Liebe F.,
dein letzter Beitrag – also, ich könnte jeden einzelnen Satz (oder besser noch den Beitrag als Ganzes) zitieren, so ungemein komprimiert hast du so viel Wesentliches zusammengefasst! Stattdessen werde ich nur einzelnes herauspicken, um irgendwie mit dieser Fülle zurechtzukommen. 😊
Beziehungen
Das Bedürfnis nach Wärme, Zuwendung, Nähe, Anerkennung, auch das nach lustvollen Streitereien, nach Alltagsgeplänkel, gedanklicher Auseinandersetzung über das Leben und die Welt, ist Dir von Deinem Mann und mir von meinem Mann erfüllt worden. Der Wunsch nach direkter Erkundung der Welt ist durch gemeinsame Reisen, Besuche von Ausstellungen etc., Spaziergänge in der Natur zufriedengestellt worden. Unsere gesamten Lebensbedürfnisse also wurden von einem einzigen Menschen erfüllt. […] Ich bin mir nicht sicher, ob ich bei dem Versuch, die Bedeutung des anderen Menschen, des Ehepartners auf den Punkt zu bringen, nicht maßlos übertreibe und andere wichtige Aspekte ausblende? Widersprich mir gerne!
Du hast es ausgezeichnet auf den Punkt gebracht! Ich habe trotzdem länger überlegt, ob noch etwas fehlt … Zwei Sachen sind mir eingefallen. Mein Mann hat (im Gegensatz zu mir) gern ab und zu ein Pläuschchen mit Kolleginnen und Kollegen gehalten, deshalb ist er auch als Rentner regelmäßig in die Bibliothek, also seine alte Arbeitsstätte, gegangen. Ich dagegen schreibe (im Gegensatz zu meinem Mann) gern im Internet in Philosophieforen. So haben wir uns beide auch Anregungen von außen geholt – zwar nur kleine Öffnungen in der ansonsten ziemlich geschlossenen Zweisamkeit, aber vielleicht gerade deshalb wichtig? Außerdem haben wir es beide immer genossen, wenn unsere Töchter uns besucht haben (was eher selten der Fall war) oder wir sie auf Familienfeiern gesehen haben. Das war (und ist) immer ein sehr lebendiger Blick in eine andere Welt. – Aber ansonsten ist es auch bei uns genauso gewesen, wie du es beschrieben hast.
Ein Punkt, der mich aufhorchen ließ:
[…] das Bedürfnis nach „Beziehung“, das eine wesentliche Rolle bei der Einrichtung im Alleineleben spielt.
Das ist jetzt aus dem Zusammenhang gerissen, aber mich hat das „Dialektische“ in der Formulierung angesprochen. 😊
Du hast das „Alleineleben“ in diesem Zusammenhang ganz konkret oder wörtlich gemeint, nämlich eben ohne den Ehemann – zumindest fährst du so fort, und dass man all das, was vorher der Ehemann erfüllt hat an Beziehungswünschen, nun auf andere verteilen muss (die erst einmal gefunden sein wollen, genau …). Als ich deinen Satz las, wurde mir aber klar, dass ich mich tatsächlich im Alleinleben einrichten möchte. Ich will nicht versuchen, einen „Ersatz“ für mein altes Leben herzustellen. Ich möchte einen Schnitt machen und die veränderte „Situation“ als eine neue annehmen. (Ich taste mich allmählich an ein Verständnis dessen heran, warum mir der Lebensabschnitt so bedeutsam vorkam. 😊)
Ich kann mich aber nur dann im Alleinleben einrichten, also so, dass ich mich darin wohlfühle, wenn ich mich gleichzeitig auch um Beziehungen zu anderen Menschen kümmere. Das ist mir ja nicht unbekannt, aber es so prägnant formuliert zu sehen, hat mich doch ein wenig frappiert. Es ist auch noch etwas anderes als mein Pendeln zwischen Gesellschaft und Alleinsein. So, wie du es formuliert hast, geht es nicht darum, zu einem Zeitpunkt allein zu sein und sich zu einem anderen Zeitpunkt Gesellschaft zu wünschen. Sondern es gehört zu einem gedeihlichen Alleinleben notwendig hinzu, das Bedürfnis [!] nach Beziehungen wahrzunehmen, es ernst zu nehmen und sich darum zu kümmern.
Insofern ist es doch ein wenig eine Fortsetzung des alten Lebens. Meinem Mann und mir war immer sehr bewusst, dass wir unsere Freiräume nur deswegen so genießen konnten, weil wir wussten, wir sind nicht allein, der oder die andere sind „im Hintergrund“ immer da. Jetzt fühle ich mich allein eigentlich ganz wohl, aber nur, weil ich weiß, dass es Menschen gibt, mit denen sich eine gewisse Vertrautheit ausgebildet hat. Es ist der bekannte Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit. Alleinsein ist für eine Introvertierte wie mich der Idealzustand, aber selbst ich möchte nicht einsam sein.
Eigen-Sinn
Das ist, wie ich finde, ein schönes Beispiel, wie der Prozeß der Neugestaltung verläuft. Man handelt eine zeitlang aktiv, dann, nach einer gewissen Zeit beginnt die Reflexionsphase, in der man aus der Handlungsphase Schlüsse zieht, Erkenntnisse gewinnt und sich über die eigenen Wünsche und das weitere Vorgehen klarer wird. Ach, das klingt so schrecklich formal. Mir gefällt es einfach und ja, ich freue mich auch, sollte ich richtigerweise sagen, wie genau Du nach-denkst und Deine Zielvorstellung entwirfst.
Hier bin ich am Wort „Zielvorstellung“ hängengeblieben. Denn normalerweise liegt mir solch strukturiertes Planen gar nicht, ich lebe mehr so in den Tag hinein. (All dieses Nachdenken über das Pendeln beispielsweise findet immer erst im Nachhinein statt.) Aber seit dem Tod meines Mannes denke ich tatsächlich intensiver darüber nach, wie ich eigentlich leben will. Und durch unseren Briefwechsel hat sich das noch verstärkt.
Mir ist dazu das Wort Eigen-Sinn eingefallen, und zwar durchaus in seiner doppelten Bedeutung. Ich merke, wie ich immer mehr darauf beharre, mein Leben jetzt so zu gestalten, wie es für mich gut ist, ohne gleichzeitig danach zu gucken, ob das auch für andere passend ist. Das hat einmal damit zu tun, dass ich jetzt nichts mehr, was ich tue, mit meinem Mann absprechen muss, also ganz meinem eigenen Sinn folgen kann (und muss – das ist ja nicht nur eine „Erleichterung“, sondern kann auch eine Last sein, dass man nichts mehr gemeinsam plant, sondern die ganze „Verantwortung“ für sich selbst nun allein trägt). Außerdem kommt hinzu, dass ich mich ja auch längst nicht mehr um meine Kinder kümmern muss, was die Entscheidungsfreiheit viele Jahre doch ziemlich eingeschränkt hat, und dass das Ende meiner Arbeitszeit in Sichtnähe rückt. Das ist also auch eine Altersfrage, es kommt da einiges zusammen, was auch ohne den Tod meines Mannes gekommen wäre. Aber ohne seinen Tod wäre ich in diese Phase vermutlich eher schleichend hineingerutscht, es hätte sich vieles von selbst ergeben.
Das heißt nicht, dass ich jetzt völlig rücksichtslos nur noch meine eigenen Interessen verfolge. Aber dadurch, dass ich viel mehr als früher darüber nachdenke, was ich eigentlich will, kann ich z.B. besser Prioritäten setzen. Und ich nehme manche Dinge gezielter in Angriff, statt sie, wie früher, einfach laufen zu lassen. Das macht mir manchmal sogar Spaß! Immer mal wieder denke ich: „Das habe ich jetzt entschieden!“ Nicht abgesprochen, nicht einfach geschehen lassen, sondern wirklich entschieden und dann auch getan. Es ist natürlich nicht so, dass ich nicht auch früher Sachen hätte entscheiden können und auch entschieden habe. Aber damals hatte ich nicht dieses Gefühl der Losgelöstheit. Ich hatte immer die Rückversicherung, dass ich alles mit meinem Mann hätte besprechen und regeln können, dass wir uns gegenseitig geholfen hätten, wenn es nicht so geklappt hätte wie beabsichtigt. Diese Rückversicherung habe ich nun nicht mehr, und seltsamerweise fehlt sie mir nicht. Ich fühle mich auf eine unerwartete Weise selbstständig und „erwachsen“, und das gefällt mir. 😊
----
Danke für Dein Beispiel !!! Daß ich es so meinte, genau so, das ist mir erst beim Lesen Deiner Erfahrung richtig klar geworden. Ich bin ganz glücklich darüber, diesen Knoten, den ich bisher nie habe entwirren können, endlich aufgelöst zu sehen. Da habe ich ergebnislos gegründelt, gegrübelt und Dir, soweit ich mich erinnere, manchmal etwas hilflos Erklärungsversuche gegeben, und tatsächlich aber ist es schlicht und einfach das einschneidende Ereignis, von dem ich meinte, es würde die (meine) neue Person wie Phönix aus der Asche hervorbringen.
😊
Ja, man kann im Leben nichts „überspringen“, es muss sich alles entwickeln, und das braucht Zeit. Das „Gefährliche“ an dieser Langsamkeit ist, dass Entwicklungen auch steckenbleiben können, wenn man sie nicht wenigstens ein bisschen aktiv fördert.
Heute ist mir so gar nicht zum Nachdenken über Trauer, deshalb lasse ich deinen letzten Abschnitt unberücksichtigt. Nur dein letzter Satz – „Ich will leben und du bleibst ein Teil von mir“ – wie schriebst du? Ein emphatisches „Ja“! 😊
B.
Kommentar hinzufügen
Kommentare