Brief 23 | Fragen über Fragen

Liebe B.,

Lebensabschnitt

Dem steht allerdings entgegen, dass ich das starke, aber diffuse (danke für dieses Wort) Gefühl habe, dieses Leben, so wie ich es jetzt führe, passt nicht mehr zu mir. Ich habe das Gefühl, dass ein Umbruch nötig ist, auch wenn ich keine Vorstellung davon habe, wie der aussehen sollte. Das wäre dann vielleicht doch etwas Spektakuläreres? Ich will das aber nicht forcieren, nur offen sein, falls sich in diese Richtung was tut. Was mich aber irgendwie enttäuschen würde, wäre, wenn mein Leben die nächsten Jahre und Jahrzehnte einfach so weiterläuft wie jetzt, so wie immer, nur ohne meinen Mann. Dazu war dieses „Erlebnis“ (sein Tod) zu einschneidend. Ich habe das Bedürfnis, diesen „Einschnitt“ in meinen Lebensumständen sichtbar zu machen.

Das ist ein s o spannender Punkt! Weil Du, seit wir uns kennen, immer wieder von Deinem Wunsch erzählst (mit diskreten „Variationen in der Wiederholung“), Deine Lebensumstände erkennbar zu verändern, weil Dir die jetzige Lebensweise auf irgendeine Art unpassend zu sein scheint. Es ist wie ein Motiv, der rote Faden, der Deine Suche durchzieht.    

Mein geheimer Traum jetzt als „unabhängiger Single“ ist nicht die Weltreise, sondern das Schweigekloster oder die Einsiedlerklause (natürlich mit Internetanschluss ), um es mal ganz extrem zu formulieren.

Ich greife Deine konkreten „Extrem“-Beispiele auf, weil ich so gerne wissen möchte, was Du mit der Vorstellung, in einem Schweigekloster oder in einer Eremitenklause zu leben, verbindest? (nur nebenbei, "spektakulär" wäre der Wechsel in ein klösterliches Leben, für das die "Gleichförmigkeit" ein typisches Merkmal ist). Es geht doch um die Verknüpfung der äußeren Lebensumstände mit dem „feeling“? Und warum bezeichnest Du diese Idee als „geheimen Traum“? Er ist in die Wirklichkeit umzusetzen (im Unterschied zu dem Traum, Lottomillionärin oder Raumfahrerin werden zu wollen).

 

Wie Du weißt, habe ich diese Vorstellung nie entwickelt. Die Vision der Veränderung war ausschließlich auf mich gerichtet, mich als selbstbewusste Frau zu fühlen, die das Minderwertigkeitsgefühl endlich ablegt. So, als wollte ich mit dieser Veränderung den Wechsel markieren. Aber jetzt habe ich, den „geheimen Traum“ ernst nehmend, über die Konkretion nachgedacht. Ich möchte 4-5 Menschen haben, mit denen ich mich ähnlich vertraut, und bei denen ich mich ungefähr so geborgen fühlen kann, wie ich es mit meinem Mann erlebt habe. „Familie“ ist eigentlich das passende Wort. Zusammenleben möchte ich mit ihnen allerdings gar nicht; insofern ist es ist die schon sehr alte, neu aufgelegte Idee von der innigen Bindung und der Unabhängigkeit.

Warum ich die Möglichkeiten, meinen Wunsch zu realisieren, nicht zielstrebig aufgegriffen und weitergeführt habe, das weiß ich –noch- nicht. Du bist jedenfalls der erste Mensch seit dem Tod meines Mannes, mit dem ich mich wohl fühle und bei dem ich bleiben möchte.

 

Mir spukt immer wieder das Wort Lebensabschnitt durch den Kopf. Als meine Mutter Witwe wurde und anfangs damit nicht zurechtkam, sagte ihre Therapeutin mal zu ihr, sie solle es so betrachten, dass nun ein neuer Lebensabschnitt für sie begänne. Ob sie das damals hat akzeptieren können, weiß ich gar nicht, aber nun, wo ich in einer ähnlichen Situation bin, kam mir dieses Wort wieder in den Sinn und ich fand es „interessant“, ohne dass ich genauer erläutern könnte, was mich dabei so anspricht. Ich habe schon länger darüber nachgedacht, wir hatten es auch schon in unseren E-Mails thematisiert, aber eben erst habe ich die wörtliche Bedeutung bemerkt: Lebens-Abschnitt – eine sehr lange Phase ist abgeschnitten worden, nun beginnt eine andere, neue.

„Abschnitt“, dazu assoziere ich „Abschneiden“ - meiner Wurzeln. Eines Stückes meiner Wurzeln, der Wurzelspitzen (das Bild des Zahnes). Für Dein Verständnis vom „Lebensabschnitt“ sehe ich das Bild einer Schnur, bei der die Farbe wechselt. Übrigens passt das Wort “Abschnitt“, in dem doch etwas Gewaltsames mitschwingt, ausgezeichnet, wie ich finde, zu Deinem Wunsch, die Zäsur durch eine Veränderung Deiner Lebensumstände deutlich sichtbar zu machen.      

[...] vielleicht nicht von Anfang an, aber doch ziemlich bald so etwas wie neugierig gewesen. Wie mag es jetzt weitergehen mit mir? Das ist keine bange, sondern eine neugierige Frage. Und allein, dass ich die Frage so stellen kann, ist schon ein Teil dessen, worauf ich gespannt gewesen bin. – Das ist kein entschiedenes „Ja“, aber auch kein eindeutiges „Nein“.

Ich würde Deinen Satz gerne verstehen, weiß aber nicht, ob ich ihn richtig verstehe. Inwiefern beinhaltet die neugierige (nicht ängstliche) Frage schon einen Teil dessen, worauf Du gespannt warst? Meinst Du, Du warst gespannt darauf, ob Du jemals ein Interesse an einem neuen, eigenen Leben entwickeln würdest?    

 

Trauer

Mir hat geholfen, von vielen verschiedenen Reaktionsweisen zu erfahren, woraus sich für mich ergab, dass keine richtig oder verkehrt ist, sondern Menschen einfach unterschiedlich reagieren. Das gab mir die Sicherheit zurück, dass auch meine Reaktionsweise in Ordnung ist. Sie passt einfach zu mir. Um es mit einem Lieblingswort von mir, das ich erst vor ein paar Jahren kennengelernt habe, auszudrücken: diese Reaktionsweise gehört zu meinem idiosynkratischen, also eigentümlichen (so die Worterklärung in Wikipedia – schöne Doppelbedeutung) Verhaltensrepertoire.

Hat es damit zu tun, daß Du Deine Eigentümlichkeiten durch das fremd aussehende und fremd klingende Wort aufgewertet findest? Was im Deutschen einen Anflug von „Macken“ haben könnte –trotz der schönen Doppelbedeutung des Wortes- wird durch die Verfremdung in den Rang von eindeutigen Besitz- oder Reichtümern erhoben. So geht es mir mit manchen Fremdwörtern, von denen mir dummerweise jetzt keins einfällt. Mich interessiert aber Deine Erklärung.  

Ja, dieser Zweifel, ob ich wohl „richtig“ trauere bzw. das Gefühl, es eben nicht zu tun, war eine relativ unbekannte Erfahrung für mich und hat mich ziemlich verunsichert.

Wir haben so häufig über die Trauer und das Trauern gesprochen, aber erst neulich im Gespräch über „Gefühle“ ist mir bewusst geworden, daß Trauern gar kein Gefühl, sondern ein komplexer Prozeß ist. Traurigkeit (das Gefühl) gehört dazu, aber es sind weitere Gefühle, Gedanken und Aktivitäten daran beteiligt.

Wann ist der Trauerprozeß denn abgeschlossen? Wenn man ins Leben zurückgekehrt ist. Wie äußert sich das? Wir haben doch weitergelebt und Du noch mehr als ich warst erstaunt, daß das Leben so weitergeht wie zuvor auch, obwohl nichts mehr so ist wie vorher. Was bedeuten würde, daß Trauern und Rückkehr ins Leben parallel verlaufen?

Ich versuche mich zu erinnern: Meine Liebe für meinen Mann zu fühlen und den Schmerz, weil er weggegangen ist, weil er nicht bei mir ist, das würde ich als „trauern“ bezeichnen. Zugleich war aber jede Minute ohne ihn, jede Handlung, die ich alleine vollzogen habe, bereits eine Zuwendung zum Leben, also ein Schritt(chen) bei der Rückkehr ins Leben.

Abgesehen davon, daß das Bild eines „Schnittes“ zwischen „Trauer“ und „Rückkehr“ das Prozeßhafte nicht berücksichtigt, scheint mir die Neugier, die Du ins Spiel bringst, ein guter Hinweis, wie man den Wechsel bemerkt. Man fängt an, sich in positiver Weise für die Zukunft zu interessieren.

Mich beschäftigt diese Frage, so vermute ich, weil sowohl die Trauer als auch der Wechsel bereits in der Vergangenheit liegen, ich mich aber im neuen Lebensabschnitt nicht „zuhause“ fühle.  

 

Liebe B., dies ist ein Brief mit neugierigen Fragen an Dich und auch der Selbstbefragung geworden -             

F.

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