Brief 34 | Gefühls-Bewegungen

Liebe F.,

Ich sehe einen schmalen, geraden Feldweg, der von Wiesen und Feldern gesäumt wird, auf dem Du zusammen mit Deinem Mann, Hand in Hand, entlanggehst. Meine Perspektive ist etwas erhöht, und ich sehe Euch schräg von hinten. Wenn ich meine Augen kurz schließe und wieder öffne, dann ist Dein Mann aus dem Bild verschwunden, und Du gehst den Feldweg alleine weiter, bis dahin, wo er sich am Horizont verliert.

Fast dasselbe Bild hatte ich vergangenes Jahr auch. Nur mit dem Unterschied, dass der Weg nach dem Tod meines Mannes nur noch halb so breit ist, weil „seine Hälfte“ nun beendet ist, richtig deutlich mit einer schmalen Steinkante abgeschlossen. (Ordnung war ihm wichtig. 😊)

Ja, nun gehe ich diesen Weg allein weiter. Und immer, wenn ich mich darüber wundere, wie relativ leicht mir das fällt, denke ich an die Millionen anderen Witwen und Witwer, die das ebenfalls schaffen, und komme mir nicht mehr ganz so seltsam vor.

Und welches Gefühl sollte, meinst Du, vorhanden sein? Könntest Du das Gefühl benennen? Oder muß es ein Verlust-Gefühl sein? In den obigen Abschnitten und im unten Folgenden erzählst Du dreimal von der Traurigkeit. Genügt die Traurigkeit nicht? Im Brief zuvor hattest Du von gelegentlich auftauchender Bitterkeit und Schwermut geschrieben. Genügt das nicht? Vielleicht genügen sie angesichts von 40 Jahren des gemeinsamen Weges nicht ...

Ja, es geht mir an dieser Stelle um das Verlustgefühl, dessen Fehlen mich, gelinde gesagt, „irritiert“. Du hast es schon sehr genau beschrieben:

… ein diffuses Unbehagen […], daß der Umstand des Todes, von dem Du?/ ich gemeint hatte, er müsse die Welt fühlbar zum Einsturz bringen, nicht mehr bewirkt, als daß Du denselben Weg ohne Deinen Mann weitergehst.

Ich habe manchmal die Besorgnis, als seien meine Gefühle nicht heftig genug. Aber eigentlich stimmt das gar nicht. Wenn ich zurückschaue, waren meine Gefühle in der ersten Phase nach dem Tod meines Mannes durchaus heftig, eigentlich ganz so, wie ich es erwartet hätte, wenn ich vorher darüber nachgedacht hätte. Aber ich habe ziemlich schnell in meinen Normalzustand zurückgefunden, und damit komme ich manchmal nicht zurecht.

Ich glaube, dahinter steckt die Vorstellung, ich müsste jetzt sozusagen die gemeinsamen 40 Jahre „rückwärts“ abarbeiten, bevor ich wieder einen Zustand des Gleichmaßes erreiche. Aber das ist natürlich absurd. Denn was war vor 40 Jahren? Da habe ich meinen Mann ja noch gar nicht gekannt! Will ich dahin zurück? Natürlich nicht. Ich will ja mit diesen 40 Jahren weiterleben, nicht ohne sie. Dieses Gegeneinanderaufrechnen ist also kompletter Blödsinn. – Jetzt muss ich nur noch das, was mein Verstand einsieht, auch wirklich fühlen.

Eigentlich ist es wirklich absurd. Manche Menschen leiden daran, dass ihre Gefühle zu überwältigend sind, und ich daran, dass sie nicht überwältigend genug sind … Es ist wohl noch ein weiter Weg, bis ich es lerne, mich so zu akzeptieren, wie ich bin. Meistens gelingt mir das ja eigentlich ganz gut, aber gerade in diesem schwierigen Konglomerat aus Trauer und Lebensmut und schlechtem Gewissen fällt es mir schwer.

Und was heißt da eigentlich: „mich akzeptieren, wie ich bin“?, murmele ich weiter in meinem Selbstgespräch. Was sind Fehler, die es zu überwinden, was Eigenarten, die es zu akzeptieren gilt? „Mich akzeptieren, wie ich bin“ kann ja auch einfach heißen, mit den Schultern zu zucken und zu sagen „so bin ich eben“. Wer bin ich also und wer will ich sein …? Die typischen Fragen, die sich in einer Lebenskrise auftun und weswegen ich solche Zeiten bei allem Schmerz auch als beglückend und bereichernd empfinde.

Aber zurück zum Thema.

Mir ist es, im Unterschied zu Dir, nach ungefähr anderthalb Jahren des Alleinseins sehr schlecht gegangen, während Du Dich einigermaßen ausgeglichen fühlst (Du widersprichst, falls ich die Situation falsch einschätze?!) Ich hätte zwar sagen können, daß, würde mein Mann leben, es mir nicht so gehen würde, aber im Grunde haben meine Gefühle für ihn, seine Person keine Rolle gespielt. Gekreist bin ich um mich. Wie soll ich es ausdrücken ... ein Verlust- und Schmerzgefühl hatte ich auch nicht. Die folgenden 2 Jahre bin ich damit beschäftigt gewesen, wie ich „erwachsen“ werden kann oder besser, wie ich den eigenen erwachsenen Teil aktivieren und zum Leben erwecken kann, damit ich alleine zurechtkomme. Ich war mit mir, aber nicht mit meinem Mann beschäftigt.

Hier schreibst du, dass du während dieser Zeit kein Verlust- und Schmerzgefühl hattest, im vorletzten Brief dagegen, dass dein Verlustgefühl sehr stark ist. Ist das also erst später gekommen?

Du schreibst am Ende deines vorigen Briefes zwar, dass die Phase, da du meintest, mir etwas vorauszuhaben, nun vorbei sei. Aber ich finde es immer noch spannend von dir zu hören, wie sich manches bei dir entwickelt und verändert hat. Mag sein, dass es bei mir nach fünf Jahren ganz anders sein wird, als es bei dir nach fünf Jahren war. Aber allein davon zu hören, dass sich im Laufe der Jahre die Dinge weiterentwickeln, verändern, ist für mich ungemein – ja, ich möchte fast sagen: beruhigend. Die Trauerratgeber befassen sich ja meistens nur mit dem ersten Jahr, wo man ja wohl auch am meisten Hilfe braucht, weil alles so unbegreiflich neu und beängstigend ist. Aber davon, wie es dann weitergeht, erfährt man in der Regel so gut wie nichts. Tod und Trauer sind kein Gesprächsthema. Auch ich werde von fast niemandem mehr darauf angesprochen (bis auf einige wenige Kolleginnen, die in größeren Abständen fragen, wie es mir geht), so wie auch ich nie jemanden dazu befragt habe. Ich weiß einfach nichts von den vielen verschiedenen und sich verändernden Gesichtern der Trauer, und ich vermute, dass das nicht nur mir so geht. Das ist für mich auch einer der Gründe, nicht nur in unseren E-Mails darüber zu schreiben, sondern auch hier in diesem öffentlichen Blog.

Weißt Du, was mir hier plötzlich, wahrscheinlich wegen des Einverständnisses, das in der „Ordnung der Dinge“ liegt, durch den Kopf geht – empfindest Du manchmal auch Dankbarkeit? Wenn ich es richtig erinnere, dann war ich im ersten Jahr gelegentlich nahezu glücklich, weil ich eine große Dankbarkeit für das gemeinsame Leben, das ich habe erfahren dürfen, fühlte. Danach ist dieses Dankbarkeitsempfinden, ich erinnere es jedenfalls so, nicht wieder gekommen.

Oh ja, das kenne ich auch! In den ersten Monaten nach dem Tod meines Mannes war ich manchmal geradezu euphorisch vor Dankbarkeit. (Das gehörte mit zu den oben erwähnten heftigen Gefühlen.) Und ich hatte das drängende Bedürfnis, etwas von diesem großen Glück, das ich hatte erfahren dürfen, an andere weiterzugeben, weshalb ich mich relativ bald bei der Freiwilligenagentur gemeldet hatte. Dabei spielte natürlich auch der Gedanke eine Rolle, dass ich neue Kontakte knüpfen wollte, um nicht zu vereinsamen. Aber dass ich es auf diese Weise tat und nicht z.B. in einen Verein eingetreten bin, hatte viel mit dieser überfließenden Dankbarkeit zu tun. Und erst jetzt, wo du es sagst, wird mir bewusst, dass sich dieses Gefühl auch bei mir inzwischen verflüchtigt hat.

Du hast Dich ein gutes halbes Jahr nach dem Tod Deines Mannes aktiv, d.h. im Gespräch, mit Deiner Situation auseinandersetzen wollen, und ich habe mich erst, knapp 5 Jahre nach dem Tod meines Mannes gerne darauf eingelassen. Was für ein Unterschied der „Naturen“ :-)))! Mir ist es wie ein Geschenk zugefallen und jetzt, rückblickend würde ich sagen, daß ich vorher aber auch niemals mit einem Menschen über den Tod meines Mannes und mein Witwendasein hatte sprechen wollen. Den Wechsel von der Aufmerksamkeit auf mein gegenwärtiges Leben zur Aufmerksamkeit auf meinem Mann und unsere Beziehung, den habe ich tatsächlich erst mit dem Beginn unseres Gespräches vollzogen. An das, was ich oben schrieb anknüpfend: Nachdem ich gelernt hatte, alleine zurechtzukommen, konnte ich mich meinem Mann wieder zuwenden.      

Ich bin gerade ganz fasziniert von der Feststellung, wie manches „wie von selbst“ zur rechten Zeit kommt. „Wie von selbst“ habe ich deswegen in Anführungszeichen gesetzt, weil hier natürlich ein Wechselspiel vorliegt. Es geschehen unentwegt Dinge, aber man selbst ist immer nur zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt für sie empfänglich, und wenn sie dann geschehen, kommen sie einem wie ein Wunder vor.

 

Glasglocke

Nur kurz zur Bestätigung, daß ich jetzt erst das Bild richtig verstehe. Die Glasglocke ist eine unsichtbare schützende Hülle, die Dir den Blick auf die Welt und die anderen Menschen erlaubt, und Du selber bleibst ebenfalls sichtbar, aber nichts und niemand kommt Dir zu nahe bzw. Du behältst die Kontrolle über die Abstände, die Du jeweils benötigst.

Ebenfalls nur kurz noch: Ich kann mir vorstellen, dass du das, was du da eben beschrieben hast – die Glasglocke, „die Dir den Blick auf die Welt und die anderen Menschen erlaubt, und Du selber bleibst ebenfalls sichtbar, aber nichts und niemand kommt Dir zu nahe …“ – wörtlich so für dein Bild der Glasglocke sagen könntest, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Dir bietet sie nicht Schutz, sondern schließt dich aus. Du siehst die Welt, die Welt sieht dich, aber dazwischen ist eine unsichtbare Trennwand. Bei dir verhindert die Glasglocke den erwünschten Kontakt, bei mir den unerwünschten. Unsere unterschiedlichen Naturen. :-)))

B.

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