Liebe B.,
ich habe die ersten beiden Abschnitte über die Vorzüge des Internetkontaktes aus dem Brief rausgenommen, weil ich gerne etwas ausführlicher auf Deine weiteren Überlegungen eingehen und auch direkte Fragen an Dich stellen möchte. Obwohl meine Antwort zum virtuellen Gespräch eher abschließenden Charakter hätte, würde sie, wie ich finde, diesen Brief überfrachten. Eventuell werde ich sie auf den „Tummelplatz“ verlagern.
Im Fluss des Lebens
Ob ich das möchte, weiß ich nicht – ich habe keine Wahl, oder? Das eine bedingt das andere: Wenn die äußeren Umstände sich verändern (und sie haben sich ja verändert!), verändere ich mich zwangsläufig auch. Aber ganz so zwangsläufig, wie ich mir das vorstelle, ist das vielleicht gar nicht? Du sagst, es sei in Ordnung, wenn man dieselbe bleiben möchte (auch wenn das eventuell negative Konsequenzen hat) – also ist es möglich, dieselbe zu bleiben, auch wenn die Umstände sich ändern? Nun ja, in gewisser Weise bleibt man tatsächlich immer dieselbe, aber gleichzeitig ändert man sich auch immer ein wenig. Wir sind lebendige Wesen in einer lebendigen Welt, wir stehen in einem ständigen Austausch mit allem, was uns umgibt, und dies alles hat Auswirkungen auf uns, wenn auch manchmal nur in unmerklichen Nuancen …. Ach, jetzt verwirren sich meine Gedanken und schweifen ab …
... und ich schweife weiter, weil es eines der Themen ist, das wir seit Beginn unseres Gespräches umkreisen. Also scheint es wichtig zu sein. Ich möchte versuchen, die Veränderung (der eigenen Person) ein wenig konkreter und zugleich aus einer großzügigen Perspektive zu fassen. Du hattest vor längerer Zeit den Begriff „Wesen“, der mich damals spontan angezogen hat, ins Spiel gebracht und im Zusammenhang damit „du wollest dich nicht verbiegen lassen“. Ich meinerseits habe öfter erzählt, meine Idee sei (gewesen) eine „andere werden zu wollen als die, die ich bin“, eine Umschreibung dessen, was ich ungefähr unter „Wesen“ verstehe, und aber mit einem Impetus, der Deinem entgegengesetzt ist. Mir kommt es jetzt allerdings hauptsächlich aufs „Wesen“ an, weil es mir ähnlich wie der Tod, der uns in eine veränderte Realität wirft, wie eine Gegebenheit scheint, von der ich ausgehen muß. Es ist mein So-Sein, meine Wirklichkeit, die nicht übersprungen werden kann.
Wesentlich sind die Eigenschaften und die Charakterzüge, von denen wir meinen, sie gehören notwendig zu uns. Wenn ich aus dem obigen Zitat die „Nuancen“ aufgreife, dann geht es um Veränderungen, die im Rahmen unseres Wesens liegen oder vielleicht treffender, um diskrete Veränderungen unseres Wesens. Wir haben zwar schon häufiger über unsere wesentlichen Eigenschaften gesprochen, aber ich möchte heute nochmal, zumindest was mich betrifft, einen neuen Anlauf nehmen: Mein Unglücklichsein mit mir selber, in psychologischer Terminologie, das mangelnde Selbstwertgefühl, das meine Stimmungen, Gefühle und auch mein Tun prägt. Da dies immer schon so war, würde ich diese Art der Beziehung zu mir selbst für eine wesentliche Eigenschaft ansehen (das ist eine sachliche Feststellung, kein Vorwurf an mich, das Schicksal oder an andere Menschen gerichtet). Mein Mann hat diese Eigenschaft zwar nicht weg-lieben, aber durch seine Achtung abmildern und ausgleichen können. Was aber bedeutet das nun im Hinblick auf feine Veränderungen in der jetzigen Situation? Hm, dann muß ich selbst seine Rolle übernehmen? Damit wäre ich zwar schon wieder beim „Ersetzen“ – nun allerdings durch mich selber?
Liebe B., ich habe schwungvoll und energisch angesetzt und weiß nicht, warum meine Gedanken mir zunehmend im Unkonkreten zu versanden scheinen. Ich übergeb’s Dir so unfertig, wie es ist – vielleicht siehst Du einen weiterführenden Ansatz und/oder schweifst einfach weiter ...
[...] Ich möchte sowohl mich als auch die Umstände verändern – vielleicht nicht gleich „rundherum und umfassend“, aber doch so, dass ich das Gefühl habe, „im Fluss des Lebens“ zu bleiben. Ich will nicht erstarren.
[...] Sondern hier geht es mir mehr um Anpassung. Wasser ist ja eines meiner Lieblingsbilder, und so wie Wasser sich allem anpasst und sich doch gleichbleibt, so ähnlich möchte ich mein Leben führen.
Weil sich der Sinn der beiden Abschnitte oben aus ihrer Reihenfolge ergibt, zitiere ich sie in dieser Abfolge, antworte aber in umgekehrter Reihenfolge. 🤸♂️
Die Wassermetaphorik würde, so wie ich sie verstehe, zum Begriff des „Wesens“ passen. Es ist das sich stets und immer Gleichbleibende, während die Anpassung an die neue Situation den Nuancen des Sich-Veränderns im Rahmen des Wesens entspräche.
Ich möchte Dich direkt fragen. Da Du öfter vom „steckenbleiben“ oder hier vom „erstarren“ sprichst – ist es wirklich eine Art von Sorge, Du könnest im status quo verharren? Ich frage es deswegen, weil ich Dich so sehr anders wahrnehme. Beweglich, aufmerksam auf Dich –und Andere-, und vor allem auch reflektiert. Das heißt, ich kann so gar nichts erkennen, das auf ein resigniertes oder sich ergebendes Einrichten hin angelegt wäre. Oder drückt sich im „Erstarren“ die Befürchtung aus „soll es jetzt für immer (bis zum Tod) so weitergehen“ (wenn ich manchmal so denke, bin ich meistens schon in einer trüben Verfassung; jedenfalls empfinde ich diese Vorstellung als –auch wörtlich genommen- niederdrückend).
Ambivalenzen
[...] Aber mir ist beim Lesen noch einmal aufgegangen, was in meinem vorigen Brief vermutlich überhaupt nicht deutlich geworden ist, dass nämlich für mich Losgelöstheit ein sehr ambivalenter Begriff ist. Er bedeutet nicht nur Freiheit, sondern auch Einsamkeit. Was ich hier schreibe, ist ja meistens mehr oder minder positiv getönt, getragen von der Selbstbeschwörung „Das schaffe ich schon“ bis sogar manchmal hin zu so etwas wie Aufbruchstimmung. Aber im Untergrund schwingt immer mit: „Ich bin jetzt allein.“ In diesem Gedanken sind eine Menge unterschiedliche Stimmungen in immer wieder unterschiedlichen Gewichtungen vereint: die schon genannte Aufbruchstimmung, ein Freiheitsgefühl, Neugier, aber auch Schwermut, Einsamkeit, Selbstmitleid, bis manchmal sogar hin zu so etwas wie Bitterkeit.
Gut, daß Du die zweite, die dunkle Seite, die das Wort für Dich beinhaltet, ergänzt, denn sonst hätte ich Dich tatsächlich nicht verstanden. Auf mich bezogen hatte ich den negativen Aspekt der „Losgelöstheit“, der mir sofort einfiel, mit „Haltlosigkeit“ bezeichnet. Zwei Fragen habe ich dazu -
„Ich schaffe das“, was meinst Du damit? Wenn ich mir diesen Satz in den ersten 2 Jahren (nach dem Tod meines Mannes) gesagt habe, dann hätte er übersetzt gelautet: Ein gutes, ein erfülltes, ein als sinnvoll erfahrenes Leben zu führen – ohne meinen Mann, alleine. Ohne von einem Mann geliebt zu werden. Über „Liebe“ haben wir nie? gesprochen – ich vermute, weil es zu selbstverständlich ist, was soll man darüber auch schon sagen; das heißt aber auch, die Liebe war ein, oder sie war das Fundament. Ich glaube, ihr Fehlen ist in der neuen Situation der größte Mangel. Inzwischen bin ich vom Selbstzuspruch abgekommen, weil er sich in Phasen einer frohen Aufbruchsstimmung erübrigt, und in depressiv gestimmten Phasen setze ich eine diffuse Hoffnung ein, daß sich irgendetwas Unerwartetes schon ereignen wird, entweder in mir oder in Hinsicht auf die Situation, das mein Leben zu einem guten Ende führen wird.
Und kannst Du sagen, warum Du „hier eher mehr oder minder positiv getönt“ schreibst? Ich habe zum Beispiel das Wort „Haltlosigkeit“ aus meinem letzten Brief wieder entfernt, weil ich mir dachte, daß immer ich das Negative ins Gespräch bringe (so bin ich überrascht, die Worte „Bitterkeit“ und „Schwermut“ bei Dir zu lesen, denn ich dachte, nur mich befielen sie gelegentlich) sodaß Du das Gespräch mit mir als runterziehend empfinden könntest. Der zweite Grund allerdings ist keine Vermeidung. Die Aufmerksamkeit auf das Positive zu richten und nicht auf das Dunkle, damit bin ich schlicht und einfach glücklicher, weil ich darüber das Vertrauen in meine Kraft stärke.
Mir ist nicht ganz klar, wieso du da eine Trennung machst, auch wenn du es später noch erläuterst. Was ist denn „Lebensführung allgemein“? Für mich gehört das alles zusammen.
Während ich jetzt überlegt habe, wie ich inhaltlich „Lebensführung“ und „Beziehungen“ unterscheiden würde, ist mir ein Bild vor Augen gekommen. Ich sehe mich, meine Person, vertikal in 2 Hälften geteilt, von denen die eine Hälfte Beziehungen hat, während die andere Hälfte einkauft, zum Tai-Chi geht, zum Unterricht, in ihrer Wohnung am Computer sitzt usw. Was für ein Unsinn :-))). Ich bin eine ungeteilte Person, die Vielfältiges tut. Selbst das Einkaufen ist mit persönlichen sozialen Kontakten verbunden, und am Computer sitzen bedeutet ebenfalls Kontakte zu haben, nämlich virtuelle. Ja, du hast recht, es „gehört alles zusammen“.
F.
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