Liebe F.,
Lebensabschnitt
Schwieriger zu entdecken sind die fehlenden Ergänzungen, wenn die Auswirkungen nicht derart eklatant sind. Du sagst immer wieder, das „Ganzheitsempfinden“ würde Dir fehlen, ohne zu wissen, was denn genau fehlt, um Dich als Ganzes zu fühlen (außer Deinem Mann als das Fehlende natürlich). Nichts Augenfälliges erklärt das diffuse Halbheitsgefühl (falls ich Dich richtig verstehe). Ich könnte mir vorstellen, daß ähnlich langsam und unmerklich wie die Entwicklung des erweiterten Ichs verlaufen ist, die Entwicklung zu „Deinem“ Ich vorangeht. Unspektakulär. Aber das ist Dir vielleicht zu langweilig?
Langweilig? Nein! (Was für eine eigenartige, überraschende Vermutung. 😊) Ich brauche nichts Spektakuläres in meinem Leben, ich habe immer die Gleichförmigkeit gemocht, weil sie meinem langsamen Geist viel besser entspricht. Die Variationen in der Wiederholung zu entdecken hat mir von jeher gefallen, das wurde und wird mir nie langweilig. Mein geheimer Traum jetzt als „unabhängiger Single“ ist nicht die Weltreise, sondern das Schweigekloster oder die Einsiedlerklause (natürlich mit Internetanschluss 😊), um es mal ganz extrem zu formulieren.
Insofern ist es absolut toll, was du da geschrieben hast. Eine eher langsame und unmerkliche Veränderung – ja, genau so wird es vermutlich sein. Ich kann mich also ganz entspannt zurücklehnen und abwarten. 😊 Es kommt „alles“ von selbst.
Dem steht allerdings entgegen, dass ich das starke, aber diffuse (danke für dieses Wort) Gefühl habe, dieses Leben, so wie ich es jetzt führe, passt nicht mehr zu mir. Ich habe das Gefühl, dass ein Umbruch nötig ist, auch wenn ich keine Vorstellung davon habe, wie der aussehen sollte. Das wäre dann vielleicht doch etwas Spektakuläreres? Ich will das aber nicht forcieren, nur offen sein, falls sich in diese Richtung was tut. Was mich aber irgendwie enttäuschen würde, wäre, wenn mein Leben die nächsten Jahre und Jahrzehnte einfach so weiterläuft wie jetzt, so wie immer, nur ohne meinen Mann. Dazu war dieses „Erlebnis“ (sein Tod) zu einschneidend. Ich habe das Bedürfnis, diesen „Einschnitt“ in meinen Lebensumständen sichtbar zu machen.
Mir spukt immer wieder das Wort Lebensabschnitt durch den Kopf. Als meine Mutter Witwe wurde und anfangs damit nicht zurechtkam, sagte ihre Therapeutin mal zu ihr, sie solle es so betrachten, dass nun ein neuer Lebensabschnitt für sie begänne. Ob sie das damals hat akzeptieren können, weiß ich gar nicht, aber nun, wo ich in einer ähnlichen Situation bin, kam mir dieses Wort wieder in den Sinn und ich fand es „interessant“, ohne dass ich genauer erläutern könnte, was mich dabei so anspricht. Ich habe schon länger darüber nachgedacht, wir hatten es auch schon in unseren E-Mails thematisiert, aber eben erst habe ich die wörtliche Bedeutung bemerkt: Lebens-Abschnitt – eine sehr lange Phase ist abgeschnitten worden, nun beginnt eine andere, neue. Und durch alle Trauer und Verunsicherung hindurch bin ich auf diese Situation – und damit komme ich zu deinem „Einfall“:
Ich werfe einen Einfall dazu – vor (Klammerzeichen) der Ehe und dem ZuZweitleben hat ein großes „Ja“ gestanden. Was steht vor dem Alleineleben? Obwohl ich zuerst gezögert habe, ist es bei mir nach Abwägung des Für und Wider ein „Nein“ (das ist so). Vielleicht hat’s nichts mit dem Vorangehenden zu tun, vielleicht aber, dies ist meine Überlegung, schließen „sich als Ganzes zu fühlen“ und ein „nein“ oder „ich weiß nicht recht“ einander aus.
vielleicht nicht von Anfang an, aber doch ziemlich bald so etwas wie neugierig gewesen. Wie mag es jetzt weitergehen mit mir? Das ist keine bange, sondern eine neugierige Frage. Und allein, dass ich die Frage so stellen kann, ist schon ein Teil dessen, worauf ich gespannt gewesen bin. – Das ist kein entschiedenes „Ja“, aber auch kein eindeutiges „Nein“.
Idiosynkrasien
Ich hoffe, daß ich verstanden habe, warum Du den Schwerpunkt auf die Situation, ich hingegen den Schwerpunkt auf die Gefühlsreaktion lege. Ich glaube, dieser Unterschied ist in der Grundhaltung, die wir selber zu uns einnehmen, begründet. Für Dich sind Deine Gefühle (und auch Gedanken) in einer Situation zunächst einmal „in Ordnung“. Sie sind wie sie sind. Ich dagegen bewerte meine Reaktionen zunächst einmal negativ, d.h. sie sind „nicht in Ordnung“. Um es vielleicht nachvollziehbarer zu machen, greife ich auf ein Beispiel von Dir zurück, Du hattest Dich geplagt, nicht oder nicht genügend trauern zu können. So ungefähr reagiere ich gewohnheitsmäßig auf Situationen, die im Unterschied zu Deiner geringfügige Bedeutung haben („irgendwas ist verkehrt an meiner Reaktion“).
Ja, dieser Zweifel, ob ich wohl „richtig“ trauere bzw. das Gefühl, es eben nicht zu tun, war eine relativ unbekannte Erfahrung für mich und hat mich ziemlich verunsichert. Wenn das nun deine Grundreaktion auf dich selbst ist, dann kann ich mir vorstellen, dass das – schwierig ist.
Mir hat geholfen, von vielen verschiedenen Reaktionsweisen zu erfahren, woraus sich für mich ergab, dass keine richtig oder verkehrt ist, sondern Menschen einfach unterschiedlich reagieren. Das gab mir die Sicherheit zurück, dass auch meine Reaktionsweise in Ordnung ist. Sie passt einfach zu mir. Um es mit einem Lieblingswort von mir, das ich erst vor ein paar Jahren kennengelernt habe, auszudrücken: diese Reaktionsweise gehört zu meinem idiosynkratischen, also eigentümlichen (so die Worterklärung in Wikipedia – schöne Doppelbedeutung) Verhaltensrepertoire.
Meine neueste, hoffentlich zutreffende und somit endgültige :-))) Erkenntnis ist: […] daß die Heftigkeit der Gefühle gar nicht primär ist, sondern daß sie erst aus der Ablehnung und dem Bekämpfen resultiert. „Was man bekämpft, wird immer mächtiger“. Deswegen setze ich den Schwerpunkt auf die Akzeptanz meiner Gefühle.
Dazu fällt mir der Leitgedanke unserer TimeSlips-Sitzungen ein: „Alles ist richtig, alles ist wichtig.“
B.
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