Brief 15 | Das Zauberwort

Liebe B.,

Phasen

Die Phase des Wohlseins sieht bei mir aber ähnlich wie bei dir aus. Produktiv, kreativ, konzentriert sind gute Stichworte dafür. Allerdings glaube ich nicht, dass in dieser Phase viel Veränderung bei mir stattfindet. Es ist eher ein selbstverständliches Eingebettetsein in den Fluss des Lebens, an dem nichts geändert werden muss.

Nun kann ich aufgrund Deiner Antwort die mir selbst gestellte Frage aus dem letzten Brief beantworten, inwiefern ich diese Phasen als Veränderung erlebe bzw. was sich verändert. Es ist ganz einfach: Ich bin erfüllt von und mit dem, was ich tue. Hingegeben in Freude an das, was ich tue. Und dies genau ist die Veränderung, die ich im Vergleich zu meinem Befinden, mit dem ich üblicherweise handle, feststelle. Denn für gewöhnlich erlebe ich mich als nicht wirklich, d.h. nur halbherzig, zersplittert aufmerksam, anwesend. Insofern ist diese Phase immer wieder wie die Entdeckung einer neuen Möglichkeit zu leben.

Veränderung, so sie denn notwendig ist, findet bei mir, glaube ich, in den alles in allem doch sehr viel längeren Phasen zwischen diesen beiden „Extremen“ statt, den eher neutralen. Die aber, so denke ich, in den untätigen Phasen des Pendelausschlags – sowohl ins Negative als auch ins Positive – sozusagen vorbereitet wird. Insofern empfinde ich Phasen der Stagnation als passiv-produktiv, weil ich das Gefühl habe, dass in ihnen etwas in mir „wächst“.

Das ist interessant. Ich möchte aber nachfragen, ob ich Dich richtig verstehe. Auch in den Stagnationsphasen, die dem Pendelschlag zum Negativen vorausgehen, hast Du den Eindruck, es würde etwas Neues wachsen?  

Ich knüpfe die Stagnation jetzt erneut mit der passiven Unproduktivitätsphase zusammen, weil mir dies besser für mich zu passen scheint, aber mir fällt dazu ein, dass ich diese Phasen während der Ehe viel gelassener und entspannter, weniger unruhig und auch nicht als so beunruhigend erfahren habe wie gegenwärtig im Alleineleben. Ich nehme an, ich fühlte mich sicher(er), dass, würde ich selber nicht wieder rausfinden, mein Mann mir schon dabei helfen würde, und noch entscheidender war aber wohl die Gewissheit, dass im Vollzug des Zusammenlebens der Anstoß von außen kommen würde, der mich wieder rausträgt. Das heißt, ich traue mir selber nicht so ganz, die Energie oder auch den Willen aus mir alleine heraus entwickeln zu können, den Stillstand wieder in Bewegung zu bringen.        

 

Zugewinn

Wie könnte dieser Zugewinn aussehen? Ich war erst etwas perplex bei diesem Ausdruck, aber bei längerem Überlegen finde ich ihn gar nicht so schlecht. Meinst du größere Eigenständigkeit und Sicherheit in sich selbst? Stärke, die aus dem Weiterleben, dem Überleben des Schrecklichen entsteht? Das wären so Sachen, die mir dazu einfielen.

Mir fällt dazu die Dankbarkeit ein, was aber bedeuten würde, einen rückswärtsgewandten Blick einzunehmen. Mich daran freuen, was einmal war, das größte Geschenk, die Erfüllung des Ersehnten (klingt ein wenig „theatralisch“, ein Ausdruck, den Du kürzlich benutzt hattest) mitnehmen ins neue Leben. Dankbarkeit wäre allerdings eher „nur“ die Kehrseite des Verlustes, jedoch kein Zugewinn – jedenfalls nicht, wenn ich Zugewinn als Neues denke.      

Vor ein paar Tagen überkam mich plötzlich eine eigenartige Ruhe. Ich dachte: Ich habe das Schlimmste überstanden – alles, was jetzt noch folgt, schaffe ich auch. Dieses Gefühl hielt ein paar Minuten an, dann verflüchtigte es sich wieder im Alltagsgewusel. Es stimmt natürlich nicht, es kann immer noch Schrecklicheres geschehen. Aber es stimmt wiederum doch, weil ich etwas überstanden habe, was mit zum Schlimmsten gehört, das ich mir vorstellen konnte.

Auch dies wäre eine Form von Zugewinn, der aus dem Erlebten des Vergangenen erwächst. Eine Stärke? Anfangs ist mir dieser Gedanke auch noch öfter in den Sinn gekommen, aber je mehr Zeit verging, desto weniger Kraft hat er entfalten können. Ich würde mit Deinen Worten sagen, dass er sich irgendwann im Alltagsgewusel vollständig verloren hat und das heißt, er ist nicht mehr aufgetaucht.  

Ich glaube, das Wort „Zugewinn“ ist doch nicht gut gewählt. Was mir einfällt, kommt mir theoretisch konstruiert, bemüht vor, zumindest finde ich im Augenblick keinen Zugang, wie sich „Zugewinn“ anfühlen könnte.  

 

Akzeptanz

Ich denke nicht, dass die radikale Akzeptanz so aussehen muss, dass sie einem einen permanenten Zustand des Gleichmuts beschert. Aber sie hilft einem vielleicht dabei, nicht in einem permanenten Zustand des Haderns zu verharren. Überhaupt ist dies für mich der Hauptpunkt bei der radikalen Akzeptanz: zu akzeptieren, dass es so etwas wie Permanenz, Dauerhaftigkeit nicht gibt. Das schließt dann alles mit ein: den Tod, meine Ehe, mein eigenes Leben, Zustände des Glücks und Zustände des Haderns. Nichts davon hat Bestand. Das wirklich zu verinnerlichen ist vielleicht einer der „Zugewinne“.

Du meinst, das radikale Akzeptieren schließt notwendig die Akzeptanz dessen ein, was nicht akzeptiert wird? Jetzt in diesem Moment oder für kurze Zeit, aber auch die Nein’s, die sich dauerhaft verfestigt haben? Hm, ich glaube, Du meinst etwas Anderes ... ah, vielleicht doch nicht. Das Akzeptieren der Art von Veränderungen, von denen Du sprichst, das ist nur eine Betrachtungsweise in größerer zeitlicher Dimension als sie mir vorschwebte. Ich dachte an den stündlichen, täglichen Wechsel der Gemütslagen, die vielen kleinen alltäglichen Vorkommnisse, was einer eher mikroskopischen Sichtweise entspricht.          

Dennoch hast Du offenbar doch noch etwas Anderes im Kopf, wenn Du schreibst „dies zu verinnerlichen“ könne ein Zugewinn sein. Das hieße, sich das Akzeptieren nicht immer wieder neu vergegenwärtigen zu müssen, nicht immer wieder an jedem Tag für jeden Wechsel erneut zu üben, sondern sowas wie ein „Überschreiten“ des inneren Festhaltenwollens, das in „Fleisch und Blut“ übergeht? Ein für allemal begreifen und somit ohne Widerstand im „Fluß des Lebens“ mitschwimmen?

Ich hänge es noch an – für mich ist die „Radikale Akzeptanz“ wie ein Zauberwort, d.h. wie ein Schlüssel zur Lösung im Umgang mit allen „Zumutungen des Lebens“. Was die RA alles beinhaltet und was aus ihr folgt, das ist für mich noch offen und nicht ausgereizt.      

F.

              

 

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.