Liebe B., 🌾
[...] dass ich es interessant finde, dass ein und derselbe Charakterzug sowohl positive als auch negative Aspekte hat. (Eine Kollegin sagte mal: „Jede Stärke ist auch eine Schwäche.“) Ich bin ausgeglichen, dadurch oft aber auch phlegmatisch. Oder ich bin distanziert („unnahbar“), dadurch aber oft auch neutraler bei Streitigkeiten. Zur Akzeptanz meiner selbst kann es also beitragen, wenn ich mir bewusst mache, dass meine (vermeintlichen oder tatsächlichen) Schwächen gleichzeitig auch Stärken sind (und umgekehrt).
Um den wertenden Begriffen von „Schwäche“ und „Stärke“ zu entgehen (Deinen Vorbehalt meine ich am „vermeintlich“ zu erkennen), spreche ich lieber von den weniger ausgebildeten Eigenschaften, zu denen mir noch in den Sinn kommt, daß wir ihren Gegenpol, glaube ich, oft durch andere Menschen ergänzen (lassen). Konkret sind mir die unterschiedlichen Temperamente meines Mannes und mir gegenwärtig. Mein Mann war still, in sich gekehrt, bedächtig, gründlich, geduldig; ich dagegen bin nervös, ungeduldig, flüchtig, impulsiv, aggressiv getönt. Aus der Unterschiedlichkeit erwächst zwar auch eine Spannung, aber mir geht es hier hauptsächlich um den Ergänzungsaspekt. Beide Partner zusammengenommen ergeben ein vollständigeres Temperamentsrepertoire als nur jeweils eine der beiden Personen.
Aus Deinen Erzählungen schließe ich, dass es ähnlich zwischen Euch war, aber ich will es Dir überlassen, ob Du Näheres dazu sagen willst. Deswegen formuliere ich an dieser Stelle nur vage.
Zum Spannungsmoment, das aus den unterschiedlichen Temperamenten resultiert, möchte ich ein Beispiel erzählen: Ein Verhalten meines Mannes, das mich vom ersten bis zum nahezu letzten Tag in helle Aufregung versetzt hat. Wenn wir irgendwo hingehen wollten, egal wohin, aber jedenfalls ein „date“ mit Termin, dann bin ich schon ausgehfertig gewesen, wenn mein Mann erst anfing, seine Sachen aus dem Schrank zu suchen, das Bügeleisen rauszustellen, zu baden! ... ich bin vor Ungeduld und Wut jedes Mal fast geplatzt – er ist zwar immer auf die Minute pünktlich fertig gewesen, sodaß wir uns nie verspätet haben, aber diese unendliche Gelassenheit und Bedächtigkeit vorher, die hat mich rasend gemacht.
Fortsetzung Radikale Akzeptanz
... mit dem Versuch, endlich Ordnung in meine gedankliche Unsortiertheit zu bringen.
Aber wir sprachen ja schon einmal über meine Schüchternheit, und da habe ich einen ähnlichen Weg eingeschlagen wie du – nicht das Augenmerk auf die Situation richten, sondern auf mich selbst. Ich kann nicht allen Situationen aus dem Weg gehen, in denen Unbehagen droht, schon von Berufs wegen nicht. Also habe ich mir irgendwann gesagt: „Na gut, ich bin also schüchtern, ich werde schnell rot, ich fühle mich schnell unsicher. Aber diese Momente machen doch eigentlich nur einen Bruchteil meines Lebens aus und sie gehen schnell vorüber. Daran muss ich nicht mein komplettes Selbstbild aufhängen.“ Und komischerweise wurden die Situationen immer seltener, die mich verunsicherten … Liegt das nur am Älterwerden? Oder vielleicht auch am Akzeptieren meiner Reaktion, wodurch diese Situationen ihre Wichtigkeit verloren und schneller abgehakt werden konnten, mich nicht mehr so lange beschäftigten und belasteten? Vermutlich eine Mischung aus beidem …
Unter „Selbstanwendung“ (wie Du es in einem mail-Brief nanntest) verstehst Du, die Aufmerksamkeit auf eine persönliche Eigenschaft zu richten, die man ablehnt; und der Weg, diese Eigenschaft zu akzeptieren, besteht darin, in bestimmten Situationen, in denen die Eigenschaft sich immer wieder zeigt, das radikale Akzeptieren zu üben. Konkrete Lösungen wären, in Hinsicht auf die zeitliche Dimension und in Hinsicht auf die Vielfalt der eigenen Person zu relativieren.
[...] ist es in zehn Jahren noch wichtig, ob ich heute eine Tasse zerbrochen habe? Weiß ich das dann überhaupt noch?
Da ich mit der Unterscheidung in „Situation“ und „Reaktion“ auf die Situation Schwierigkeiten habe, greife ich Dein Beispiel auf, um den Sachverhalt für mich aufzudröseln. Die Situation „zerbrochene Tasse“ ist in sich völlig neutral. Du führst sie an im Zusammenhang mit „Ärger“, d.h. die Situation wird überhaupt erst zur relevanten Situation, weil Du Dich ärgerst und Du ärgerst Dich über die zerbrochene Tasse. Die Situation tritt als eine zu akzeptierende Situation erst in Dein Blickfeld über die verärgerte Reaktion oder anders gesagt, die Nicht-Akzeptanz zeigt sich im Ärger. Insofern sind alle Wege, die wir gehen, um zur Akzeptanz zu finden, Wege, die wir über unsere Reaktion nehmen? Ja und nein. Ja, weil die Reaktion uns überhaupt nur die Ablehnung einer Situation erkennen lässt. Nein, weil die Lösung nicht zwingend in der Gefühls-Betrachtung und ihrer Akzeptanz besteht.
Du akzeptierst die Situation nicht, aber dich selbst, und kommst dadurch dann doch zu einer Akzeptanz der Situation.
Hier wäre es so, am Beispiel der zerbrochenen Tasse, den Ärger in den Blickpunkt zu rücken und ihn über ein freundliches Annehmen in den eigenen Gefühlshaushalt zu integrieren. Er wird dann nicht länger als ein Störenfried empfunden. Um Deinen Ausdruck aufzugreifen, der mir gut gefällt: man gelangt zu einer inneren „Befriedung“. Durch die Akzeptanz des Gefühls verliert es seine Wirkkraft.
Die Fokussierung auf das Unangenehme, die Schwächen, das Widerständige, das Schreckliche kann sich lösen, sobald ich sehe, dass dies nur einen Teil meines Lebens ausmacht. (Vom Weltenlauf mal ganz abgesehen …) Auch das hilft mir.
Der Lösungsweg hier besteht darin, das Ereignis einzuordnen unter dem Aspekt, daß für unsere Person und unser Leben etliche andere Ereignisse und Dinge wichtig sind. Das abgelehnte Ereignis wird dadurch „klein(er)“.
[...]Sub specie aeternitatis ist es ziemlich unerheblich, ob ich mich z. B. gerade über etwas ärgere. Selbst wenn man nicht gleich die Ewigkeit heranziehen will, sondern sagen wir mal nur einen Zeitraum von zehn Jahren – ist es in zehn Jahren noch wichtig, ob ich heute eine Tasse zerbrochen habe? Weiß ich das dann überhaupt noch?
Die Lösung besteht darin, das Ereignis in Hinsicht auf die zeitliche Dimension einzuordnen. Dieses Vorgehen habe ich erst in den vergangenen Jahren erlernt anzuwenden, und ich finde es gerade für Situationen, die mit intensiven Emotionen verbunden sind, s e h r hilfreich. Ich würde fast sagen, daß die Verkürzung auf den Augenblick des Jetzt parallel zur Intensität des jeweiligen Gefühls verläuft. Je heftiger ein Gefühl (bei mir die Angst), desto mehr verknappt sich die zeitliche Dimension. Man kann eigentlich gar nicht mehr denken, es gäbe ein „Morgen“, einen zukünftigen Zeitpunkt, zu dem dieses Gefühl, diese Situation nicht ist. An der Stelle setze ich den Willen ein. Den Willen, die Lösung zu wählen, den Zeitraum auszudehnen. Ich nehme einen fiktiven späteren Zeitpunkt, notfalls den bis zum Tode. Denn je länger ich die zeitliche Dimension ausstrecke, desto sicherer ist, dass der jetzige Zustand mir tatsächlich nur wie ein Augenblick erscheint, der irgendwann einmal nicht mehr sein wird.
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Mein Brief ist formal und schrecklich dröge geraten, 😶 glaube ich – der Preis dafür, daß ich zumindest meine, den Komplex „radikale Akzeptanz“ einigermaßen anständig in seine Bestandteile zerlegt zu haben. Leider sind mir dabei auch die positiven Veränderungen, die sich ergeben, aus dem Sichtfeld entwischt. Deine Ansätze sie aufzuzeigen, habe ich nicht aufgegriffen.
Zum Beschluß: Hast Du Dir eigentlich auch schon öfter überlegt, was wohl der Unterschied zwischen „akzeptieren“ und „radikal akzeptieren“ sein könnte? Mit oder ohne Hintertürchen? Aber welche Hintertürchen würde die Radikalität versperren? 🐱
F.
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