Brief 25 | Umkreisungen

Liebe B., 🌺

Beziehungen

Wenn ich recht darüber nachdenke, setzt dieser Traum eigentlich das fort, was mein Mann und ich unser ganzes Leben lang mehr oder minder gelebt haben. Wir waren Einzelgänger, fast ohne Freunde oder Bekannte (aber erstaunlicherweise (zu unserem eigenen Erstaunen) mit Kindern). Mein Mann fragte alle paar Jahre mal, ob ich mich durch dieses Leben nicht zu sehr eingeschränkt fühlte – er hatte immer die Befürchtung, dass er die treibende Kraft dabei sei und mich „am Leben hindere“. Und manchmal war ich mir selbst nicht sicher, ob ich nicht vielleicht tatsächlich, mit einem anderen Mann, Spaß daran gehabt hätte, mehr „im Leben“ zu stehen. Aber jetzt merke ich, wie sehr dieser Rückzug auch meinem eigenen Charakter entsprochen hat, denn ich möchte ihn fortsetzen und, wenn möglich, noch steigern.

Ich möchte Deine Darstellung vor dem Hintergrund meiner Erfahrung ein bisschen ausführen. Das Bedürfnis nach Wärme, Zuwendung, Nähe, Anerkennung, auch das nach lustvollen Streitereien, nach Alltagsgeplänkel, gedanklicher Auseinandersetzung über das Leben und die Welt, ist Dir von Deinem Mann und mir von meinem Mann erfüllt worden. Der Wunsch nach direkter Erkundung der Welt ist durch gemeinsame Reisen, Besuche von Ausstellungen etc., Spaziergänge in der Natur zufriedengestellt worden. Unsere gesamten Lebensbedürfnisse also wurden von einem einzigen Menschen erfüllt. Mein Verhalten, niemals „wir“ zu sagen und niemals von „meinen“ Mann zu sprechen –als er noch gelebt hat- kommen mir jetzt albern vor, wie überflüssige Täuschungsmanöver, mit denen ich versucht habe, der Tatsache entgegenzusteuern, daß ich mich durch seine Person rundherum habe versorgen lassen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich bei dem Versuch, die Bedeutung des anderen Menschen, des Ehepartners auf den Punkt zu bringen, nicht maßlos übertreibe und andere wichtige Aspekte ausblende? Widersprich mir gerne!  

Innerhalb der Ehe ist es uns durch die unverbrüchliche Anwesenheit des Mannes zugleich ermöglicht worden, dem ausgeprägten Wunsch nach Alleinesein und nach der Beschäftigung mit den nur eigenen Interessen ebenso nachzukommen.

Nun sind wir auf einmal alleine, und mir wird jetzt, während des Schreibens, erst so richtig bewusst, was für eine riesige Aufgabe, d.h. Herausforderung eigentlich darin –im neuen Alleineleben- liegt, weil die gesamte Ordnung und Organisation, hauptsächlich die der Seele/Psyche, weniger wohl die der Lebensführung, komplett neu gestaltet werden muß. „Transformation“ passt wirklich gut – die alte Formation, die zum Teil zerstört ist, geduldig (puuuh) in eine neue umzubauen.  

Es finden bei mir gerade zwei gegenläufige Prozesse statt, weshalb ich vielleicht auch etwas verwirrt bin. Einerseits haben sich nach dem Tod meines Mannes einige neue Kontakte ergeben, die ich teilweise auch aktiv gesucht und gefördert habe, weil ich dachte, das würde mir gut tun (was auch so war!) – tatsächlich hatte ich in den vergangenen Monaten mehr unterschiedliche Sozialkontakte als in vielen Jahren davor zusammen. Gleichzeitig merke ich, wie es wieder so abzulaufen beginnt wie immer – es wird mir eigentlich schon wieder zu viel. Und es werden mir nicht nur die neuen Kontakte zu viel (du ausgenommen!!! Du bist die Einzige, bei der ich wirklich „bleiben möchte“ , sondern zusätzlich jetzt auch die Arbeit, die Familie, ja eigentlich die ganze Welt … Deshalb mein Wunsch nach der Einsiedelei (mehr noch als nach dem Kloster) – weil ich dort „meine Ruhe“ hätte.

Du hast die Situation schneller erfaßt und bist auch zugreifender im Handeln als ich damals –vor ca. 4 Jahren-. Mit „Situation“ meine ich das Bedürfnis nach „Beziehung“, das eine wesentliche Rolle bei der Einrichtung im Alleineleben spielt. Alle Wünsche, die Jahrzehnte von einer einzigen Person erfüllt wurden, müssen nun auf mehrere Personen, die erst einmal zu suchen sind, verteilt werden. Darüberhinaus trifft man in allen neuen Beziehungen auf die Anderen als nur „fremde“, d.h. eigenständige Personen, denen man ebenfalls nur als eigenständige Person begegnet. Das Moment des „wie eine Person sein“ fällt weg. Ich muß dies, glaube ich, konkretisieren, weil es sonst allzu nebulös und damit unverständlich bleibt, was ich meine. Den Kontakt mit dem Ehemann muß man nicht „pflegen“, wie wir umgangssprachlich sagen, und auch die nähere Gestaltung der Beziehung muß, insbesondere nach vielen gemeinsamen Jahren, nicht ständig neu verhandelt und austariert werden. Was sind meine, was sind deine Interessen, was sind deine, meine Vorlieben, Abneigungen, welche Nähe, welche Abstände brauchen wir gegenseitig, wieviel Dissenz, Dissonanz, Harmonie vertragen wir, welche Rollen nehmen wir ein usw. usf. All dies läuft beiläufig mühelos nebenher, und dies alles aber ist nun in jeder neuen Beziehung, sofern sie nicht ganz unverbindlich bleiben soll, ungeklärt – sie erfordern Kraft und Aufmerksamkeit; manchmal ist es anregend und aufregend, und manchmal mündet es in Erschöpfung und belastet. Wenn man Ruhe vor dem Ehemann haben möchte, zieht man sich für ein Weilchen zurück und kommt wieder raus, sobald man genug hat – der Ehemann ist immer noch da. Bei Beziehungen, die neu sind, kann man da nicht so sicher sein.          

lch nehme an, dass dies Teil meiner üblichen Pendelbewegung ist (die wegen der ungewohnten Fülle an Kontakten jetzt umso heftiger in die entgegengesetzte Richtung ausschlägt), was bedeutet, dass das Pendel vom Pol des extremen Einsamkeitsbedürfnisses auch wieder zurückschwingen wird zum (längst nicht so extremen) Kontaktbedürfnis. Das ist auch der Grund, warum ich diesen Traum nicht in die Wirklichkeit umsetzen möchte – was, wie du zu Recht sagst, ja durchaus im Bereich des Möglichen läge. Aber ich möchte mich nicht in ein Extrem zurückziehen, ich möchte lieber ein Gleichgewicht herstellen. Kein Gleichgewicht im Sinne von 50 : 50, sondern mehr nach meinem Bedürfnis, also vielleicht 70 : 30 oder sogar 80 : 20.

Das ist, wie ich finde, ein schönes Beispiel, wie der Prozeß der Neugestaltung verläuft. Man handelt eine zeitlang aktiv, dann, nach einer gewissen Zeit beginnt die Reflexionsphase, in der man aus der Handlungsphase Schlüsse zieht, Erkenntnisse gewinnt und sich über die eigenen Wünsche und das weitere Vorgehen klarer wird. Ach, das klingt so schrecklich formal. Mir gefällt es einfach und ja, ich freue mich auch, sollte ich richtigerweise sagen, wie genau Du nach-denkst und Deine Zielvorstellung entwirfst.        

In diesem Traum steckt ja auch ein starkes negatives Moment der Weltflucht, dem ich nicht so vollständig nachgeben möchte. (Gestern las ich, dass in der Weltflucht, im buddhistischen Sinne, auch ein Anhaften vorliegt. Das überraschte mich, hatte ich doch in einer Art von Selbstbetrug gedacht, ich wäre damit auf dem Weg, mich von allem zu lösen.)

Weil ich den Eindruck habe, dies könne ein Thema „für sich“ sein, das den Brief überfrachten würde, deswegen möchte ich Dir an dieser Stelle nur kurz, aber nachdrücklich zustimmen. Ablehnung, Abwehr, Verneinung, Angst, Vermeidung (Flucht) – das sind sehr starke Bindungen, „Klebstoffe“ mit bester („An-) Haft“- Wirkung.  

Als ich schwanger war, stellte ich mir vor, wie das Muttersein mich schlagartig verändern würde – wie ich selbstbewusst, stark, kämpferisch werden würde, denn schließlich hatte ich für ein Kind zu sorgen! Stattdessen blieb ich die, die ich war. Transformationen, wenn es denn welche gab, geschahen langsam, unmerklich.

Mit dieser Erinnerung meine ich endlich zu begreifen, was du dir vorgestellt hast, wie du dich nach dem Tod deines Mannes verändern würdest. Ich hatte das anfangs überhaupt nicht verstanden. Meine erste Assoziation, dass der Tod deines Mannes für dich eine Befreiung sein könnte (hatte er dich irgendwie „klein gehalten“, dein Selbstbewusstsein untergraben?) stellte sich schnell als falsch heraus. Nein, du meintest es so ähnlich wie ich mit dem Muttersein, nicht wahr? Dass solch ein einschneidendes Ereignis einen schlagartig, sozusagen von außen verändert?

Danke für Dein Beispiel !!! Daß ich es so meinte, genau so, das ist mir erst beim Lesen Deiner Erfahrung richtig klar geworden. Ich bin ganz glücklich darüber, diesen Knoten, den ich bisher nie habe entwirren können, endlich aufgelöst zu sehen. Da habe ich ergebnislos gegründelt, gegrübelt und Dir, soweit ich mich erinnere, manchmal etwas hilflos Erklärungsversuche gegeben, und tatsächlich aber ist es schlicht und einfach das einschneidende Ereignis, von dem ich meinte, es würde die (meine) neue Person wie Phönix aus der Asche hervorbringen.    

Ist es nicht merkwürdig, wie bei uns alte Muster wieder auftauchen, klarer werden, sich verstärken? Ich finde das faszinierend. Und ich glaube, das wäre mir niemals so deutlich geworden, wenn ich nicht durch unseren Briefwechsel immer wieder hätte in Worte fassen müssen, was ich oft nur undurchsichtig fühle. Und durch dein Nachfragen, dadurch, dass du mir ein zugewandtes Gegenüber bist, „zwingst“ du mich zu Genauigkeit und Ehrlichkeit, vor allem mir selbst gegenüber. 

Ein emphatisches „Ja“! 

 

Trauer

Ich bin ganz überrascht, dass du von einem abgeschlossenen Trauerprozess sprichst.

Es waren einige äußere Anstöße, die auf ein offenes Ohr bei mir getroffen sein müssen, sodaß ich auf einmal, urplötzlich dachte, was ich da eigentlich so treibe, wenn wir über Monate hinweg über das Trauern, die Trauer reden, ohne vorher eine *räusper* theoretisch begriffliche und systematische Klärung dessen vorgenommen zu haben, was „Trauer“ ist. Die Bemerkung vom „abgeschlossenen Trauerprozeß“ war ein Nach-Reden, um das Wort „nachplappern“ zu vermeiden, von einem „aufgelesenen“ (wörtlich + metaphorisch) Begriff.      

Ich hatte bis jetzt gedacht, dass die Trauer mich für den Rest meines Lebens begleiten wird – schwächer werdend, manchmal kaum noch wahrnehmbar, dann plötzlich wieder aufbrechend, wieder abebbend, aber nie ganz weg …

Ich wünsche mir, daß ich den Schmerz immer werde fühlen können, weil ich nur über ihn, glaube ich, zugleich diese kurzen und seltenen Momente von tiefer Freude und Dankbarkeit für mein Leben empfinden kann, die Highlights ...

Aber vielleicht sollte man diese Art des Trauerns von einem eigentlichen Trauerprozess unterscheiden. Was wäre der Unterschied? Trauer wären die – na ja, eben traurigen Gefühle, die einen begleiten und die immer mal wieder hochkommen. Der Trauerprozess dagegen wäre eine aktive Auseinandersetzung mit der neuen Lebenssituation. Wobei ich unter „aktiv“ nicht nur irgendwelche „konstruktiven“ Vorgehensweisen verstehe, sondern auch solche Sachen wie plötzliches in Tränen ausbrechen, wütend sein, nicht mehr weiter wissen – halt alles, bei dem einem die neue Situation bewusst wird, und mit dieser Bewusstwerdung auch schon so etwas wie ein Sichgewöhnen einsetzt. Oftmals wider eigenen Willen, aber eben doch … Das Leben lebt uns.

In der vorvorigen Woche habe ich in dem Buch von Anne Philipe, „Nur einen Seufzer lang“ wieder einmal herumgeblättert und bin am allerletzten Satz des Buches hängengeblieben: „Ich will mich retten, nicht mich von dir befreien“. Darin finde ich, sind die beiden, von Dir genannten Aspekte schön verdichtet zusammengefasst. Sie hat den Text ungefähr 2 Jahre nach dem Tod ihres Mannes geschrieben und daher rührt, glaube ich, der Ausdruck „retten“. Ich würde anstelle dessen lieber sagen: „Ich will leben, nicht mich von dir befreien“. Noch eigener, "ich will leben und du bleibst ein Teil von mir". Es klingt vielleicht ein bisschen theatralisch ... ist aber deswegen nicht weniger zutreffend.  

F.

 

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