Liebe B.,
ich zitiere Dein Beispiel in voller Länge:
[...] Bei uns war es mit der Zeitplanung bei Verabredungen ähnlich wie bei euch, nur mit dem Unterschied, dass wir dadurch fast immer tatsächlich zu spät kamen. Das hat mich zwar einerseits meistens reichlich nervös gemacht und geärgert, andererseits hat es mir aber auch gefallen, weil ich spürte, dass sich darin ein passiver Protest ausdrückte: Ich habe gar keine Lust, in die Welt und unter Leute zu gehen, ich möchte in Ruhe gelassen werden! Das war eine Haltung, die wir beide teilten, aber ich bin im Gegensatz zu meinem Mann angepasster und höflicher, ich würde diese Verweigerung nicht offen zeigen. Dies hat er stellvertretend für mich getan, und deswegen habe ich dieses Verhalten bestimmt unbewusst begünstigt. In gewisser Weise habe ich ihn auch missbraucht. Ich habe zwar einerseits sein abweisendes Verhalten oft ausgleichen können, sodass wir als Paar insgesamt „akzeptabel“ waren; andererseits stand ich oft als die „Gute“ da und er als der „Böse“, dabei habe ich mein genauso vorhandenes ablehnendes Verhalten ja nur hinter seinem Rücken versteckt.
weil mir Deine genaue Beobachtung, in der Du alle, wie ich finde, relevanten Gesichtspunkte erfasst, so ausnehmend gut gefällt!
Ja, jetzt musst Du riskieren, Dich unbeliebt zu machen. 😊 Etwas sachlicher: Wie kannst Du einerseits Deine Unlust zum Ausdruck bringen und wieviel –mögliche-Ablehnung andererseits durch andere Menschen kannst Du ertragen; d.h. eine Form des Verhaltens zu finden, in dem beide Seiten auf ein verträgliches Maß gebracht sind. Es gibt natürlich auch noch die Möglichkeit, Dich derartigen gesellschaftlichen Zusammenkünften total zu verweigern, vermutlich aber auch mit dem Risiko, auf Unverständnis und Ablehnung zu stoßen (betriebliche Weihnachtsfeier fällt mir konkret ein, aus eigener Erfahrung).
Nun ist diese Ergänzung also weggefallen, und es stellt sich mir die Frage, wie ich mich als Übrigbleibende nun sehe – welche Anteile wirklich „meins“ sind, welche eher Zuschreibungen, welche Seiten ich neu aufbauen sollte, um mich meiner Vorstellung eines Ganzen zu nähern etc.
Bei mir ist die Aufdeckung der –fehlenden- Ergänzung insofern einfach gewesen als eine tragende Säule mit dem Tod meines Mannes weggebrochen ist. Du kennst die Geschichte, von der ich Dir gleich zu Beginn unseres Briefwechsels erzählte. Mein Mann hat gerne den behütenden und fürsorgenden Part übernommen, sodaß es mir möglich war, in der eher kindlichen Rolle zu bleiben. Weil ich nicht annähernd in der Lage war, diese Rolle nach seinem Tod selbst zu übernehmen, bin ich in eine Krise geraten, die, um im Bild der tragenden Säule zu bleiben, zu einem „Zusammenbruch“ geführt hat. Das Fehlende war also unübersehbar und insofern „einfach“ zu beheben. Ich habe gelernt, als erwachsene Frau für den kindlichen Teil selber zu sorgen („beschützen“ bezieht sich übrigens nicht auf das Händeln von widrigen Umständen, sondern ausschließlich darauf, mich vor inneren Gespenstern und Dämonen in Sicherheit zu bringen. In Hinsicht auf schwierige äußere Situationen wie finanzielle Probleme oder Ärger mit Institutionen bin ich immer aktiver, lösungsorientierter und durchsetzungsfähiger gewesen).
Die Eigenschaft „gelassen“ zu reagieren fällt mir als eine Fähigkeit ein, die noch entwicklungsfähig ist. Wenn ich mich wegen irgendeiner Begebenheit in heller Aufregung befunden habe, dann hat mein Mann mich ruhig angesehen und irgendeine coole Bemerkung dazu gemacht (sinngemäß immer „ist doch in Ordnung so“). Also nicht besorgt über mich, nicht besorgt über die Situation, nicht vorwurfsvoll, nicht zum Handeln antreibend, nicht entsetzt, nicht abwehrend. Diese Art von Antwort mir selber geben – das wärs. Anderen Menschen gegenüber, seltsamerweise wie ich finde, kann ich diese Haltung sehr gut einnehmen.
Schwieriger zu entdecken sind die fehlenden Ergänzungen, wenn die Auswirkungen nicht derart eklatant sind. Du sagst immer wieder, das „Ganzheitsempfinden“ würde Dir fehlen, ohne zu wissen, was denn genau fehlt, um Dich als Ganzes zu fühlen (außer Deinem Mann als das Fehlende natürlich). Nichts Augenfälliges erklärt das diffuse Halbheitsgefühl (falls ich Dich richtig verstehe). Ich könnte mir vorstellen, daß ähnlich langsam und unmerklich wie die Entwicklung des erweiterten Ichs verlaufen ist, die Entwicklung zu „Deinem“ Ich vorangeht. Unspektakulär. Aber das ist Dir vielleicht zu langweilig?
Ich werfe einen Einfall dazu – vor (Klammerzeichen) der Ehe und dem ZuZweitleben hat ein großes „Ja“ gestanden. Was steht vor dem Alleineleben? Obwohl ich zuerst gezögert habe, ist es bei mir nach Abwägung des Für und Wider ein „Nein“ (das ist so). Vielleicht hat’s nichts mit dem Vorangehenden zu tun, vielleicht aber, dies ist meine Überlegung, schließen „sich als Ganzes zu fühlen“ und ein „nein“ oder „ich weiß nicht recht“ einander aus.
Radikale Akzeptanz
Zu deiner Schwierigkeit mit „Situation“ und „Reaktion auf eine Situation“: Sicher zeigt mir erst der Ärger, dass hier eine nicht-neutrale Situation vorliegt. Aber um beim Tassenbeispiel zu bleiben: Mein Hauptaugenmerk in solch einer Situation ist nicht überschäumender Ärger oder Selbstvorwürfe wegen Ungeschicklichkeit oder was man da sonst noch so fühlen mag, sondern der Verlust einer Tasse. Ich muss also nicht eine eventuell überzogene gefühlsmäßige Reaktion unter Kontrolle bringen, sondern mir überlegen, ob der Verlust der Tasse jetzt ein größeres Problem bedeutet und wie ich das löse.
Ich hoffe, daß ich verstanden habe, warum Du den Schwerpunkt auf die Situation, ich hingegen den Schwerpunkt auf die Gefühlsreaktion lege. Ich glaube, dieser Unterschied ist in der Grundhaltung, die wir selber zu uns einnehmen, begründet. Für Dich sind Deine Gefühle (und auch Gedanken) in einer Situation zunächst einmal „in Ordnung“. Sie sind wie sie sind. Ich dagegen bewerte meine Reaktionen zunächst einmal negativ, d.h. sie sind „nicht in Ordnung“. Um es vielleicht nachvollziehbarer zu machen, greife ich auf ein Beispiel von Dir zurück, Du hattest Dich geplagt, nicht oder nicht genügend trauern zu können. So ungefähr reagiere ich gewohnheitsmäßig auf Situationen, die im Unterschied zu Deiner geringfügige Bedeutung haben („irgendwas ist verkehrt an meiner Reaktion“). Meine neueste, hoffentlich zutreffende und somit endgültige :-))) Erkenntnis ist:
Aber mir ist dadurch deutlich geworden, dass es bei mir in den meisten Fällen tatsächlich um die Akzeptanz einer Situation geht, nicht um die Akzeptanz meiner Reaktion. Meine Gefühle sind anscheinend längst nicht so stark, nicht so ausgeprägt, nicht so belastend wie deine. Ich habe damit weit weniger Probleme, muss da also nicht mit Akzeptanz gegensteuern.
daß die Heftigkeit der Gefühle gar nicht primär ist, sondern daß sie erst aus der Ablehnung und dem Bekämpfen resultiert. „Was man bekämpft, wird immer mächtiger“. Deswegen setze ich den Schwerpunkt auf die Akzeptanz meiner Gefühle.
[...] aber auf der Wikipedia-Seite über die „Dialektisch-Behaviorale Therapie“ (die vor allem bei Borderline-Fällen mit ihrem niedrigen Stresslevel zur Anwendung kommt) fand ich den Satz: „Ein weiteres Ziel ist, zu lernen, unangenehme Ereignisse und Gefühle zu ertragen, solange sich die Situation nicht verändern lässt („radikale Akzeptanz“).“ Das heißt, man nimmt eine unangenehme Situation nicht wahr und wendet sich sogleich wieder von ihr ab, indem man sich in irgendwelche Ablenkungen, Süchte o.ä. flüchtet, sondern man sagt sich: „Okay, das ist jetzt Mist, aber das ist eben so, damit kann ich leben.“
Das ist zwar ein ganz neuer Aspekt, den ich von mir aus allerdings nicht weiter vertiefen würde. Falls Du ihn weiterführen möchtest, dann lasse ich mich aber gerne darauf ein.
[...] Denn wenn ich etwas nur halbherzig akzeptiere, dann akzeptiere ich es ja nicht wirklich. Dass man „radikal“ davorsetzt, soll vielleicht die Tiefe oder Ernsthaftigkeit dieses Vorgangs deutlichmachen.
Ja, so sehe ich es auch. Es ist eine Verstärkung, damit man nicht auf die Idee kommt, es gäbe Ausflüchte. Deine liebevoll aus"gemalte" Geschichte über den Kinobesuch ist, finde ich, eher ein gutes Beispiel fürs Hadern mit Umständen, in die man sich freiwillig hineinbegeben hat. Immerhin mit einem Entschluß am Ende. :-))).
Und mir fällt jetzt am Ende meines Briefes auf, wie organisch und fließend sich die Themen, über die wir sprechen, eins aus dem anderen, entfalten. Schön!
F.
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