Brief 17 | Annehmen und loslassen

Liebe B., 🚢

Pendel-Pole

[...] Stell dir ein schwingendes Pendel vor: Am höchsten Punkt rechts oder links hält es kurz inne, bevor es seine Richtung ändert und zurückschwingt. Und während dieses Innehaltens bin ich „zu nichts zu gebrauchen“. Aber gerade am negativen Pol spüre ich nach einer Weile die Vorbereitung des Umschlags. Da drängt es ja auch viel mehr als am positiven Pol.[...]

Ja, das kenne ich allerdings auch, das Gefühl, als wenn ich im Stillstand steckengeblieben bin. Aber ist es nicht merkwürdig? Das geschieht nur am negativen Pol, nicht wahr? Am positiven Pol gehe ich ganz selbstverständlich davon aus, dass dieser wunderbare Zustand nicht von Dauer ist. Wieso denke ich dasselbe nicht auch am negativen Pol?

Aber eigentlich habe ich im Laufe des Lebens die Erfahrung gemacht und die Gewissheit gewonnen, dass auch der negative Zustand nicht ewig hält. [...]

Oja, entgegen aller Lebenserfahrung ist es schon „merkwürdig“, dass man den negativen Pol nicht ebenso selbstverständlich für einen flüchtigen, vorübergehenden Zustand ansieht wie man es beim positiven Pol tut. Warum ist das so? Weil wir uns am negativen Pol nicht so gerne aufhalten und deswegen fürchten, wir könnten dort länger, dauerhaft bleiben (müssen), und dieses eine Mal könnte es trotz aller Erfahrung doch anders sein? Oder da wir uns am negativen Pol nicht so gerne aufhalten, möchten wir ihn möglichst schnell wieder verlassen, was zur Folge hat, dass wir ungeduldig sind und nicht in Ruhe entspannt einfach warten können? Die Zeit erscheint uns aus diesem Grunde länger, zu lang. Am positiven Pol hingegen sind wir gerne. Und warum erscheint der Pendelumschwung uns dort ganz normal? Wenn wir uns gerne am positiven Pol aufhalten, dann möchten wir auf ewig dort verweilen. Es ist doch schön hier. Am liebsten würden wir das Pendel zum Stillstand bringen. Falls aus irgendeinem Grunde die Erfahrung sich dieses eine Mal nicht bestätigen sollte, dann käme der Pendelstillstand uns doch sehr gelegen. Deswegen brauchen wir am positiven Pol nichts befürchten, wir leben (ihn).

 

***Das Folgende setze ich in Klammern, weil es hauptsächlich ein Nachtrag zu einem Deiner vorangehenden Briefe ist.

(Vielleicht ist dies eine gute Beschreibung des Unterschieds zwischen uns beiden: das „Mikroskopische“ bei dir, die größere Distanz bei mir. Dadurch bin ich meinen Stimmungen vielleicht nicht so ausgeliefert wie du? Letztens stellte ich mir vor, du seist eine kleine Jolle, die schon vom kleinsten Wellenplätschern in Bewegung gesetzt wird und auf und ab hüpft. Ich wäre dann ein etwas schwereres Boot, das relativ lange ruhig im Wasser liegt und erst bei stärkeren Wellen anfängt zu schaukeln.

Als wir über Beziehungen gesprochen haben und Du schriebst „wenn ich beachtet werde, dann ist es gut und wenn ich nicht beachtet werde, dann ist es auch gut“ (sinngemäß), da ist mir ein ähnliches Bild eingefallen; „ähnlich“ in der Aussage, das Bild ist ein ganz anderes. Du bist eine Tänzerin (mir fällt in diesem Moment ein, dass Du freies Tanzen nicht leiden kannst 😇 – sieh’ Dich als Kugel oder Stern) und drehst Dich um die eigene Achse; Dein Zentrum bleibt also immer in Dir, während ich mich wie an einem Band herumgeschleudert sehe. Das heißt, mein Zentrum mitsamt meiner Person wird gedreht. Hm, wenn ich es näher bedenke, ähneln sich die Aussagen doch gar nicht, denn in Deinem Bild geht es um mehr oder weniger Behäbigkeit, und in meinem Bild geht es um den Drehpunkt.  Ach, die Bilder ... ich lasse es so stehen.***

 

Radikale Akzeptanz

Akzeptanz dessen, was nicht akzeptiert wird … Na ja, genau hier wird sie ja erst interessant. Wenn ich nur das „radikal akzeptiere“, was ich ohnehin akzeptiere, ist die Sache ja witzlos.

An dieser Stelle frage ich mich und zwar ernsthaft, ob ich das Konzept nun verstanden habe oder nicht. Ich mach’s zur Veranschaulichung konkret: Meine chronische Krankheit, ich akzeptiere sie nicht, sondern kämpfe gegen sie an. Man muß die Situation (hier die Krankheit) und das Verhalten zu ihr (mein Bekämpfen) unterscheiden, und wenn ich mich weigere, die Krankheit, das „Inakzeptable“ zu akzeptieren, dann aber kann ich meine Kampfhaltung akzeptieren. Das war der Hintergrund meiner Bemerkung vom „akzeptieren des nicht Akzeptierens“. Diesen Gedanken breche ich hier ab, weil ich genauer betrachten möchte, was „kämpfen“ bedeutet.    

Ich interpretiere die „Radikalität“ so, dass diese Art der Akzeptanz auch das zunächst einmal bedingungslos annimmt, was eigentlich für mich „inakzeptabel“ ist. Kein „Ach hätte ich doch …“ und kein „schöner wäre aber …“ und solche Sachen, sondern einfach: „Ja, so ist es jetzt gerade.“ Akzeptieren ist ja nicht gleichbedeutend mit gutheißen. Und der eigentlich inakzeptable Zustand wird durch das Akzeptieren ja auch nicht aufgehoben. Was sich bei mir durch das Akzeptieren aber verändert, ist, dass ich in solchen Situationen dann nicht mehr fruchtlos kämpfen muss (gegen mich selbst oder gegen die Umstände).

Mit dem Kämpfen sind Gefühle verbunden. Ich bin, allgemein gesagt aggressiv; näherhin wütend, vorwurfsvoll, ärgerlich, gereizt, dann wieder fühle ich mich ohnmächtig, gedemütigt, verängstigt. Klar, gegen das Unabänderliche zu kämpfen bedeutet, immer wieder und wieder festzustellen, dass ich unterliege. Die Gefühle nehmen mich völlig gefangen, sie binden mich wie Klebstoff an die Situation. Es ist ein Gefängnis, in das ich mich selber einsperre. Da dieser Zustand nun schon längere Zeit andauert, würde ich sagen, dass mein Kampf zu einem Leiden geführt hat oder richtiger, geworden ist. „Leiden“ nehme ich als Begriff für die Konsequenz aus einem (chronischen) Nicht-Akzeptieren. Wie könnte das radikale Akzeptieren nun vor sich gehen? Sicher nicht so, dass ich zu mir sage „ich akzeptiere das für mich Inakzeptable“, oder indem ich auf die negativen Konsequenzen meiner Haltung blicke. Letzteres ist vor allen Dingen ein starker Antrieb, mein Leiden beenden zu wollen. Mir scheint die einzige Lösung, in einem ersten Schritt meinem Kämpfen gegenüber einen anderen Blick einzunehmen. Wenn ich mich als Kämpferin betrachte, dann finde ich diese Eigenschaft schon mal sympathisch. Ich sehe meine kleine Person, die doch so energiegeladen ist, dass sie nicht aufgibt und immer neu und sehr beharrlich das Unmögliche versucht. Als nächstes fällt mein Blick auf mich, wie ich in der Erfahrung der Niederlage, meine Hilflosigkeit und Verunsicherung wahrnehme. Ich entwickle ein Mitgefühl für mich. Ja, so bin ich. Und jetzt auf einmal gewinne ich Abstand. Also jetzt im Durchgehen der Situation, meine ich. Gut, es ist eine blöde Krankheit, die mich ein bisschen unberechenbar beeinträchtigt, aber ich kann diese Beeinträchtigungen ernstnehmen, ich muß mich ihrer nicht schämen, und andererseits lassen mir diese Beeinträchtigungen sehr große Spielräume. Womit der Blick für das Leben außerhalb des Gefängnisses geöffnet ist.

Ich glaube, dass ich meine Frage von oben nun beantworten kann. Ich habe das Konzept verstanden, war aber durcheinandergeraten, weil ich Situation und Verhalten zur Situation im letzten Brief nicht klar unterschieden hatte. Im Vorangehenden habe ich den Prozess durchgespielt, wie ich zur radikalen Akzeptanz finden kann. Und nun begreife ich auch endlich, warum mir die radikale Akzeptanz und Bejahung (oder „gutheißen“, wie Du sagst) so viel Kopfzerbrechen bereitet haben – seit wir das erste Mal vor Monaten darüber sprachen. Meine Krankheit heiße ich nicht gut, aber ich bejahe mein Verhalten. Bejahen ist Liebe zu mir, ein Schritt im Prozeß des Radikalen Akzeptierens einer unveränderbaren Situation.

Mich interessiert natürlich sehr, welchen Lösungsweg oder welche Lösungswege Du siehst. Denn per Willensbeschluß funktioniert der Wechsel vom Hadern zum „so ist es“ doch nicht, oder?

 

[...] Das Leben einfach geschehen lassen. Das hat für mich auch Auswirkungen auf seinen Gegenpol, den Tod. Einerseits ist der Tod etwas besonders schwer zu Akzeptierendes, insofern kann die radikale Akzeptanz hier auch besonders zur „Befriedung“ beitragen. Andererseits empfinde ich das Bewusstsein, dass die „Zumutungen des Lebens“ nicht ewig währen werden, weil auch ich selbst einmal sterben werde, oft als tröstlich und erleichternd. Ich kann dadurch diese Zumutungen leichter akzeptieren.

Als ich neulich in dem Textband „Kleist, Moos, Fasane“ v. Aichinger las, stieß ich auf den Satz: Der Tod ist mir immer als Trost erschienen, sagt der Unfromme. Darauf der Fromme: Mir nie. Während ich das las, bist Du mir eingefallen, weil ich mich daran erinnert habe, dass Du etwas Ähnliches wie oben schon einmal geschrieben hattest. Der Unfromme geht davon aus, dass nach dem Tod „Nichts“ mehr ist, der Fromme geht von einem jenseitigen Leben aus. Ganz vereinfacht gesagt. Aber eigentlich verstehe ich nicht, warum das so ist. Die Zumutungen des Lebens sind für beide doch gleich oder richtiger, die Geschehnisse des Lebens werden von beiden teilweise als Zumutungen empfunden. Achso, ich glaube, man muß das andersherum sehen: Die Menschen, die sich trotz der Zumutungen des Lebens vorm Tod fürchten, die werden fromm. Diejenigen, die den Tod tröstlich finden, nicht.          

F. ⚓  (anstelle der kleinen Jolle, die fehlt, ein Anker, der sie hält).

 

 

 

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