Liebe F.,
„Der Augenblick des Begreifens hat sich tatsächlich niemals ereignet“
Ich finde diesen Satz so toll, so verheißungsvoll bedeutsam, dass ich mich etwas ausführlicher mit ihm beschäftigen möchte. Hier der Zusammenhang:
Den Zugang zur Ähnlichkeit mit meiner Erfahrung bekomme ich über die Figur des Truman selbst. So wie ihm irgendwann „dämmert“, daß es eine andere Realität gibt, die die wirkliche Realität ist, genau so habe ich ungefähr 2 Jahre lang regelmäßig und öfter gedacht, irgendwann würde ich schon begreifen, daß mein Mann gestorben ist. Das bedeutet ja nichts Anderes als anzunehmen, die neue Realität als die Wirkliche zu erleben läge noch in der Zukunft, das Erwachen stünde noch aus. Truman will der als falsch erkannten Realität räumlich entkommen, während ich erwartet hatte, den Sprung in einer Art von Erkenntnis, dem Begreifen zu tun. Der Augenblick des Begreifens hat sich tatsächlich niemals ereignet, stattdessen ist der Gedanke irgendwann, ohne daß ich es gemerkt habe, einfach verschwunden.
Dieser Satz kommt mir deswegen so ungemein tröstlich vor, weil auch ich, wenn auch wohl anders als du, erwartet oder vielmehr befürchtet hatte, dass da noch etwas in der Zukunft aussteht. Ich weiß aber eigentlich gar nicht so richtig, was du mit diesem Begreifen, auf das du so lange gewartet hast, verbunden hast. Vielleicht hast du diesen „Augenblick des Begreifens“ ja auch ein wenig gefürchtet, weil er bedrohlich sein könnte? Weil er bedeutet hätte, dass du dieser neuen Wirklichkeit nun tatsächlich schutzlos ausgesetzt gewesen wärst, dich nicht mehr hättest verstecken, in einen Traum flüchten o.ä. können? Dass du das im Zusammenhang mit Trumans Befreiung schreibst, legt allerdings eher eine positive Bedeutung nahe (deine Vorstellung des „besser leben“ nach dem Tod deines Mannes?); aber vielleicht lag hier ja, wie so oft, eine widersprüchliche Gemengelage vor?
Bei mir war diese Erwartung jedenfalls eindeutig negativ. Ich habe das ganze erste Jahr über befürchtet, dass irgendwann der schützende Schockzustand nachlässt, der mich relativ normal weiterleben ließ, und ich dann der Wucht der Erkenntnis ausgesetzt wäre, dass mein Mann wirklich tot ist. Und wie ich darauf reagieren würde, konnte ich überhaupt nicht voraussagen. Stattdessen war es aber wie bei dir: Dieser Augenblick der Erkenntnis hat sich nie ereignet. Und allmählich vertraute ich darauf, dass ich nicht weiterlebte, weil ich mich in einem Schockzustand befand, sondern weil ich es einfach konnte.
Ich weiß gar nicht so recht, warum dein Satz trotzdem etwas so Beruhigendes für mich hat. Vielleicht ist es der Umstand, dass das Verflüchtigen dieses Gedankens bei dir schon von so langer Dauer ist. Das ist wie ein Versprechen, dass das auch bei mir dauerhaft so sein wird.
Missverständnisse?
„Umgeschaltet“ haben bedeutet also, mit „Glück und Dankbarkeit“ ohne Deinen Mann weiterleben?
Hier liegt wohl ein Missverständnis vor. Denn ganz im Gegenteil: Das Bild des Umschaltens ist von mir, zumindest in diesem Zusammenhang, eindeutig negativ gemeint. Es bedeutet für mich, so beiläufig, gleichgültig, quasi „undankbar“ in mein neues Leben umzuschalten, wie die Fernsehzuschauer nach dem Ende einer Sendung zur nächsten zappen.
(Mir scheint übrigens, unsere unterschiedlichen Gedanken zum Truman-Film zeigen wieder einmal unsere unterschiedlichen Persönlichkeiten, bis hin zum symptomatischen (?) Unterschied, dass du dich mit der Person „mittendrin“ identifizierst, ich mich mit den Zuschauern am Rande des Geschehens. Das Fragezeichen bezieht sich auf meine Unsicherheit, ob du mit meiner Zuschreibung einverstanden bist – deine Identifizierung kann sich ja auch nur eher zufällig aus der Struktur dieses Beispiels ergeben haben; meine Identifizierung mit der Zuschauerrolle ist jedenfalls ganz und gar symptomatisch. 😊)
Und noch ein Missverständnis aus deinem 3. Abschnitt:
Wenn ich mir mein Gesicht in der Mitte, über der Nasenwurzel, in zwei Hälften geteilt vorstelle, dann sehen beide Hälften sehr unterschiedlich aus. Symmetrisch wären sie, wenn sie einander glichen, d.h. wenn sie gleichförmig wären. Der Kontrast dazu ist der Lebensabschnittsgedanke, weil das Bild von Abschnitten das extrem Ungleichförmige zeigt. Meinst Du es ungefähr so?
Nein. Ich spreche nicht von Abschnitten, sondern von Abschnitt, im Singular und vor allem wörtlich genommen: etwas ist abgeschnitten worden. Und mit diesem Unterschied wird mir einiges klar, z.B. warum dir dein Beispiel mit der Lebensschnur dazu eingefallen ist. (Ach, ich frage, im Gegensatz zu dir, viel zu wenig nach, wenn ich etwas nicht ganz verstehe! Und dann schleppen sich solche Missverständnisse eine ganze Weile weiter durch unsere Briefe …) Also: Es KANN keine Symmetrie geben zwischen meinem Leben vor und meinem Leben nach dem Tod meines Mannes, denn davor hat es die 40 Jahre Ehe gegeben, und danach ist das abgeschnitten gewesen.
Was ich mit Abschnitt meine, ist also nicht wie eine Perle mehr auf meiner Lebensschnur (ein Lebensabschnitt von vielen), sondern der radikale Schnitt, der mein altes Leben beendet hat, ohne dass da zunächst etwas Neues an seine Stelle trat. (Was natürlich nicht ganz stimmt. Denn das neue Leben war von Anfang an da, einfach weil ich weiterlebte.)
Erstaunen
Noch mal zurück zu Truman:
Falls es sich bei Dir und mir um dieselbe Erfahrung handelt, wovon ich mir allerdings nicht sicher bin, dann legst Du all Deine Aufmerksamkeit auf das Erstaunen, nahezu in derselben Wirklichkeit, trotz der veränderten Realität, weiterzuleben wie vor dem Tod Deines Mannes. Dieser Aspekt scheint mir aber lediglich die Kehrseite meines Gedankens zu sein, das in der Zukunft liegende Begreifen würde den Wechsel bringen. Das heißt, ich muß mich ebenso wie Du eine längere Zeit gewundert haben, daß alles so weitergeht wie vorher, denn nur vor diesem Hintergrund kann ich auf die Idee gekommen sein zu erwarten, der Eintritt in die neue wirkliche Realität sei noch nicht vollzogen. […]
Ich wüsste gerne, unabhängig davon, ob wir von derselben Erfahrung sprechen, mit welchem Gefühl oder mit welchem Gedanken Du die Feststellung verbindest, daß eigentlich „alles gleich“ bleibt? Ich meine, ein ungläubiges Erstaunen oder sogar eine Art von Enttäuschung herauszuhören ... ?
Nein, Enttäuschung eher nicht. Aber der Gedanke des Erstaunens lässt etwas in mir anklingen, auch wenn ich das selbst bisher nicht so bezeichnet habe. Mir gefällt das Bild, wie ich staunend durch dieses neue Leben gehe, es berührt sich mit der Neugier, von der ich mal schrieb. Aber gleichzeitig ist da auch das Ungläubige, das Kopfschütteln, dass das doch nicht wahr sein kann … Wobei ich nicht nur darüber staune, dass die Welt gleichbleibt, sondern auch darüber, dass ich selbst mehr oder weniger gleichgeblieben bin.
Andererseits habe ich immer wieder dieses Gefühl des Bruchs – die Bilder des Abschnitts, des Umschaltens zeigen das ja deutlich. Anders als dein glücklicher Nachbar nehme ich mein altes Leben nicht nahtlos in mein neues mit hinüber, ja habe im Gegenteil oft das Bedürfnis, diesen Bruch auch äußerlich noch stärker zu zeigen.
Worüber ich also gerade jetzt staune, das ist die Gleichzeitigkeit eigentlich unvereinbarer Zustände, nämlich der Kontinuität und des Bruchs. Aber vielleicht muss man auch hier dialektisch denken … 😊
B.
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