacht, dass ich gar nicht viel Kraft habe aufwenden müssen, um mich an dieses alltägliche Leben allein zu gewöhnen. Es ereignete sich einfach, fast ohne mein Zutun. – Ja, was denn nun?!

Ich werde hier mal meine neue „Taktik“, die ich erst durch unseren Briefwechsel und die intensiven Selbstreflexionen gewonnen habe, einsetzen und nicht versuchen, diese Gegensätze zur Übereinstimmung zu bringen, sondern ich lasse sie einfach so stehen: Es ist schwer und es ist leicht. Punkt. 😊

 

Brücke und Bruch

Ich hingegen habe mich ein Jahr lang vorbereitet. Wir haben weiter gelebt wie immer und zugleich war nichts wie immer. Ich würde diese Zeit als eine längere Phase eines unwirklich, wirklichen Schwebezustandes bezeichnen. Das heißt, in meiner Situation gab es eine Zwischenstufe, einen Übergang, eine Brücke, die es in Deiner Situation nicht gab (oder zumindest in äußerst verkürzter Form, wie im Zeitraffer vielleicht).

Das Bild der Brücke fasziniert mich. Wenn wir gelegentlich – nicht oft – über die unterschiedlich langen „Vorlaufzeiten“ gesprochen haben (vermutlich habe ich mehr darüber nachgedacht, als dass wir darüber geschrieben haben), dann stellte ich es mir immer als ganz unerträglich schmerzhaft vor, sowohl für dich als auch für deinen Mann, ein ganzes Jahr lang mit dem Wissen leben zu müssen, dass er am Ende einer zwar ungewissen, aber absehbaren Zeit sterben würde. Und ich fragte mich, wie man das bloß aushält?! Und war, trotz aller Schrecklichkeit, froh über die kurze Zeit bei uns. Aber das ist wohl eine sehr ego-zentrische Sichtweise, in dem Sinne, dass man das Unbekannte mehr fürchtet als das, was man kennt. Bei dir war es halt auf diese Weise, und ihr seid damit notgedrungen umgegangen; bei mir war es auf eine andere Weise, und damit sind dann eben wir umgegangen. Beides hinterlässt Spuren, nur eben anderer Art. (Meine Vorstellung: Zermürbung (bei dir) gegen Schock (bei mir). Schwerstarbeit in beiden Fällen.)

Nun schreibst du von einer Brücke, und zum ersten Mal kann ich dieser längeren Zeit etwas Positives abgewinnen. Ich weiß nicht, ob man sich während dieser Zeit wirklich an den Gedanken des Todes gewöhnt – bis zuletzt ist der geliebte Mensch ja noch da. Aber im Untergrund der Seele arbeitet da vielleicht schon etwas, was deine anschließende Situation dann so anders machte als meine (von unseren individuellen Unterschieden mal abgesehen). Seele und Zeit als unsichtbare, zarte Brückenbauer … nun ja, manchmal mag ich es sentimental. 😊

Wenn du deine Gedanken zu dieser Zeit „der Vorbereitung und des Aufschubs“ irgendwann mal sortiert hast, würde es mich sehr interessieren, mehr davon zu hören.

Das erste Mal bekomme ich ein Gespür für Deine Vorstellung, dem abrupten, gewaltsamen Bruch „etwas“ Adäquates –wie eine Antwort- entgegenzusetzen!

Auch wenn du nur (NUR! – ha, das Wort trifft es überhaupt nicht!) wiedergibst, was ich selbst an verschiedenen Stellen schon geschrieben habe, so habe ich doch das Gefühl, erst durch diese „Spiegelung“ wirklich zu verstehen, wie all meine diffusen, bruchstückhaften Gedanken (die ich eigentlich für recht klar gehalten hatte) zusammengehören! „dem abrupten, gewaltsamen Bruch „etwas“ Adäquates –wie eine Antwort- entgegenzusetzen“ – ja, genau, davon schreibe ich ja die ganze Zeit, aber nun erst verstehe ich es. Wie ist das möglich? Ich bin völlig baff. :-)))

B.

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