
Liebe F.,
Nun führt mich diese Erinnerung doch ein Schrittchen weiter, weil mir bewusst wird, daß mir die schriftliche Form der Begegnung fast die liebste ist. Warum eigentlich? Ich kann alle Seiten meines Wesens leicht und mühelos entfalten, während ich mich im persönlichen Kontakt mit mir nicht sehr vertrauten Menschen eher scheu, unsicher und gehemmt fühle.
Das ist bei mir ähnlich, nur aus etwas anderen Gründen. Als ich das Internet für mich entdeckte und dann speziell die Foren, erschloss sich mir plötzlich eine riesige Welt der Kommunikation! Plötzlich gab es Leute, mit denen ich mich über Themen austauschen konnte, die mich interessierten, ohne überflüssigen Smalltalk vorweg, ganz in meinem eigenen (langsamen) Tempo, mit der für mich so notwendigen Distanz, d.h. ich konnte mich jederzeit zurückziehen (zum weiteren Nachdenken oder um das Thema fallen zu lassen), ohne mich erklären zu müssen … es war (und ist, auch wenn die Faszination durch die Gewöhnung etwas nachgelassen hat) herrlich!
Daraus folgt für mich u.a. eine schöne Gewissheit: Ich werde IMMER Kontakte herstellen können, wenn mir danach ist. Und da Distanz für mich kein Mangel, sondern ein Bedürfnis ist, stört mich auch die Virtualität nicht. Natürlich möchte ich nicht nur virtuelle Kontakte haben. Aber die Herstellung persönlicher Kontakte ist ungleich schwieriger, und zum Glück bin ich eben nicht allein darauf angewiesen.
Im Fluss des Lebens
Ich bin tatsächlich auf das Ersetzen ausgerichtet. Was aber bedeutet das? Ich bin nicht sicher, ob ich die richtige Schlussfolgerung ziehe, aber soweit ich es im Moment verstehen kann, bedeutet es, daß ich unverändert bleiben will. Ich nehme meine alten Bedürfnisse in die neue Situation mit hinein und möchte sie durch mehrere Menschen erfüllt sehen?
Ich habe mir die Gegenfrage gestellt: Was bedeutet es, was habe ich gemeint, als ich spontan dachte: Nein, es geht mir nicht um Ersatz? Ich weiß es nicht. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es auch nur annähernd einen Ersatz für das alte Leben geben könnte. Also konnte ich den Gedanken auch gleich aufgeben und mich auf Neues einstellen. Aber eigentlich, wenn ich genauer darüber nachdenke, war es mir gar nicht in den Sinn gekommen, einen Ersatz zu suchen. Darüber habe ich erst in der Folge deiner Überlegungen nachgedacht.
Im Umkehrschluß würde Deine Leitaussage bedeuten, daß Du auch einen inneren Wandel anstrebst. Oder besser noch, Du möchtest Dich und die äußeren Lebensumstände rundherum und umfassend verändern. Verstehe ich Dich richtig?
Ob ich das möchte, weiß ich nicht – ich habe keine Wahl, oder? Das eine bedingt das andere: Wenn die äußeren Umstände sich verändern (und sie haben sich ja verändert!), verändere ich mich zwangsläufig auch. Aber ganz so zwangsläufig, wie ich mir das vorstelle, ist das vielleicht gar nicht? Du sagst, es sei in Ordnung, wenn man dieselbe bleiben möchte (auch wenn das eventuell negative Konsequenzen hat) – also ist es möglich, dieselbe zu bleiben, auch wenn die Umstände sich ändern? Nun ja, in gewisser Weise bleibt man tatsächlich immer dieselbe, aber gleichzeitig ändert man sich auch immer ein wenig. Wir sind lebendige Wesen in einer lebendigen Welt, wir stehen in einem ständigen Austausch mit allem, was uns umgibt, und dies alles hat Auswirkungen auf uns, wenn auch manchmal nur in unmerklichen Nuancen …. Ach, jetzt verwirren sich meine Gedanken und schweifen ab …
Also ja: Ich möchte sowohl mich als auch die Umstände verändern – vielleicht nicht gleich „rundherum und umfassend“, aber doch so, dass ich das Gefühl habe, „im Fluss des Lebens“ zu bleiben. Ich will nicht erstarren.
Dabei geht es mir in diesem Zusammenhang nicht ums Erwachsenwerden, auch wenn ich dieses Thema weiterhin spannend finde. Sondern hier geht es mir mehr um Anpassung. Wasser ist ja eines meiner Lieblingsbilder, und so wie Wasser sich allem anpasst und sich doch gleichbleibt, so ähnlich möchte ich mein Leben führen.
Ambivalenzen
An dem Wort „Losgelöstheit“ bleibe ich hängen, weil es mir, obwohl ich es natürlich kenne, sehr fremd vorkommt. […] „Losgelöstheit“, darin schwingt die Lust an der Eigenständigkeit und der Freiheit mit.
Ja, das schwingt darin mit, ganz bestimmt. Aber mir ist beim Lesen noch einmal aufgegangen, was in meinem vorigen Brief vermutlich überhaupt nicht deutlich geworden ist, dass nämlich für mich Losgelöstheit ein sehr ambivalenter Begriff ist. Er bedeutet nicht nur Freiheit, sondern auch Einsamkeit. Was ich hier schreibe, ist ja meistens mehr oder minder positiv getönt, getragen von der Selbstbeschwörung „Das schaffe ich schon“ bis sogar manchmal hin zu so etwas wie Aufbruchstimmung. Aber im Untergrund schwingt immer mit: „Ich bin jetzt allein.“ In diesem Gedanken sind eine Menge unterschiedliche Stimmungen in immer wieder unterschiedlichen Gewichtungen vereint: die schon genannte Aufbruchstimmung, ein Freiheitsgefühl, Neugier, aber auch Schwermut, Einsamkeit, Selbstmitleid, bis manchmal sogar hin zu so etwas wie Bitterkeit.
Das Wort „Eigen-Sinn“ ist wundervoll, ich kann es wie ein Mantra vor mich hin sprechen, es wirkt. Ich fühle mich sofort eigen-sinnig.
😊
Dieses Wort ist für mich dagegen uneingeschränkt positiv belegt. 😊
Dir schwebt mehr Deine Lebensführung allgemein vor? Die Beziehungen selbst sind zwar nicht ausgeschlossen, stehen aber im Hintergrund?
Mir ist nicht ganz klar, wieso du da eine Trennung machst, auch wenn du es später noch erläuterst. Was ist denn „Lebensführung allgemein“? Für mich gehört das alles zusammen.
Außerdem finde ich, meine Nörgelei (an mir) geht weiter, daß Du in Deinem Brief eine schöne übersichtliche Ordnung schaffst, die ich wieder zerreisse. Neinein, :-))) Du hast mich „schwer ins Grübeln“ gebracht, das ist der Punkt, und nur so kommt man voran. 🏃
Aber du zerreisst doch nichts! Mal steht die Synthese im Vordergrund, dann wieder die Analyse. Beides ist notwendig und ergänzt sich. 🧩
B.
Kommentar hinzufügen
Kommentare