Liebe B.,
Beziehungen
[...] Ich habe trotzdem länger überlegt, ob noch etwas fehlt … Zwei Sachen sind mir eingefallen. Mein Mann hat (im Gegensatz zu mir) gern ab und zu ein Pläuschchen mit Kolleginnen und Kollegen gehalten, deshalb ist er auch als Rentner regelmäßig in die Bibliothek, also seine alte Arbeitsstätte, gegangen. Ich dagegen schreibe (im Gegensatz zu meinem Mann) gern im Internet in Philosophieforen. So haben wir uns beide auch Anregungen von außen geholt – zwar nur kleine Öffnungen in der ansonsten ziemlich geschlossenen Zweisamkeit, aber vielleicht gerade deshalb wichtig?
Es ist zwar keine weiterführende Anmerkung, aber Du hast die zwei Punkte erwähnt, die mir nicht eingefallen sind. Genau diese beiden Öffnungen in gleicher Verteilung hat es bei uns auch gegeben. Mein Mann hat Kontakte zu Arbeitskollegen gepflegt, während ich im Internet in Foren geschrieben habe. Zuerst in zwei katholischen Foren und später in einem Philosophieforum. Daraus haben sich dann im Laufe der Jahre auch intensivere und vertrautere Kontakte entwickelt, d.h. ich habe einige der Menschen, die ich schriftlich schon länger oder sogar lange kannte, später persönlich kennengelernt.
Nun führt mich diese Erinnerung doch ein Schrittchen weiter, weil mir bewusst wird, daß mir die schriftliche Form der Begegnung fast die liebste ist. Warum eigentlich? Ich kann alle Seiten meines Wesens leicht und mühelos entfalten, während ich mich im persönlichen Kontakt mit mir nicht sehr vertrauten Menschen eher scheu, unsicher und gehemmt fühle. Das ist ein Punkt, dem ich nachgehen möchte, aber nicht hier und jetzt in diesem Brief. Ich habe nur den Eindruck, es würde mich voranbringen, wenn ich herausfinde, warum ich mich selber in den beiden Begegnungsformen so derart unterschiedlich erlebe. Festhalten will ich, daß die Öffnung nach „draußen“ in der neuen Situation aus der „Ein-samkeit“ und nicht aus der „Zwei-samkeit“ erfolgt. Das heißt, ohne Auffangnetz.
Du hast das „Alleineleben“ in diesem Zusammenhang ganz konkret oder wörtlich gemeint, nämlich eben ohne den Ehemann – zumindest fährst du so fort, und dass man all das, was vorher der Ehemann erfüllt hat an Beziehungswünschen, nun auf andere verteilen muss (die erst einmal gefunden sein wollen, genau …). Als ich deinen Satz las, wurde mir aber klar, dass ich mich tatsächlich im Alleinleben einrichten möchte. Ich will nicht versuchen, einen „Ersatz“ für mein altes Leben herzustellen. Ich möchte einen Schnitt machen und die veränderte „Situation“ als eine neue annehmen. (Ich taste mich allmählich an ein Verständnis dessen heran, warum mir der Lebensabschnitt so bedeutsam vorkam.)
„Die veränderte Situation als eine neue annehmen“, das nehme ich als Überschrift über die „Beziehungen“ als auch über den „Eigen-Sinn“! „Auf andere verteilen“ – ja, Du hast mich richtig verstanden, und ich habe gar nicht gemerkt, daß ich „Ersatz“ meine. Das bringt mich schwer ins Grübeln. Ich bin tatsächlich auf das Ersetzen ausgerichtet. Was aber bedeutet das? Ich bin nicht sicher, ob ich die richtige Schlussfolgerung ziehe, aber soweit ich es im Moment verstehen kann, bedeutet es, daß ich unverändert bleiben will. Ich nehme meine alten Bedürfnisse in die neue Situation mit hinein und möchte sie durch mehrere Menschen erfüllt sehen? Im Umkehrschluß würde Deine Leitaussage bedeuten, daß Du auch einen inneren Wandel anstrebst. Oder besser noch, Du möchtest Dich und die äußeren Lebensumstände rundherum und umfassend verändern. Verstehe ich Dich richtig?
[...] Es ist auch noch etwas anderes als mein Pendeln zwischen Gesellschaft und Alleinsein. So, wie du es formuliert hast, geht es nicht darum, zu einem Zeitpunkt allein zu sein und sich zu einem anderen Zeitpunkt Gesellschaft zu wünschen. Sondern es gehört zu einem gedeihlichen Alleinleben notwendig hinzu, das Bedürfnis [!] nach Beziehungen wahrzunehmen, es ernst zu nehmen und sich darum zu kümmern.
Jaaa! Und Dein Erkennen geht noch weiter ...
Insofern ist es doch ein wenig eine Fortsetzung des alten Lebens. Meinem Mann und mir war immer sehr bewusst, dass wir unsere Freiräume nur deswegen so genießen konnten, weil wir wussten, wir sind nicht allein, der oder die andere sind „im Hintergrund“ immer da. Jetzt fühle ich mich allein eigentlich ganz wohl, aber nur, weil ich weiß, dass es Menschen gibt, mit denen sich eine gewisse Vertrautheit ausgebildet hat. Es ist der bekannte Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit. Alleinsein ist für eine Introvertierte wie mich der Idealzustand, aber selbst ich möchte nicht einsam sein.
Du schreibst ausdrücklich „ein wenig“ (sei es die Fortsetzung des alten Lebens) und das führt mich zu dem oben erwähnten Aspekt der Selbstveränderung. Die Menschen sind andere in der neuen Situation, die Beziehungen sind andere in der neuen Situation, und man selber muß sich in den Beziehungen auch verändern. Wenn ich dieselbe bleiben möchte, dann ist das zwar in Ordnung, nur werde ich unter dieser Voraussetzung die neue Situation zwangsläufig und dauerhaft als defizitär empfinden. Ich suche und möchte ja dann nur „Ersatz“, der aber nicht möglich ist. Selbst bei dem Bild der „Familie“, die ich mir wünsche, wie ich im vorletzten Brief schrieb, ist es eine Illusion, ein Trugschluß zu glauben, ich könne mich innerhalb einer Gruppe von mir vertrauten Menschen so beschützt fühlen wie von meinem Mann. Anders beschützt, anders geborgen, das wohl, aber dazu muß auch ich mich auf irgendeine Art verändern. Trifft hier das „Erwachsen werden“, wie Du es weiter unten nennst, zu? Wieviel „Losgelöstheit“ erträgt man in Hinsicht auf Beziehungen (die Formulierung spricht schon Bände: „ertragen“).
Eigen-Sinn
Mir ist dazu das Wort Eigen-Sinn eingefallen, und zwar durchaus in seiner doppelten Bedeutung. Ich merke, wie ich immer mehr darauf beharre, mein Leben jetzt so zu gestalten, wie es für mich gut ist, ohne gleichzeitig danach zu gucken, ob das auch für andere passend ist. Das hat einmal damit zu tun, dass ich jetzt nichts mehr, was ich tue, mit meinem Mann absprechen muss, also ganz meinem eigenen Sinn folgen kann (und muss – das ist ja nicht nur eine „Erleichterung“, sondern kann auch eine Last sein, dass man nichts mehr gemeinsam plant, sondern die ganze „Verantwortung“ für sich selbst nun allein trägt).[...] und dass das Ende meiner Arbeitszeit in Sichtnähe rückt. Das ist also auch eine Altersfrage, es kommt da einiges zusammen, was auch ohne den Tod meines Mannes gekommen wäre. Aber ohne seinen Tod wäre ich in diese Phase vermutlich eher schleichend hineingerutscht, es hätte sich vieles von selbst ergeben.
Das Wort „Eigen-Sinn“ ist wundervoll, ich kann es wie ein Mantra vor mich hin sprechen, es wirkt. Ich fühle mich sofort eigen-sinnig. Dir schwebt mehr Deine Lebensführung allgemein vor? Die Beziehungen selbst sind zwar nicht ausgeschlossen, stehen aber im Hintergrund?
Das heißt nicht, dass ich jetzt völlig rücksichtslos nur noch meine eigenen Interessen verfolge. Aber dadurch, dass ich viel mehr als früher darüber nachdenke, was ich eigentlich will, kann ich z.B. besser Prioritäten setzen. Und ich nehme manche Dinge gezielter in Angriff, statt sie, wie früher, einfach laufen zu lassen. Das macht mir manchmal sogar Spaß! Immer mal wieder denke ich: „Das habe ich jetzt entschieden!“ Nicht abgesprochen, nicht einfach geschehen lassen, sondern wirklich entschieden und dann auch getan. Es ist natürlich nicht so, dass ich nicht auch früher Sachen hätte entscheiden können und auch entschieden habe. Aber damals hatte ich nicht dieses Gefühl der Losgelöstheit. Ich hatte immer die Rückversicherung, dass ich alles mit meinem Mann hätte besprechen und regeln können, dass wir uns gegenseitig geholfen hätten, wenn es nicht so geklappt hätte wie beabsichtigt. Diese Rückversicherung habe ich nun nicht mehr, und seltsamerweise fehlt sie mir nicht. Ich fühle mich auf eine unerwartete Weise selbstständig und „erwachsen“, und das gefällt mir.
An dem Wort „Losgelöstheit“ bleibe ich hängen, weil es mir, obwohl ich es natürlich kenne, sehr fremd vorkommt. Die Rückversicherung, die Du, wie ich finde, total gut beschrieben hast, fehlt mir auch nicht. Was mir fehlt ist das „feeling“ der Freude am Eigen-Sinn, was ich ebenfalls toll beschrieben finde. Allerdings erlebst Du es ja auch nicht dauernd und bei jeder von Dir getroffenen Entscheidung, sondern „manchmal“, wie Du sagst. Losgelöstheit“, darin schwingt die Lust an der Eigenständigkeit und der Freiheit mit. Das heißt, losgelöst von einer Bindung, die zwar Halt bedeutet, aber auch Abhängigkeit. Ich hatte einige wenige Male für einige Tage dieses „feeling“ von „ich bin erwachsen“, „ich bin frei“ auch und fand, daß es sich großartig anfühlt!
Wenn ich Deinen Brief lese, dann habe ich den Eindruck, er wäre aus einem Guß, ein abgerundetes Ganzes. Konkreter: Beziehungen, allgemeine Lebensführung und Gestaltung des Alltags bilden für Dich eine Einheit. Ja, das tun sie natürlich auch, nur ist mir während des Schreibens an meinem Brief aufgefallen, daß ich beide Bereiche sehr unterschiedlich erfahre und sie, so vermute ich, aus diesem Grunde auseinanderdividiere. Während der Eigensinn bei der Gestaltung meines Lebensalltags mir selbstverständlich scheint, schwimme ich im Bereich der Beziehungen unsicher herum. „Erwachsen“ erlebe ich mich unter dem Aspekt der Lebensgestaltung und „kindlich“ unter dem Aspekt der Beziehungen. Beziehungen zu gestalten scheint mir viel schwieriger, weil jeder andere Mensch selber ebenso gestaltet wie ich, im Unterschied zu Lebensumständen wie einer Arbeitsstelle (selbst die zeichnet sich nicht durch einen Eigensinn aus wie ein anderer Mensch, dem ich begegne).
Außerdem finde ich, meine Nörgelei (an mir) geht weiter, daß Du in Deinem Brief eine schöne übersichtliche Ordnung schaffst, die ich wieder zerreisse. Neinein, :-))) Du hast mich „schwer ins Grübeln“ gebracht, das ist der Punkt, und nur so kommt man voran. 🏃♀️
F.
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