Liebe B.,
„Ich mache Ordnung“
Ja, das sehe ich so wie du, dass wir nur erkennen können, wenn Unterschiede existieren. Aber als ich das oben Zitierte las, musste ich an Karl May denken, über den ich mal meine Diplomarbeit geschrieben habe. In den „Geographischen Predigten“ versucht er darzulegen, dass alles in der Welt seinen Zweck hat, weil alles nach Gottes Plan geschieht. Das treibt dann aber manchmal absurd-naive Blüten, wenn er beispielsweise behauptet, dass Gott die Auster mit einer „ungeheuren Vermehrungsfähigkeit“ ausgestattet habe, damit der große Bedarf von Städten wie London gedeckt werden könne.
Wenn du jetzt sagst, etwas sei hässlich, damit wir das Schöne erkennen können, dann geht das ebenfalls in diese Richtung: Etwas geschieht oder existiert, DAMIT wir, die Menschen, einen Nutzen davon haben. Während ich ja eher sagen würde, dass hier nicht Funktionen, sondern Relationen am Werk sind. (Wie mir gerade aufgeht, denke ich also auch nicht in den Bahnen der Teleologie? Aber vielleicht ergibt sich das zwangsläufig, wenn man mit einem übergeordneten Sinn nichts anfangen kann? Die Fragezeichen stehen da, weil ich mich mit Teleologie noch nie beschäftigt habe, also gar nicht genau weiß, was es damit auf sich hat.) Hässliches (als Beispiel) ist ja nicht per se hässlich, sondern das ist eine Interpretation. Und die entsteht in bestimmten Zusammenhängen. Sind die Zusammenhänge andere, sind auch die Interpretationen andere. Das heißt, in meinen Augen gibt es da keine inhärente, keine wesent-liche Funktion.
Dein Sprung von meinem harmlosen „damit“ in die Teleologie hat mir keine Ruhe gelassen, obwohl Du ja nur von einer Richtungsähnlichkeit schreibst. Da ich ebenso wie Du nicht viel von dem, was man „Teleologie“ nennt, weiß, habe ich bei wikipedia nachgesehen. Für unser Gespräch finde ich erhellend, dass es neben den transzendenten Formen der Teleologie auch noch die gibt, die man als „immanent“ bezeichnet. Die älteste uns bekannte immanente Form eines teleologischen Entwurfes ist die von Aristoteles, der meint, der „Zielzustand des Menschen (Anthropos) verwirkliche sich in seinem So-Sein als Zoon politicon und durch die davon bedingte Glückseligkeit (Eudämonie)“. Ein Modell jüngeren Datums liegt in der „Evolution“ vor. Versteht man dieses Wort lediglich als einen Begriff, mit dem ein Prozeß erfasst werden soll, nämlich der Prozeß, dass sich aus diesen und jenen Arten andere und neue Arten entwickeln, so wie man auch Rosen züchtet, dann bewegt man sich vor allem auf einer beschreibenden Ebene. Anthropomorphisiert man hingegen die Evolution, unterstellt man ihr Absichten, wie ein Mensch sie hat, und behauptet, die Evolution habe zum Ziel, die Gattung Mensch (als Krone der Schöpfung) hervorzubringen, dann ist dies ein immanentes teleologisches Modell. Deine Vorliebe für die Immanenz schließt ein teleologisches Weltbild also keineswegs aus. Sofern sie sich bei mir nicht in einer „black box“ versteckt, würde ich meinen, ich hätte mit ihr, der Teleologie nichts am Hut :-).
Nachdem ich den teleologischen Aspekt aus Deiner Antwort rausgeschafft habe, sehe ich trotzdem immer noch nicht klar. Ich versuche es mit Aufdröseln: Wir stimmen darin überein, dass wir Unterschiede benötigen, um erkennen zu können. Im Blick hatte ich eine wertungsfreie Aussage über den Menschen. Es ist unserer Sinnen- und Verstandesnatur eingeschrieben, dass wir nur auf diese Weise erkennen, weil wir nun einmal so „gestrickt“ sind. Es ist also weder gut noch schlecht und dient auch keinem Zweck, sondern es ist einfach so, wie es ist. So funktioniert das Erkennen des Menschen. Aber ich räume gerne ein, mit Worten wie „Zweck“ oder „Ziel“ auf eine falsche Fährte geführt zu haben.
Außerdem teile ich auch Deine Auffassung, dass die Unterscheidungen in Relationen erzeugt werden. Wir vergleichen, wir stellen Bezüge her, das Schöne ist nicht per se schön und das Hässliche ist nicht per se hässlich.
Ein kurzer Abweg: In dem philosophischen Forum, in dem wir beide geschrieben haben, gab es eine spannende Diskussion, ob wir das Schöne als schön erkennen, weil es schön ist und für das Hässliche gilt das Entsprechende. Die These des Philosophen John McDowell ist, dass die Dinge mit unserer Erkenntnis übereinstimmen. Wenn ich mich jetzt daran erinnere, so fand ich die Argumentation teilweise bestechend, aber dennoch habe ich mich nicht entschließen können, ihr zu folgen. Sie verkennt, wie ich denke, die Bedeutung der interpretierenden Anteile. Das wird mir an dieser Stelle deutlich.
Sehe ich 7 Trinkpappbecher in einer Runde zusammengestellt, dann kann ich ihre kreisförmige Anordnung harmonisch finden, oder aber sie stören mich nur, und ich sehe lediglich die schmutzigen Ränder. In einer Kunstausstellung würden sie noch einmal auf andere und sicher unterschiedliche Weisen interpretiert.
Ich möchte daher unterteilen. Meine Äußerung bezog sich ausschließlich auf die erkennende Funktion im Unterscheiden. Die „Zusammenhänge“ und „Relationen“ beziehen sich auf die Art und Weise, wie wir unterscheiden.
Und hier kann ich leider nicht mehr folgen. Du meinst, fürs Empfinden braucht es (oder wünschst du dir?) noch irgendetwas Zusätzliches („Tiefgründigeres“), was beim Denken/Erkennen nicht unbedingt notwendig ist? Oder ist dir diese Erklärung zu „einfach“ (deine Überschrift) und du meinst/möchtest, dass das Seelenleben des Menschen doch irgendwie komplizierter sein muss?
Gut, dass Du nicht folgen kannst, denn nun muß ich noch einmal meinen abgeschnittenen Gedankenfaden aufnehmen. Die wertungsfreie Feststellung, dass wir Freude und Schmerz wie das Erkennen von „hässlich“ und „schön“ auch nur durchs Unterscheiden haben, ist mir deswegen falsch vorgekommen, weil ich bei den Gefühlen auf einmal dachte, dass ich den Menschen reduziere, indem ich ihn unter einem Gesichtspunkt, der weder „gut“ noch „schlecht“ beinhaltet, rein funktionell betrachte. Als ich aber nun näher überlegt habe, ist mir deutlich geworden, dass die Gefühle selbst, so wie sie sich anfühlen, von der Feststellung, dass wir sie nur aufgrund ihrer Unterschiedenheit erkennen können, gar nicht tangiert werden. Es geht in beiden Fällen um das Erkennen und dies aber setzt die Unterscheidung voraus. „Schön“ und „hässlich“ werden ja auch auf irgendeine Weise erlebt, wenn sie von einem Menschen wahrgenommen werden. Das „feeling“ von Schmerz und Freude wird von meinem Unterscheidungsansatz überhaupt nicht berührt. Und Gefühle können selbstverständlich auch mit „gut“ und „schlecht“ bewertet werden. Da die Wahrnehmung von „hässlich“ oder „schön“ mit Empfindungen einhergeht, könnte man auf die Verschränkung des Sinnen- mit dem Gefühlsbereich eingehen, aber das, so denke ich, gehört ins Feld der „Interpretation“, das Du ins Spiel gebracht hast.
Was gab’s zum Frühstück?
Um Gottes Willen, nein! Dazu bin ich viel zu pragmatisch und un-esoterisch. Und Zen zum Glück auch (jedenfalls nach meinem Verständnis und nach allem, was ich inzwischen davon kennengelernt habe). Da halte ich es doch lieber mit Muho, der, wenn man ihm kommt mit „Aufgehen im großen Ganzen“ und „wir haben doch gar kein individuelles Ich, sondern sind alle Eins miteinander und mit dem Universum“ (im Fachjargon: Nondualität), fragt: „Dann weißt du ja sicher auch, was ich heute Morgen gefrühstückt habe?“
Cool!!! Man ist verblüfft. Aber dann darf auch ich mein „um Himmels willen“ zur Antwort Deines Zenlehrers einwerfen. Gut, es hängt natürlich von der Beziehung ab, wie man eine solche Antwort aufnimmt, aber ich möchte nicht ausschließen, dass ich mir auf den Schlips getreten vorkäme. Als unbeteiligte Beobachterin der Szene bin ich trotzdem verwirrt, denn was meint diese Antwort? Komme ich mit derlei hehren Ansprüchen und Zielen daher, dann betätige ich mich ja nicht als Hellseherin und behaupte auch keine telepathische Begabung. Könnte er stattdessen auch sagen „es regnet“ oder „morgen ist Mittwoch“? Und noch deutlicher, „dummes Zeug“? Worauf kommt es an bei der Antwort? Die Ansprüche auf die Erde runterzuholen? Das Gegenüber zu verwirren?
Während ich meinem Brief den letzten Schliff gebe, fällt mir nun doch endlich die von mir gesuchte rationale und erkennbare Verbindung zwischen fiktiver Äußerung und Antwort ein. Hätte man den Anspruch und das Ziel, sich wie in Alleinheit mit der Welt zu fühlen, dann wäre man eine Art gottähnliches Wesen, das die Flügel über die Welt breitet und selbstverständlich in Kenntnis auch der banalsten Verrichtungen eines jeden Menschen ist. „Gott sieht alles“. Vor diesem Hintergrund verstehe ich Muhos Antwort als einen Hinweis auf Bescheidenheit.
Und die „Bescheidenheit“ ist das Stichwort für meine letzte Anmerkung. Aus Versuchsgründen habe ich mich den vergangenen 2 Tagen viel in dem, was man die „social media“ nennt, aufgehalten. Die Rückkehr in meinen Brief empfand ich als eine Wohltat. Unaufgeregt und nachdenklich lassen wir unsere Gedanken hier hin- und herfließen. Es gibt keine Eile, keine Besserwisserei … das ist sowas von angenehm!
F.
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