Liebe F.,
Halbe Portion 😊
Aus der Unterschiedlichkeit erwächst zwar auch eine Spannung, aber mir geht es hier hauptsächlich um den Ergänzungsaspekt. Beide Partner zusammengenommen ergeben ein vollständigeres Temperamentsrepertoire als nur jeweils eine der beiden Personen.
Theoretisch sehe ich hier die Gefahr, dass man in einer langen Beziehung immer mehr die „eigene“ Seite kultiviert und sich auf die Ergänzung dieser Einseitigkeit durch den anderen verlässt. Wenn dann – durch Trennung oder Tod – der Partner nicht mehr da ist, bleibt man als „halbe Portion“ zurück.
Ich denke, das geschieht größtenteils unbewusst und wechselseitig. Mit wechselseitig meine ich, dass nicht nur ich selbst meine in dieser Konstellation spezifischen Eigenheiten immer weiter ausbaue, sondern dass sie auch durch die Zuschreibung durch den anderen immer weiter gefördert werden.
Ein kleines Beispiel für diesen etwas abstrakten Gedanken auch von meiner Seite: Bei uns war es mit der Zeitplanung bei Verabredungen ähnlich wie bei euch, nur mit dem Unterschied, dass wir dadurch fast immer tatsächlich zu spät kamen. Das hat mich zwar einerseits meistens reichlich nervös gemacht und geärgert, andererseits hat es mir aber auch gefallen, weil ich spürte, dass sich darin ein passiver Protest ausdrückte: Ich habe gar keine Lust, in die Welt und unter Leute zu gehen, ich möchte in Ruhe gelassen werden! Das war eine Haltung, die wir beide teilten, aber ich bin im Gegensatz zu meinem Mann angepasster und höflicher, ich würde diese Verweigerung nicht offen zeigen. Dies hat er stellvertretend für mich getan, und deswegen habe ich dieses Verhalten bestimmt unbewusst begünstigt. In gewisser Weise habe ich ihn auch missbraucht. Ich habe zwar einerseits sein abweisendes Verhalten oft ausgleichen können, sodass wir als Paar insgesamt „akzeptabel“ waren; andererseits stand ich oft als die „Gute“ da und er als der „Böse“, dabei habe ich mein genauso vorhandenes ablehnendes Verhalten ja nur hinter seinem Rücken versteckt.
Nun ist diese Ergänzung also weggefallen, und es stellt sich mir die Frage, wie ich mich als Übrigbleibende nun sehe – welche Anteile wirklich „meins“ sind, welche eher Zuschreibungen, welche Seiten ich neu aufbauen sollte, um mich meiner Vorstellung eines Ganzen zu nähern etc.
Radikale Akzeptanz
Du hast mit deiner Aufdröselung gründliche Arbeit geleistet. 😊 So klar habe ich mir das noch nie gemacht, was da eigentlich vor sich geht (emotionale, inhaltliche, zeitliche Distanz und Relativierung). Aber mir ist dadurch deutlich geworden, dass es bei mir in den meisten Fällen tatsächlich um die Akzeptanz einer Situation geht, nicht um die Akzeptanz meiner Reaktion. Meine Gefühle sind anscheinend längst nicht so stark, nicht so ausgeprägt, nicht so belastend wie deine. Ich habe damit weit weniger Probleme, muss da also nicht mit Akzeptanz gegensteuern.
Das Tassenbeispiel etwa ist ausgesprochen fiktiv. In der Regel ärgere ich mich über solch ein Missgeschick so gut wie gar nicht, höchstens ganz kurz, aber dann ist es mir auch schon egal. Sowas passiert halt, es ist nicht weiter wichtig. Ich muss also nicht einmal die Situation großartig akzeptieren, geschweige denn meine (Nicht-)Reaktion.
Zu deiner Schwierigkeit mit „Situation“ und „Reaktion auf eine Situation“: Sicher zeigt mir erst der Ärger, dass hier eine nicht-neutrale Situation vorliegt. Aber um beim Tassenbeispiel zu bleiben: Mein Hauptaugenmerk in solch einer Situation ist nicht überschäumender Ärger oder Selbstvorwürfe wegen Ungeschicklichkeit oder was man da sonst noch so fühlen mag, sondern der Verlust einer Tasse. Ich muss also nicht eine eventuell überzogene gefühlsmäßige Reaktion unter Kontrolle bringen, sondern mir überlegen, ob der Verlust der Tasse jetzt ein größeres Problem bedeutet und wie ich das löse.
In Situationen der Verunsicherung, die ich als ein weiteres Beispiel angeführt hatte, ist es anders. Da versuche ich meine Reaktion zu akzeptieren und „über ein freundliches Annehmen in den eigenen Gefühlshaushalt zu integrieren“, wie du so schön geschrieben hast.
Ich weiß nicht, ob dir der Unterschied dadurch klarer geworden ist?
Hast Du Dir eigentlich auch schon öfter überlegt, was wohl der Unterschied zwischen „akzeptieren“ und „radikal akzeptieren“ sein könnte? Mit oder ohne Hintertürchen? Aber welche Hintertürchen würde die Radikalität versperren? 🐱
Ja, diese Frage habe ich mir auch schon gestellt. Ich glaube, eines der Hintertürchen könnte sein, dass man zwar „Ja“ sagt, aber „Ja, aber …“ meint (oder fühlt).
Wieder ein alltägliches Beispiel: Wenn ich mit jemandem ins Kino gehen will und wir uns nach einiger Diskussion darauf einigen, dass wir nicht in meinen, sondern in seinen Favoriten gehen, dann sähe die „einfache“ Akzeptanz vielleicht so aus, dass ich im Laufe des Films manchmal denke: Hm, ich habe zwar zugestimmt, aber so richtig gefällt mir dieser Film nicht, das habe ich mir doch gleich gedacht, schade, dass wir nicht meinen Film genommen haben, nächstes Mal lasse ich mich nicht so schnell von meinem Willen abbringen … Radikal akzeptierend würde ich vielleicht denken: Okay, so richtig gefällt mir dieser Film nicht, aber das ist jetzt egal, jetzt sitzen wir hier, und ich freue mich, dass wir mal wieder gemeinsam ins Kino gegangen sind. Im zweiten Fall akzeptiere ich eine einmal getroffene Entscheidung also wirklich und lasse mich auf die neue Situation ein. – Ich weiß nicht, ob das wirklich ein gutes Beispiel ist, aber ein besseres fiel mir leider nicht ein. 😕
Im Internet steht nicht allzu viel zur Radikalen Akzeptanz, aber auf der Wikipedia-Seite über die „Dialektisch-Behaviorale Therapie“ (die vor allem bei Borderline-Fällen mit ihrem niedrigen Stresslevel zur Anwendung kommt) fand ich den Satz: „Ein weiteres Ziel ist, zu lernen, unangenehme Ereignisse und Gefühle zu ertragen, solange sich die Situation nicht verändern lässt („radikale Akzeptanz“).“ Das heißt, man nimmt eine unangenehme Situation nicht wahr und wendet sich sogleich wieder von ihr ab, indem man sich in irgendwelche Ablenkungen, Süchte o.ä. flüchtet, sondern man sagt sich: „Okay, das ist jetzt Mist, aber das ist eben so, damit kann ich leben.“
Im Grunde ist das einfach Akzeptanz. Denn wenn ich etwas nur halbherzig akzeptiere, dann akzeptiere ich es ja nicht wirklich. Dass man „radikal“ davorsetzt, soll vielleicht die Tiefe oder Ernsthaftigkeit dieses Vorgangs deutlichmachen.
B.
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