Brief 24 | Transformationen

Liebe F.,

Ich greife Deine konkreten „Extrem“-Beispiele auf, weil ich so gerne wissen möchte, was Du mit der Vorstellung, in einem Schweigekloster oder in einer Eremitenklause zu leben, verbindest? (nur nebenbei, spektakulär wäre der Wechsel in ein klösterliches Leben, für das die Gleichförmigkeit ein typisches Merkmal ist). Es geht doch um die Verknüpfung der äußeren Lebensumstände mit dem „feeling“? Und warum bezeichnest Du diese Idee als „geheimen Traum“? Er ist in die Wirklichkeit umzusetzen (im Unterschied zu dem Traum, Lottomillionärin oder Raumfahrerin werden zu wollen).

Wenn ich recht darüber nachdenke, setzt dieser Traum eigentlich das fort, was mein Mann und ich unser ganzes Leben lang mehr oder minder gelebt haben. Wir waren Einzelgänger, fast ohne Freunde oder Bekannte (aber erstaunlicherweise (zu unserem eigenen Erstaunen) mit Kindern). Mein Mann fragte alle paar Jahre mal, ob ich mich durch dieses Leben nicht zu sehr eingeschränkt fühlte – er hatte immer die Befürchtung, dass er die treibende Kraft dabei sei und mich „am Leben hindere“. Und manchmal war ich mir selbst nicht sicher, ob ich nicht vielleicht tatsächlich, mit einem anderen Mann, Spaß daran gehabt hätte, mehr „im Leben“ zu stehen. Aber jetzt merke ich, wie sehr dieser Rückzug auch meinem eigenen Charakter entsprochen hat, denn ich möchte ihn fortsetzen und, wenn möglich, noch steigern.

Es finden bei mir gerade zwei gegenläufige Prozesse statt, weshalb ich vielleicht auch etwas verwirrt bin. Einerseits haben sich nach dem Tod meines Mannes einige neue Kontakte ergeben, die ich teilweise auch aktiv gesucht und gefördert habe, weil ich dachte, das würde mir gut tun (was auch so war!) – tatsächlich hatte ich in den vergangenen Monaten mehr unterschiedliche Sozialkontakte als in vielen Jahren davor zusammen. Gleichzeitig merke ich, wie es wieder so abzulaufen beginnt wie immer – es wird mir eigentlich schon wieder zu viel. Und es werden mir nicht nur die neuen Kontakte zu viel (du ausgenommen!!! Du bist die Einzige, bei der ich wirklich „bleiben möchte“ 😊), sondern zusätzlich jetzt auch die Arbeit, die Familie, ja eigentlich die ganze Welt … Deshalb mein Wunsch nach der Einsiedelei (mehr noch als nach dem Kloster) – weil ich dort „meine Ruhe“ hätte.

Ich nehme an, dass dies Teil meiner üblichen Pendelbewegung ist (die wegen der ungewohnten Fülle an Kontakten jetzt umso heftiger in die entgegengesetzte Richtung ausschlägt), was bedeutet, dass das Pendel vom Pol des extremen Einsamkeitsbedürfnisses auch wieder zurückschwingen wird zum (längst nicht so extremen) Kontaktbedürfnis. Das ist auch der Grund, warum ich diesen Traum nicht in die Wirklichkeit umsetzen möchte – was, wie du zu Recht sagst, ja durchaus im Bereich des Möglichen läge. Aber ich möchte mich nicht in ein Extrem zurückziehen, ich möchte lieber ein Gleichgewicht herstellen. Kein Gleichgewicht im Sinne von 50 : 50, sondern mehr nach meinem Bedürfnis, also vielleicht 70 : 30 oder sogar 80 : 20. In diesem Traum steckt ja auch ein starkes negatives Moment der Weltflucht, dem ich nicht so vollständig nachgeben möchte. (Gestern las ich, dass in der Weltflucht, im buddhistischen Sinne, auch ein Anhaften vorliegt. Das überraschte mich, hatte ich doch in einer Art von Selbstbetrug gedacht, ich wäre damit auf dem Weg, mich von allem zu lösen.)

Wie Du weißt, habe ich diese Vorstellung nie entwickelt. Die Vision der Veränderung war ausschließlich auf mich gerichtet, mich als selbstbewusste Frau zu fühlen, die das Minderwertigkeitsgefühl endlich ablegt. So, als wollte ich mit dieser Veränderung den Wechsel markieren.

Als ich schwanger war, stellte ich mir vor, wie das Muttersein mich schlagartig verändern würde – wie ich selbstbewusst, stark, kämpferisch werden würde, denn schließlich hatte ich für ein Kind zu sorgen! Stattdessen blieb ich die, die ich war. Transformationen, wenn es denn welche gab, geschahen langsam, unmerklich.

Mit dieser Erinnerung meine ich endlich zu begreifen, was du dir vorgestellt hast, wie du dich nach dem Tod deines Mannes verändern würdest. Ich hatte das anfangs überhaupt nicht verstanden. Meine erste Assoziation, dass der Tod deines Mannes für dich eine Befreiung sein könnte (hatte er dich irgendwie „klein gehalten“, dein Selbstbewusstsein untergraben?) stellte sich schnell als falsch heraus. Nein, du meintest es so ähnlich wie ich mit dem Muttersein, nicht wahr? Dass solch ein einschneidendes Ereignis einen schlagartig, sozusagen von außen verändert?

Aber jetzt habe ich, den „geheimen Traum“ ernst nehmend, über die Konkretion nachgedacht. Ich möchte 4-5 Menschen haben, mit denen ich mich ähnlich vertraut, und bei denen ich mich ungefähr so geborgen fühlen kann, wie ich es mit meinem Mann erlebt habe. „Familie“ ist eigentlich das passende Wort. Zusammenleben möchte ich mit ihnen allerdings gar nicht; insofern ist es ist die schon sehr alte, neu aufgelegte Idee von der innigen Bindung und der Unabhängigkeit.

Ist es nicht merkwürdig, wie bei uns alte Muster wieder auftauchen, klarer werden, sich verstärken? Ich finde das faszinierend. Und ich glaube, das wäre mir niemals so deutlich geworden, wenn ich nicht durch unseren Briefwechsel immer wieder hätte in Worte fassen müssen, was ich oft nur undurchsichtig fühle. Und durch dein Nachfragen, dadurch, dass du mir ein zugewandtes Gegenüber bist, „zwingst“ du mich zu Genauigkeit und Ehrlichkeit, vor allem mir selbst gegenüber.

Warum ich die Möglichkeiten, meinen Wunsch zu realisieren, nicht zielstrebig aufgegriffen und weitergeführt habe, das weiß ich –noch- nicht. Du bist jedenfalls der erste Mensch seit dem Tod meines Mannes, mit dem ich mich wohl fühle und bei dem ich bleiben möchte.

😊

Übrigens passt das Wort “Abschnitt“, in dem doch etwas Gewaltsames mitschwingt, ausgezeichnet, wie ich finde, zu Deinem Wunsch, die Zäsur durch eine Veränderung Deiner Lebensumstände deutlich sichtbar zu machen.      

Aber wenn ich das mit deiner damaligen Vision einer selbstbewussten Frau vergleiche, wundere ich mich doch ein wenig, warum ich so sehr auf eine äußerlich sichtbare Veränderung fixiert bin. Das entspricht eigentlich gar nicht meinem Wesen … *grübel*

Ich würde Deinen Satz gerne verstehen, weiß aber nicht, ob ich ihn richtig verstehe. Inwiefern beinhaltet die neugierige (nicht ängstliche) Frage schon einen Teil dessen, worauf Du gespannt warst? Meinst Du, Du warst gespannt darauf, ob Du jemals ein Interesse an einem neuen, eigenen Leben entwickeln würdest?    

Nein, nicht ganz. Ich war mehr „neutral“ neugierig darauf, wie ich auf diesen Schicksalsschlag wohl reagieren würde. So, als ob ich mir selbst unbekannt bin und nun die Gelegenheit hatte, mich besser kennenzulernen. Man kann ja über sich selbst durchaus Illusionen haben (in diesem Zusammenhang wäre das bei mir z. B. „ich bin stark“, „ich bin stabil“), die sich aber im Ernstfall als eben das, nämlich Illusionen, herausstellen. Wie man wirklich ist, zeigt sich ja erst im konkreten Ernstfall. Es hätte mich also nicht erstaunt, wenn ich entgegen meinem Selbstbild komplett zusammengebrochen wäre. Auch das hätte meine Neugier „befriedigt“, weil es mir etwas über mich selbst erzählt hätte.

 

Wann ist der Trauerprozeß denn abgeschlossen? Wenn man ins Leben zurückgekehrt ist. Wie äußert sich das? Wir haben doch weitergelebt und Du noch mehr als ich warst erstaunt, daß das Leben so weitergeht wie zuvor auch, obwohl nichts mehr so ist wie vorher. Was bedeuten würde, daß Trauern und Rückkehr ins Leben parallel verlaufen?

Ich versuche mich zu erinnern: Meine Liebe für meinen Mann zu fühlen und den Schmerz, weil er weggegangen ist, weil er nicht bei mir ist, das würde ich als „trauern“ bezeichnen. Zugleich war aber jede Minute ohne ihn, jede Handlung, die ich alleine vollzogen habe, bereits eine Zuwendung zum Leben, also ein Schritt(chen) bei der Rückkehr ins Leben.

Ich bin ganz überrascht, dass du von einem abgeschlossenen Trauerprozess sprichst. Ich hatte bis jetzt gedacht, dass die Trauer mich für den Rest meines Lebens begleiten wird – schwächer werdend, manchmal kaum noch wahrnehmbar, dann plötzlich wieder aufbrechend, wieder abebbend, aber nie ganz weg …

Aber vielleicht sollte man diese Art des Trauerns von einem eigentlichen Trauerprozess unterscheiden. Was wäre der Unterschied? Trauer wären die – na ja, eben traurigen Gefühle, die einen begleiten und die immer mal wieder hochkommen. Der Trauerprozess dagegen wäre eine aktive Auseinandersetzung mit der neuen Lebenssituation. Wobei ich unter „aktiv“ nicht nur irgendwelche „konstruktiven“ Vorgehensweisen verstehe, sondern auch solche Sachen wie plötzliches in Tränen ausbrechen, wütend sein, nicht mehr weiter wissen – halt alles, bei dem einem die neue Situation bewusst wird, und mit dieser Bewusstwerdung auch schon so etwas wie ein Sichgewöhnen einsetzt. Oftmals wider eigenen Willen, aber eben doch … Das Leben lebt uns.

B.

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