Liebe B., ⭐
Vielmehr haben wir es hier wohl eher mit einer dialektischen Bewegung zu tun, bei der man keines der Momente isoliert sehen kann. Wenn ich versuche, mit mir selbst ins Reine zu kommen, so geschieht das natürlich u. a. auch, wie bei dir, über eine Klärung meiner Beziehungen zu anderen Menschen. Der Unterschied zwischen uns beiden liegt also eher in der Gewichtung des einen oder des anderen Momentes oder der Richtung, aus der wir kommen. Aber wir versuchen wohl beide, unsere Position innerhalb unserer Umwelt neu zu bestimmen.
Soweit ich mich erinnere, habe ich ein Jahr nach dem Tod meines Mannes, ähnlich wie Du, eine andere Gewichtung vorgenommen, d.h. die Bedeutung anderer Menschen für mein Leben ist mir auch erst später, nach 2 Jahren ungefähr, bewusst geworden. Zum einen hatte ich von meinem Mann einen größeren Vorrat an gutem Selbstwertgefühl bekommen, den ich im Laufe der Zeit aufgebraucht habe und nicht aus mir alleine heraus habe erneuern können. Außerdem sind in den ersten 2 Jahren doch ein Großteil meiner Gedanken um meinen Mann und mich gekreist, sodaß die Beziehung zu anderen Menschen eher am Rande eine Rolle spielte. Es hat mir nichts ausgemacht, und ich wollte auch gar nicht mehr als lockere, unverbindliche Kontakte mit anderen Menschen, weil der vertraute, der innige Kontakt mit meinem Mann mich noch ausfüllte – auch dies wie ein Vorrat, der sich allmählich verbrauchte. Erst dann und auch erst nach einer längeren Krisenphase, begriff ich, wie wichtig andere Menschen für mich sind, d.h. vertraute und vertrauensvolle Kontakte, nicht nur beiläufige Begegnungen. Während ich dies jetzt schreibe, wird mir allerdings klar, dass die Art von Nähe, wie sie in einer Ehe ist, niemals wieder sein wird. Wenn ich bei „nah“ und „fern“ bleibe, dann sind und werden alle vertrauensvollen Beziehungen doch ferner sein.
Das wohlgeordnete Gefüge der letzten Jahrzehnte hat sich durch den Tod unserer Männer verändert – ich versuche, ein Bild dafür zu finden, aber das ist gar nicht so einfach. Gerade schwebte mir vor, wie sich verschiedene Himmelskörper durch wechselseitige Anziehungs- und Abstoßungskräfte zu einem stabilen System zusammengefunden haben, worin mein Mann und ich zwei Sterne waren, die auf einer gemeinsamen Bahn dahinzogen und sich dabei gleichzeitig umeinander drehten. Nun ist mein Partnerstern verschwunden, und das Kräfteverhältnis ist dadurch aus dem Gleichgewicht geraten. Das hat Auswirkungen auf das gesamte System, aber natürlich besonders auf mich, die ihm am nächsten war. Ich taumele, komme anderen, früher weiter entfernt liegenden Sternen plötzlich nahe, befinde mich dann wieder in einer unendlichen Leere … Dann wird das Taumeln allmählich schwächer, die ungewohnten Verschiebungen und Wirbel beruhigen sich, die Abstände werden neu austariert, bis das System wieder stabil ist. Aber in Wirklichkeit war es nie durcheinandergeraten. Es befindet sich immer in Bewegung, es bildet immer Gleichgewichte und verliert sie wieder, bildet neue und verliert sie wieder …
Ich zitiere Dein Bild vollständig, weil ich es toll finde. Die kosmologische Dimension zeigt die Weite Deines Blickes und veranschaulicht wunderschön die Beziehungsvielfalt, nicht nur die der sozialen, sondern auch Deiner Weltbeziehung insgesamt. Wie Du das ganze Leben –mit diesem Bild- in einen größeren, geordneten Zusammenhang hineinstellst, das beeindruckt mich. Wenn man die Sternekonstellation mit ihrer Bildung von Gleichgewichten heranzieht, dann, so fällt mir außerdem auf, hat das Bild außer der räumlichen ja zusätzlich noch eine zeitlich weite Dimension, weil es sich um eine eher langsame Dynamik handelt. Mich interessiert sehr, ob Du die gegenwärtige Phase –dem Bild entsprechend- als eine Phase des ruhigen Abwartens, ohne Eile und Hast erlebst.
Was ich eigentlich hatte sagen wollen: Ich kann mich auch nicht isoliert sehen, auch wenn ich das oft gern täte. Aber die Einwirkung der anderen auf mich ist eher indirekter Art. Um einen Antwortversuch auf deine Frage zu geben, was es bedeuten könnte, „in und mit mir selbst ins Reine zu kommen“ und gleichzeitig im Bild zu bleiben, so könnte man sagen: Ich versuche, meine eigene Bahn zu stabilisieren – und dann wird man sehen, welche neuen Anziehungs- und Abstoßungskräfte auf mich einwirken, die dann wiederum Auswirkungen auf meine Bahn haben. – [...]
Für diesen Prozeß paßt, wie ich finde, das Wort „Harmonie“ ausgezeichnet, es ist die Ausrichtung auf eine Harmonie hin.
<Unsicherheit>
Was mir außerdem hilft: Ich habe gelernt zu fragen. Das hat mich anfangs ziemliche Überwindung gekostet, aber es hilft ungemein, weil es die Phase der Unsicherheit abkürzt. Ein Beispiel von meinem Arbeitsplatz, das ich immer wieder beobachte: Ich sitze in der Bibliothek an der Information. Direkt neben mir an der Wand hängt der große Lageplan. Es gibt nun zwei Gruppen von Lesern: Die einen (oft Männer) stellen sich vor den Plan, gucken ihn lange an, gucken sich um, um sich zu orientieren, wo sie sich befinden, gucken wieder auf den Plan, sind unsicher, vermeiden aber jeden Blickkontakt mit mir und gehen dann irgendwann einfach los, wobei man an ihrem zögernden Schritt merkt, dass sie sich keineswegs sicher sind, wo es langgeht. Die andere Gruppe (oft Frauen) guckt kurz auf den Plan, findet ihn zu kompliziert, kommt zu mir und fragt mich: „Wo finde ich die Sprachführer?“ Beide sind unsicher, was ich ganz normal finde, wenn man neu bei uns ist, aber sie gehen unterschiedlich damit um.
Sofort erkenne ich mich in der „Art der Frauen“ wieder. Ich bezeichne dieses Verhalten als „offensive Variante“. Sich Hilfe bei anderen Menschen holen, bevor man es lange oder länger erst selber versucht. Andere zu fragen bedeutet gleichzeitig, das Nicht-Bescheid-Wissen offen zu zeigen. Mir fallen verschiedene und viele Situationen ein, in denen ich bevorzugt die offensive Variante wähle. Das betrifft beispielsweise alle Probleme und Fragen, die im Zusammenhang mit handwerklichen oder technischen Dingen auftreten. Und wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann ist es tatsächlich ein Umgang mit der Unsicherheit, in der sich die Unsicherheit quasi auflöst. Da ich sie zeige, verschwindet sie. Meine Idee ist nun, diese bewährte Methode der Ent-Problematisierung auch in Situationen auszuprobieren, denen ich mich sonst gar nicht erst aussetze. Ein Cafe oder eine Ausstellung alleine besuchen, den Botanischen Garten. Das heißt Aktivitäten außerhalb der Wohnung, die, so wie es derzeit aussieht, langsam wieder möglich werden. Es geht dabei zwar nicht ums hilfesuchende Fragen, aber es geht um das Vor-Zeigen meiner Unsicherheit (z.B. was soll ich jetzt hier alleine? Das kann ich mit meinem Gesicht bestens zum Ausdruck bringen, :-))) ich weiß es).
< Lebens- oder Selbstgefühl>
Ich meine aber, dass man die beiden Aspekte nicht wirklich voneinander lösen kann. Ob und wie wir uns von anderen beurteilt fühlen, hängt immer auch vom Selbstgefühl ab. Der Einfluss des eigenen Lebensgefühls ist in „positiven“ Situationen genauso hoch wie in negativen. Wir fühlen uns nicht gut, weil wir gut beurteilt werden, sondern wir fühlen uns gut beurteilt, weil wir uns selbst gut fühlen. Und entsprechend in negativen Situationen. Es handelt sich zu einem großen Anteil um Projektionen – ich interpretiere die Blicke der Anderen, und das tue ich entsprechend meiner jeweiligen Verfassung.
Deine Überlegung ist überhaupt nicht „nebensächlich“, weil ich glaube, dass ich nun endlich den Punkt unseres Missverstehens gefunden habe. Du gebrauchst Lebens- und Selbstgefühl –zumindest hier in den Briefen- synonym. Und anstelle von Selbstgefühl könnte ich auch Selbstwertgefühl einsetzen? Ist das richtig? Obwohl ich irritiert bzw. in Zweifel war, hatte ich nicht nachgefragt, sondern kurzerhand unterstellt, Du würdest meine Unterscheidung in Lebensgefühl und Selbst(wert)gefühl vornehmen. Falls ich Dich jetzt richtig verstanden habe, dann sehe ich es genau so wie Du. Das Lebens- oder Selbst(wert)gefühl (austauschbar) prägt maßgeblich die Art und Weise, wie wir meinen, Andere sähen und bewerteten uns.
Da das Thema „komplex“ ist, wie Du schriebst und wie auch ich denke :-))) – von mir aus können wir es gerne an dieser Stelle abschließen und abwarten, bis es uns gegebenenfalls wieder „einholt“.
F.
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