Brief 14 | Zugewinne

Liebe F.,

Phasen

Es ist nur eine lose Anknüpfung, hauptsächlich assoziativ in Verbindung zum Rhythmus von aktiv und passiv. Meine Phasen würde ich zunächst unterteilen in „bejahende“ und „ablehnende“.

Ja, diese Unterscheidung trifft es sehr viel besser! Nur dass mein Verhalten in manchen Punkten etwas anders als deines ist. In den Phasen des Unwohlseins (das trifft es für mich noch besser – das kann dann unterschiedlich aussehen: ablehnend, negativ, orientierungslos, zornig, hilflos, mürrisch, eine Mischung aus allem oder einzelnes vorherrschend …) entsteht keine Hektik in mir, sondern dann stelle ich mich tot, ziehe mich komplett zurück. Was ich jetzt anpacke, misslingt sowieso, das muss ich hinterher nur wieder reparieren, da kann ich es lieber gleich lassen. Ich will dann mit der Welt auch überhaupt nichts zu tun haben, sie soll mich in Ruhe lassen. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass ich jetzt unbedingt etwas ändern müsste, ich warte nur ab, bis diese Phase von selbst zu Ende geht.

Die Phase des Wohlseins sieht bei mir aber ähnlich wie bei dir aus. Produktiv, kreativ, konzentriert sind gute Stichworte dafür. Allerdings glaube ich nicht, dass in dieser Phase viel Veränderung bei mir stattfindet. Es ist eher ein selbstverständliches Eingebettetsein in den Fluss des Lebens, an dem nichts geändert werden muss.

Veränderung, so sie denn notwendig ist, findet bei mir, glaube ich, in den alles in allem doch sehr viel längeren Phasen zwischen diesen beiden „Extremen“ statt, den eher neutralen. Die aber, so denke ich, in den untätigen Phasen des Pendelausschlags – sowohl ins Negative als auch ins Positive – sozusagen vorbereitet wird. Insofern empfinde ich Phasen der Stagnation als passiv-produktiv, weil ich das Gefühl habe, dass in ihnen etwas in mir „wächst“.

 

Aufhebung der Ehe

Ist es nicht selbstverständlich und normal, dass wir uns als verheiratete Frau(en) verstehen und fühlen?! Wir sind weder ledig noch geschieden, sondern verwitwet. Das bedeutet doch aber, die Ehe, im Status „verwitwet“ („verheiratet“ unter der Bedingung, der Ehemann oder die Ehefrau ist verstorben) angezeigt, dauert an […]

Und wieder muss ich an Dialektik denken: Nicht Negation, sondern Aufhebung der Ehe! Toll, danke! Das klärt für mich vieles. Zum Beispiel dieses:

Kann ich antizipieren, wie es sich anfühlt, mich nicht mehr als verheiratet zu verstehen? Ich kann das gar nicht – es kommt mir vor, als würde ich damit meine Biografie, mein Leben an einer Stelle abschneiden ...

Darum empfinde ich auch mein „Leitbild“ der geschiedenen Frau als zwiespältig. Ich kann mir vorstellen, dass bei ihr das Moment der „Negation der Ehe“ größeres Gewicht hat als die „Aufhebung“. Trotzdem passt es insofern, als dies die einzige Konstellation ist, die wie beim Verwitwetsein beides enthält. Aber dieses Leitbild muss wohl noch gehörig bearbeitet und angepasst werden …

Ob es möglich sein wird, das Verlustempfinden irgendwann gegen ein Gefühl des Zugewinns auszugleichen?

Wie könnte dieser Zugewinn aussehen? Ich war erst etwas perplex bei diesem Ausdruck, aber bei längerem Überlegen finde ich ihn gar nicht so schlecht. Meinst du größere Eigenständigkeit und Sicherheit in sich selbst? Stärke, die aus dem Weiterleben, dem Überleben des Schrecklichen entsteht? Das wären so Sachen, die mir dazu einfielen.

Vor ein paar Tagen überkam mich plötzlich eine eigenartige Ruhe. Ich dachte: Ich habe das Schlimmste überstanden – alles, was jetzt noch folgt, schaffe ich auch. Dieses Gefühl hielt ein paar Minuten an, dann verflüchtigte es sich wieder im Alltagsgewusel. Es stimmt natürlich nicht, es kann immer noch Schrecklicheres geschehen. Aber es stimmt wiederum doch, weil ich etwas überstanden habe, was mit zum Schlimmsten gehört, das ich mir vorstellen konnte.

 

Radikale Akzeptanz

Und jetzt springe ich nochmal zur „Radikalen Akzeptanz“. Wir hatten darüber vor Monaten gesprochen und soweit ich mich erinnere, habe ich damals gemeint, ich hätte den Tod meines Mannes voll akzeptiert. Aber nun, nachdem ich erneut darüber sinne, bin ich arg ins Zweifeln gekommen, ob das wirklich stimmt. Würde es nicht auch bedeuten, mein Alleineleben voll und ganz zu akzeptieren?! „Hadern“ ist zwar eine Nuance zu stark, aber mir fällt im Moment kein Wort ein, das um einen Hauch schwächer wäre. Richtig „im Reinen“ bin ich keineswegs, weder mit dem Tod meines Mannes noch mit meinem Alleineleben seither. Ich würde sehr gerne wissen, was Du jetzt, ebenfalls Monate später, antwortest.        

Es sind nicht alle Tage gleich (siehe oben), insofern schwankt auch die Akzeptanz. Aber alles in allem würde ich sagen, dass ich sie nach wie vor lebe. (Um es etwas widersprüchlich auszudrücken: Meine Alltagsstimmung ist meist eine still-einverständige, nur gelegentlich etwas traurige Zufriedenheit.) Nur manchmal, wenn ich darüber nachdenke – über meine jetzige Situation, über die Umstände des Sterbens meines Mannes etc., kleine Flashs, die mich gelegentlich überfallen –, will sie mir kurz wegrutschen. Dann ermahne ich mich regelrecht und sage mir, was du mal geschrieben hattest: Es ist alles in der Ordnung der Dinge. Meistens (nicht immer) hilft das.

Ich denke nicht, dass die radikale Akzeptanz so aussehen muss, dass sie einem einen permanenten Zustand des Gleichmuts beschert. Aber sie hilft einem vielleicht dabei, nicht in einem permanenten Zustand des Haderns zu verharren. Überhaupt ist dies für mich der Hauptpunkt bei der radikalen Akzeptanz: zu akzeptieren, dass es so etwas wie Permanenz, Dauerhaftigkeit nicht gibt. Das schließt dann alles mit ein: den Tod, meine Ehe, mein eigenes Leben, Zustände des Glücks und Zustände des Haderns. Nichts davon hat Bestand. Das wirklich zu verinnerlichen ist vielleicht einer der „Zugewinne“.

B.

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.