Liebe B.,
ich zitiere aus Deinem Brief vom 13. April 2021:
Nun ja, der erste Lebensplan wurde ja erfüllt. Wir haben beide sehr lange, „bis dass der Tod …“, mit einem geliebten Menschen zusammengelebt. Ich habe eigentlich auch einen Plan für die Zukunft, oder besser: eine Vorstellung (Plan ist viel zu konkret): Nicht die vage Hoffnung, eine neue „Herzensbindung“ zu finden; sondern ich möchte dahin kommen, dass ich mich fühle wie eine geschiedene Frau, die es genießt, endlich allein, frei, selbstbestimmt zu sein. Die das Alleinsein nicht als Mangel empfindet, sondern als Genuss. Der Weg dorthin ist für mich natürlich ein völlig anderer (die geschiedene Frau hat sich von etwas Negativem befreit, mir wurde etwas Positives genommen), deshalb wird es für mich sehr viel schwieriger werden, dieses Lebensgefühl zu erreichen. Aber trotzdem schwebt mir als Ziel vor, mein Leben nach und nach wieder in eine in sich ruhende Ganzheit zu bringen. Mal schauen, wie weit mir das gelingt …
Genau s o, wie Du Dich –die Zukunft vorwegnehmend- beschreibst, habe ich mich im ersten Jahr nach dem Tod meines Mannes auch voraus-gesehen. Nun frage ich mich sofort, wann und warum mir dieses, ich bezeichne es als „Selbst-Bild“, verloren gegangen ist. Oder noch besser, weil mir dieses Bild in dem Moment, da ich es bei Dir lese, ganz frisch und lebhaft wieder gegenwärtig wird, was mich daran hindert, es jetzt, heute zu verwirklichen. Ich komme darauf am Ende zurück.
Gestolpert bin ich über Deine wiederholte Erwähnung der „geschiedenen“ Frau. Warum meinst Du, sei es leichter, das Bild der selbstbestimmten, das Leben genießenden Frau in die Realität umzusetzen, wenn es in Verbindung mit der Scheidung steht? Spontan sehe ich es genau andersherum. Die Ausgangs- oder Startbedingungen nach einem guten langen Ehe-Leben sind doch viel bessere, geeignetere, weil wir geliebt worden sind?! Als Geliebte in unser neues Leben eintreten.
Ist die Unfreiwilligkeit für Dich der entscheidende Punkt? Falls es so ist, dann finde ich diesen Umstand interessant, denn Du würdest die „geschiedene“ Frau automatisch mit einer Frau verbinden, die ihren Mann verläßt, während ich mit dem Ausdruck „geschiedene Frau“ eine von ihrem Mann verlassene Frau –fast- automatisch assoziiere. Für mich stünde daher die Kränkung im Vordergrund, die die Entwicklung zu einer freien und in sich sicheren Frau erschwert. Für Dich hingegen läge der erste Schritt von Selbstbestimmung bereits im Verlassen des Ehemannes.
„Etwas Positives verloren haben“, darin kommt die Unfreiwilligkeit zum Ausdruck und welche Rolle spielt das „Positive“ dabei, falls es so ist? In meinem Bemühen, dies nachzuvollziehen, komme ich auf die Spur, ob sich hinter Deiner Bewertung, es sei schwerer, ein „schlechtes Gewissen“ finden ließe, denn das „Positive“ ist ja ein konkreter Mensch, Dein Mann. Oder aber, ob das von Dir beschriebene Selbst-Bild mit dem entsprechenden Lebensgefühl im Vergleich zum vergangenen, dem erfahrenen Eheleben zu schwach und farblos bleibt, um den nötigen Antrieb zur Verwirklichung zu geben. In ernüchternder Sprache: Der Verlust dominiert den zu erwartenden Gewinn.
An den letzten Punkt möchte ich anknüpfen, um zum Anfang zurückkommen, denn an dieser Stelle wird mir zum einen bewußt, daß ich, im Unterschied zu Dir, nicht vom Zurückkehren zu einem bestimmten, bereits einmal erfahrenen Lebensgefühl ausgehen kann und weiterhin, daß für mich die Unterscheidung in Lebensgefühl und Selbst-Bild von Bedeutung ist.
Das zufriedene Lebensgefühl, die „ruhende Ganzheit“ habe ich während meiner Ehe auch nicht gekannt, zumindest nicht als Grundton meines Wirklichkeitserlebens. Das ist zwar kein Grund, für die Zukunft nicht dennoch dieses Ziel vor Augen zu haben, aber ich glaube, daß einer Veränderung des Lebensgefühls die geänderte Selbstbeschreibung oder das geänderte Selbst-Bild vorangehen müssen, weil sich Lebensgefühl, Gefühle generell, am ehesten durch gedankliche Bewertungen verändern lassen. Das Bild der unabhängigen Frau, die selbstbestimmt durch die Tage geht, das ist mir mühelos und unmittelbar präsent – worin würde es sich zeigen? Im Lebensgefühl. Worin würde es für mich sichtbar? Diese Frage stelle ich, unbeantwortet, an den Schluß -
F.
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