Brief 16 | Im Fluss des Lebens

Liebe F.,

Veränderung

Ich bin erfüllt von und mit dem, was ich tue. Hingegeben in Freude an das, was ich tue. Und dies genau ist die Veränderung, die ich im Vergleich zu meinem Befinden, mit dem ich üblicherweise handle, feststelle. Denn für gewöhnlich erlebe ich mich als nicht wirklich, d.h. nur halbherzig, zersplittert aufmerksam, anwesend. Insofern ist diese Phase immer wieder wie die Entdeckung einer neuen Möglichkeit zu leben.

Ah, wir reden anscheinend von verschiedenen Weisen der Veränderung. Was du offenbar meinst, wird auch aus deinem nächsten Absatz deutlich, wo du schreibst, dass du dich während deiner Ehe darauf verlassen konntest, dass dein Mann dich aus den – ich sag es mal verallgemeinernd – negativen Phasen herausholen würde, falls dir selbst das nicht gelänge. Für mich ist diese Art der Veränderung relativ unproblematisch. Ich weiß einfach, dass mein Pendel hin und herschwingt, auch wenn ich es gerade nicht wahrnehme. Ich habe relativ wenig Angst, in der negativen Phase stecken zu bleiben; gleichzeitig bin ich mir während der positiven Phasen immer mehr oder weniger deutlich bewusst, dass auch diese vorübergehen werden. Insofern ist Veränderung für mich der Normalzustand. Während für dich der Pendelausschlag ins Positive anscheinend etwas Außergewöhnliches ist – und so, wie du ihn beschreibst, regelrecht als Flow, wäre er das für mich auch. Meine positiven Phasen sind da doch unspektakulärer. So wie vermutlich auch meine negativen Phasen nicht so „schwarz“ und vor allem nicht so häufig sind wie bei dir (sie sind für mich eher das „Außergewöhnliche“ (wenn auch nicht gerade Erstrebenswerte), so wie für dich die positiven).

Die Veränderung, die ich meine, ist eine andere. Keine stimmungsmäßige, sondern eher praktischer Natur. Ich packe endlich Dinge an, die schon längst hätten erledigt werden müssen, oder ich suche nach neuen Möglichkeiten für Problemlösungen etc. Dazu bin ich in den Stagnationsphasen nicht in der Lage. In diesem Zusammenhang zu deiner Frage:

Ich möchte aber nachfragen, ob ich Dich richtig verstehe. Auch in den Stagnationsphasen, die dem Pendelschlag zum Negativen vorausgehen, hast Du den Eindruck, es würde etwas Neues wachsen?

… da hast du mich nicht ganz richtig verstanden. Die Stagnationsphase ist der negative bzw. positive Pol, nicht die Schwingphase dazwischen. Stell dir ein schwingendes Pendel vor: Am höchsten Punkt rechts oder links hält es kurz inne, bevor es seine Richtung ändert und zurückschwingt. Und während dieses Innehaltens bin ich „zu nichts zu gebrauchen“. Aber gerade am negativen Pol spüre ich nach einer Weile die Vorbereitung des Umschlags. Da drängt es ja auch viel mehr als am positiven Pol. Das ist meist ganz kleinteilig-unspektakulär, insofern ist „Wachsen“ ein etwas missverständlicher Ausdruck. Es ist ja nicht so, als ob ich jedes Mal verändert, stärker, gefestigter o. ä. aus solch einer Krise hervorgehe. Aber manchmal bereiten sich da tatsächlich größere Entscheidungen vor.

Das heißt, ich traue mir selber nicht so ganz, die Energie oder auch den Willen aus mir alleine heraus entwickeln zu können, den Stillstand wieder in Bewegung zu bringen. 

Ja, das kenne ich allerdings auch, das Gefühl, als wenn ich im Stillstand steckengeblieben bin. Aber ist es nicht merkwürdig? Das geschieht nur am negativen Pol, nicht wahr? Am positiven Pol gehe ich ganz selbstverständlich davon aus, dass dieser wunderbare Zustand nicht von Dauer ist. Wieso denke ich dasselbe nicht auch am negativen Pol?

Aber eigentlich habe ich im Laufe des Lebens die Erfahrung gemacht und die Gewissheit gewonnen, dass auch der negative Zustand nicht ewig hält. Eine Mischung aus mich Schütteln und mir selbst sagen „Nun ist es aber gut“ und dem unvermeidlichen (positiver ausgedrückt: zuverlässigen) Zugriff des Lebens hat mich noch jedes Mal da wieder rausgeholt.

 

Radikale Akzeptanz

Du meinst, das radikale Akzeptieren schließt notwendig die Akzeptanz dessen ein, was nicht akzeptiert wird? Jetzt in diesem Moment oder für kurze Zeit, aber auch die Nein’s, die sich dauerhaft verfestigt haben? Hm, ich glaube, Du meinst etwas Anderes ... ah, vielleicht doch nicht. Das Akzeptieren der Art von Veränderungen, von denen Du sprichst, das ist nur eine Betrachtungsweise in größerer zeitlicher Dimension als sie mir vorschwebte. Ich dachte an den stündlichen, täglichen Wechsel der Gemütslagen, die vielen kleinen alltäglichen Vorkommnisse, was einer eher mikroskopischen Sichtweise entspricht.

Vielleicht ist dies eine gute Beschreibung des Unterschieds zwischen uns beiden: das „Mikroskopische“ bei dir, die größere Distanz bei mir. Dadurch bin ich meinen Stimmungen vielleicht nicht so ausgeliefert wie du? Letztens stellte ich mir vor, du seist eine kleine Jolle, die schon vom kleinsten Wellenplätschern in Bewegung gesetzt wird und auf und ab hüpft. Ich wäre dann ein etwas schwereres Boot, das relativ lange ruhig im Wasser liegt und erst bei stärkeren Wellen anfängt zu schaukeln.

Aber zur radikalen Akzeptanz. Akzeptanz dessen, was nicht akzeptiert wird … Na ja, genau hier wird sie ja erst interessant. Wenn ich nur das „radikal akzeptiere“, was ich ohnehin akzeptiere, ist die Sache ja witzlos. Ich interpretiere die „Radikalität“ so, dass diese Art der Akzeptanz auch das zunächst einmal bedingungslos annimmt, was eigentlich für mich „inakzeptabel“ ist. Kein „Ach hätte ich doch …“ und kein „schöner wäre aber …“ und solche Sachen, sondern einfach: „Ja, so ist es jetzt gerade.“ Akzeptieren ist ja nicht gleichbedeutend mit gutheißen. Und der eigentlich inakzeptable Zustand wird durch das Akzeptieren ja auch nicht aufgehoben. Was sich bei mir durch das Akzeptieren aber verändert, ist, dass ich in solchen Situationen dann nicht mehr fruchtlos kämpfen muss (gegen mich selbst oder gegen die Umstände).

Dennoch hast Du offenbar doch noch etwas Anderes im Kopf, wenn Du schreibst „dies zu verinnerlichen“ könne ein Zugewinn sein. Das hieße, sich das Akzeptieren nicht immer wieder neu vergegenwärtigen zu müssen, nicht immer wieder an jedem Tag für jeden Wechsel erneut zu üben, sondern sowas wie ein „Überschreiten“ des inneren Festhaltenwollens, das in „Fleisch und Blut“ übergeht? Ein für allemal begreifen und somit ohne Widerstand im „Fluß des Lebens“ mitschwimmen?

Ja, das trifft es ziemlich gut. Das entspräche vielleicht dem buddhistischen Nicht-Anhaften. Das Leben annehmen, wie es kommt, ohne immer nur die guten Sachen haben zu wollen, ohne über die unangenehmen Sachen zu jammern. Das Leben einfach geschehen lassen. Das hat für mich auch Auswirkungen auf seinen Gegenpol, den Tod. Einerseits ist der Tod etwas besonders schwer zu Akzeptierendes, insofern kann die radikale Akzeptanz hier auch besonders zur „Befriedung“ beitragen. Andererseits empfinde ich das Bewusstsein, dass die „Zumutungen des Lebens“ nicht ewig währen werden, weil auch ich selbst einmal sterben werde, oft als tröstlich und erleichternd. Ich kann dadurch diese Zumutungen leichter akzeptieren.

Ich hänge es noch an – für mich ist die „Radikale Akzeptanz“ wie ein Zauberwort, d.h. wie ein Schlüssel zur Lösung im Umgang mit allen „Zumutungen des Lebens“. Was die RA alles beinhaltet und was aus ihr folgt, das ist für mich noch offen und nicht ausgereizt.

Ja, so geht mir das auch.

B.

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