
Liebe B.,
Konträre Selbstbilder
Ich schrieb von einem möglichen Idealzustand (das eine hätte ich unterstreichen müssen, so war es missverständlich, Entschuldigung), schloss andere „Idealzustände“ damit also nicht aus. (Jetzt kommt mir das Wort allerdings unpassend vor, denn mehrere Idealzustände nebeneinander, das klingt irgendwie falsch.) Ich empfinde mein Zuschauerinnensein jedenfalls nicht als defizitär, sondern nur als anders. Und wenn eine gute Fee mir die Wahl zwischen diesen beiden Zuständen anböte – „mittendrin“ oder „mit Distanz“ –, würde ich bei der Distanz bleiben wollen.
Nun atme ich erleichtert auf, weil ich Dich endlich verstehe! Was ich wieder einmal, nicht zum ersten Mal, jammerschade finde, daß wir niemals für wenigstens eine kurze Zeit das Bewusstsein oder das Lebensgefühl eines anderen Menschen annehmen können. Wie es sich anfühlt, Zuschauerin des eigenen Lebens zu sein, das wüsste ich gerne.
Was habe ich aber nun mit „mitten in sich selbst sein“ gemeint? Ich hatte zwar auch an all die Sachen gedacht, die du beschrieben hast, aber vor allem hatte ich das Bild vor Augen, wie du tanzt.
[...] Ich würde meinen „Zustand“ auch nicht als Spaltung bezeichnen, obwohl das naheläge, als Gegenbegriff zur Ganzheit. Dass ich in Distanz zu mir selbst gehen kann, empfinde ich eher als Bereicherung, als eine zusätzliche Seins-Dimension sozusagen. Für mich ist das mit einem Freiheitsgefühl verbunden.
Daß Dir der Tanz einfällt, passt wundervoll zu dem Bild, das mir plötzlich in der vorletzten Woche für mich in den Sinn kam. Das Bild ... allerdings einer Seiltänzerin. Wahrscheinlich ausgelöst von der Redewendung, die ich im letzten Brief benutzt hatte: „mit Netz und doppeltem Boden“. Dieses Bild gibt mein tägliches Daseinsgefühl perfekt wieder. Ich spaziere auf dem Seil und bin ständig damit beschäftigt, mein Gleichgewicht nicht zu verlieren, damit ich nicht runterfalle. Das Bild hat natürlich mehrere Facetten, aber eine ist es, die mir besonders „ins Auge sticht“. Das Bild der Seiltänzerin erklärt die hohe Anspannung, in der ich mich tagtäglich, d.h. im Normalzustand, befinde (der „psychogene Bluthochdruck“). Und wenn ich mir im Unterschied dazu die Zuschauerin vorstelle, dann lebt die Zuschauerin vergleichsweise ent-spannt, weil sie sich zurücklehnen und die Beine hochlegen darf. Ah ja, und dem Freiheitsempfinden, das Du erwähnst, entspricht meine Empfindung, an mich selbst „gefesselt“ zu sein (zur Hervorhebung des Kontrastes wähle ich das starke Wort der „Fessel“). Damit habe ich das (annähernd) passende „Gegenstück“ zur Zuschauerin endlich gefunden.
(Du hast es als Deine Vorstellung beschrieben, den ungehemmten Tanz, in dem die Tänzerin eins ist mit sich oder „ganz“ in allem, wie Du sagst - ich finde mich tatsächlich darin nicht wieder. Vielleicht war es vor 40 Jahren anders. Ich kann es nicht sagen).
Zeit und Prozess
Die Selbstverständlichkeit des Lebens, des Weiterlebens ist plötzlich dahin, deshalb wird alles mit viel größerer Aufmerksamkeit registriert und bewertet. Wenn ich mir das richtig klarmache, dann liegt allein in dieser Intensitätssteigerung schon eine erhebliche Veränderung zu meinem Leben vor dem Bruch, und das meine ich in einem durchweg positiven Sinne.
Stimmt! Das habe ich so klar noch nie gesehen. Und diese Intensitätssteigerung dauert auch nach 6 Jahren des Alleinelebens noch an!
Und dein Begriff der A-Symmetrie hat mir jetzt geholfen, von der Symmetrie, auch wenn ich sie selbst eingeführt habe, die mir aber die ganze Zeit über merkwürdig verkehrt vorkam (das erläutere ich jetzt nicht, ist nicht so wichtig), wegzukommen. Ich würde jetzt eher von einem Ungleichgewicht sprechen. Der Tod wog so schwer, und alles andere, was darauf folgte (bis auf die ersten Wochen, genau), ist meist so unscheinbar, so gewichtslos (um das Wort „leicht“ zu vermeiden). Ich kann Menschen so gut verstehen, die nach dem Tod des Partners, der Partnerin ein radikal neues, anderes Leben beginnen, die auswandern oder den Beruf wechseln oder ähnliches. Ich fühle mich manchmal in der Alltäglichkeit meines Weiterlebens wie gefangen. Dann wieder besinne ich mich aber auf meine Wertschätzung gerade dieser unscheinbaren Alltäglichkeit, die mir schon lange viel bemerkenswerter erscheint als ein Leben mit immer neuen Sensationen. Und im Laufe der Zeit werde ich wohl auch die Veränderungen wahrnehmen können, die sich aus dem kaum merklichen Prozess ergeben.
Ja, irgendwann gibt es Zeitpunkte, an denen man rückblickend die Veränderungen auf einmal erkennt. Man übersieht einen längeren Zeitraum und wie die minimalen Veränderungen sich zu Wesentlicheren verdichten. Als ein Beispiel dafür fällt mir ein, daß Du in einem e-mail-Brief erzählt hast, wie Du Dein Für-mich-sein jetzt gelegentlich genießt. An meine ersten vorbehaltslosen Glücksmomente, die nicht von einem schmerzlichen Gefühl durchzogen waren, erinnere ich mich zwar nicht, aber es hat sie gegeben und inzwischen erlebe ich sie ebenso häufig -oder selten- wie auch während meiner Ehe.
Trotzdem ist mir jetzt, da Du oben wieder die Veränderung der äußeren Lebensumstände thematisierst, bewusst geworden, daß ich in meinem Brief hauptsächlich die innere Veränderung beschrieben und gemeint hatte. Den Anpassungsprozeß an die neue Situation würde ich es nennen. Die Kraft, die aufgewendet oder die Arbeit, die geleistet werden muß, um sich vom alltäglichen Leben zu Zweit zum alltäglichen Leben alleine umzugewöhnen. Insofern stimmt es, wie Du in jeweils leicht modifizierten Formulierungen oft sagst, Dein Lebensalltag (von demselben Arbeitsort in dieselbe Wohnung zu gehen usw.) ist „gleich“ geblieben – nur Dein Mann ist nicht mehr da.
Ich finde es also bemerkenswert, wie beharrlich Du beim Thema der Veränderung der äußeren Lebensumstände bleibst, auch wenn Du Dein gegenwärtiges –unscheinbares- Alltagsleben manchmal schätzst. Falls es sich tatsächlich um einen Wunsch nach einer neuen, anderen Lebensweise handelt, dann wirst Du die Spur weiterverfolgen, da bin ich mir inzwischen sicher (wie Du beispielsweise auch beim Thema „erweitertes Ich“ nicht locker gelassen hast).
„stärker als für mich“ – ich vermute, hier spielt der Umstand eine Rolle, dass bei dir und deinem Mann der Sterbeprozess ein Jahr gedauert hat, bei uns kaum vier Wochen. Vielleicht würdest du deshalb auch gar nicht unbedingt von einem Bruch sprechen, sondern ein anderes Bild dafür wählen? Und hier passt nun vielleicht doch wieder der Symmetriegedanke: Der längeren Phase vor dem Tod entspricht bei dir vielleicht ein anderes Lebensgefühl danach als bei mir mit dieser eher kurzen Phase?
Das ist ein völlig neuer Aspekt, über den wir noch nie gesprochen haben. Du hattest über die kurze Zeit, besonders die 2 letzten traumatischen Wochen erzählt, aber wie die Kürze der Zeit wahrscheinlich auch das Erleben nach dem Tod prägt, das habe ich nicht im Blick gehabt. Unter diesem Gesichtspunkt lese ich jetzt auch Deinen Ausdruck „Schockzustand“, den Du häufig benutzt hast, anders. Es war und ist Dein Wort für Deinen Zustand in den ersten Wochen oder Monaten. Ja, natürlich habe ich gewusst, was Du meinst, aber ich habe den Ausdruck nicht ernst, nicht wörtlich genug genommen. Und nun ist mir auch das „Bruch“-Bild glasklar. Ich hingegen habe mich ein Jahr lang vorbereitet. Wir haben weiter gelebt wie immer und zugleich war nichts wie immer. Ich würde diese Zeit als eine längere Phase eines unwirklich, wirklichen Schwebezustandes bezeichnen. Das heißt, in meiner Situation gab es eine Zwischenstufe, einen Übergang, eine Brücke, die es in Deiner Situation nicht gab (oder zumindest in äußerst verkürzter Form, wie im Zeitraffer vielleicht). Das erste Mal bekomme ich ein Gespür für Deine Vorstellung, dem abrupten, gewaltsamen Bruch „etwas“ Adäquates –wie eine Antwort- entgegenzusetzen!
Liebe B., Deine Überlegung, wie die Zeit vor dem Tod sich auf unser Erleben nach dem Tod auswirken könnte, hat in mir im Laufe der Woche so viele Gedanken und Erinnerungen ausgelöst (wie habe ich das eine Jahr der Vorbereitung und des Aufschubs erlebt, was heißt "vorbereiten", hatte ich Pläne für ein "später") die ich überhaupt noch nicht sortiert bekomme ... geschrieben habe ich jetzt nur, was sich mir sofort erhellte, weil ich auf einmal Deine Perspektive eingenommen habe.
F.
Kommentar hinzufügen
Kommentare