Brief 188 | Es regnet!

Liebe F.,

Black box?

Gibt es denn nur den einen Sinn? Ich brauche, wie beschrieben, eher viele Sinne, für viele verschiedene Aspekte in meinem Leben.

Ja und nein. Ja, weil ich unter „Sinn“ tatsächlich dies verstehe und die „vielen Sinne“ anders bezeichne, nämlich als „Zweck“ oder auch „Ziel“. Wenn Du mein „Zweck“ und „Ziel“ als andere Bedeutungen von „Sinn“ ansiehst, dann können wir uns aber von mir aus gerne darauf einigen. An meinen Bezeichnungen hänge ich überhaupt nicht.

Ich auch nicht. Aber ich will das Thema auch gar nicht weiter vertiefen, wir können diese Unterschiede gern einfach so nebeneinander stehen lassen. Ich bin nur etwas überrascht, was sich hier für mich herauskristallisiert: Dass ich mich offenbar nicht nur gedanklich-intellektuell mehr im Bereich der Immanenz bewege, sondern dass das anscheinend auch emotional sehr tief in mir verankert ist. Ich weiß gar nicht genau, warum mich das so überrascht (und freut). Ich glaube, ich hatte bisher immer den Verdacht, dass ich mir da eventuell was einrede, was auf einer tieferen Ebene eventuell ganz anders ist (als ob meine Gefühlsebene eine black box ist und ich gar nicht weiß, was wirklich darin steckt). Das heißt, ich freue mich darüber, dass Denken und Fühlen sich als mehr oder minder deckungsgleich herausstellen. Hm … kommt mir jetzt irgendwie komisch vor, dass ich da vorher so unsicher gewesen sein soll ...

 

„Das ist doch ganz einfach …“ – Stört dich das?

Mir fällt sofort und als Einziges ein, dass wir das Schöne als Schönes überhaupt nur dann erkennen können, wenn wir das Hässliche als das Hässliche erkennen. Wie die Dinge „an sich“ sind, falls es dieses „an sich“ gibt, ist egal. Unsere Wahrnehmung lässt uns eine Landschaft als „schön“ erkennen und dies ist nur möglich, wenn wir „hässlich“ wahrnehmen. Vielleicht kommt es nicht auf die Gegensätze an, aber es kommt zumindest darauf an, Unterschiede wahrnehmen zu können. Täten wir das nicht, hätten wir nicht die Fähigkeit dazu, würden wir, glaube ich, nur einen einheitlichen Brei wahrnehmen. Ich denke, dass es sich beispielsweise ebenso mit „nützlich“ und „nutzlos“ verhält. Wir treffen die Unterscheidung begrifflich und zugleich ist es eine Unterscheidung, die unsere Praxis betrifft. In einer schönen Landschaft ist der Plastikmüll nutzlos, deswegen sammeln wir ihn auf und tragen ihn fort. An einer anderen Stelle, der Wiederverwertungsanlage hingegen, hat er einen Nutzen.  

Wenn ich die Differenz für eine Bedingung halte, damit „denken“ und „erkennen“ überhaupt möglich ist, würde ich dies einen „Sinn“ nennen? Vielleicht passt „Funktion“ besser? Hm, es kommt mir vor wie Wortklauberei. „Sinn“ oder „Funktion“ – Beides geht. Jedenfalls ist dies meine Erklärung dafür, dass es das Hässliche gibt. Damit wir fähig sind, das Schöne zu erkennen.

Ja, das sehe ich so wie du, dass wir nur erkennen können, wenn Unterschiede existieren. Aber als ich das oben Zitierte las, musste ich an Karl May denken, über den ich mal meine Diplomarbeit geschrieben habe. In den „Geographischen Predigten“ versucht er darzulegen, dass alles in der Welt seinen Zweck hat, weil alles nach Gottes Plan geschieht. Das treibt dann aber manchmal absurd-naive Blüten, wenn er beispielsweise behauptet, dass Gott die Auster mit einer „ungeheuren Vermehrungsfähigkeit“ ausgestattet habe, damit der große Bedarf von Städten wie London gedeckt werden könne.

Wenn du jetzt sagst, etwas sei hässlich, damit wir das Schöne erkennen können, dann geht das ebenfalls in diese Richtung: Etwas geschieht oder existiert, DAMIT wir, die Menschen, einen Nutzen davon haben. Während ich ja eher sagen würde, dass hier nicht Funktionen, sondern Relationen am Werk sind. (Wie mir gerade aufgeht, denke ich also auch nicht in den Bahnen der Teleologie? Aber vielleicht ergibt sich das zwangsläufig, wenn man mit einem übergeordneten Sinn nichts anfangen kann? Die Fragezeichen stehen da, weil ich mich mit Teleologie noch nie beschäftigt habe, also gar nicht genau weiß, was es damit auf sich hat.) Hässliches (als Beispiel) ist ja nicht per se hässlich, sondern das ist eine Interpretation. Und die entsteht in bestimmten Zusammenhängen. Sind die Zusammenhänge andere, sind auch die Interpretationen andere. Das heißt, in meinen Augen gibt es da keine inhärente, keine wesent-liche Funktion.

Beim Beispiel mit dem Plastikmüll gehst du ja in eine ähnliche Richtung, wenn ich das richtig verstanden habe.

Aber hier kommst du wieder zu den Funktionen bzw. dem Sinn zurück:

Es liegt auf der Hand, wie ich finde, den Sinn vom Schönen und Hässlichen auf die Freude und den Schmerz zu übertragen. Freude könnten wir ohne den Schmerz nicht empfinden. Das heißt, wir brauchen auch für die Empfindungen die Fähigkeit der Unterscheidung. Eins ohne das Andere geht nicht, zumindest bedarf es der Unterschiede.

Und nun sträube ich mich, die einfache und mich überzeugende Erklärung auf der Empfindungsebene zu akzeptieren. Der Sinn von Freude und Schmerz ist es, dass sie nur über die Unterscheidung möglich sind. Sie bedingen sich wechselseitig. Das ist das Muster der menschlichen Natur und Punkt. Das ist alles? Kein Tiefgründigeres dahinter?

Und hier kann ich leider nicht mehr folgen. Du meinst, fürs Empfinden braucht es (oder wünschst du dir?) noch irgendetwas Zusätzliches („Tiefgründigeres“), was beim Denken/Erkennen nicht unbedingt notwendig ist? Oder ist dir diese Erklärung zu „einfach“ (deine Überschrift) und du meinst/möchtest, dass das Seelenleben des Menschen doch irgendwie komplizierter sein muss?

 

Zweimal Danke!

Zum Schluss noch zweimal Danke für zwei Erkenntnisse, die du mir schenkst. Die erste betrifft die Begrenzung in meinem Alltag, die zweite die Sinnlosigkeit des Zazen.

Ich bin ziemlich sicher, dass die Erinnerung an eine Zeit, in der ein Arbeitsplatz, den ich jetzt einmal symbolisch und stellvertretend für die Unfreiheit einsetze, als Begrenzung nicht genügt. Wir brauchen diesen Wechsel beständig, d.h. er muß in allen Lebensphasen spürbar sein. So können wir für die Freiheit des „tun und lassen, was und wann immer man will“ das Gegenstück der Selbstverpflichtung ersinnen. Ob sie darin besteht, zweimal am Tag für eine Stunde ZaZen zu üben oder sich im Rahmen einer sozialen Organisation zu betätigen, ist, so nehme ich an, unter dem übergeordneten Gesichtspunkt des wechselseitigen Bedingens unerheblich. 

Du lieferst mir hier die Antwort, die mir vorschwebte, die ich aber nicht richtig zu fassen kriegte, danke schön! Schon aus meiner Beschreibung dieser unbeschränkten Freiheit konnte man ja vielleicht herauslesen, dass sie mir eben NICHT genügt, so angenehm sie auch sein mag. Ich empfinde sie als „sinnlos“. :-))

Ich mache Dir einen Erklärungs- oder Interpretationsvorschlag, der mir sofort eingefallen ist. Rührt das Sinngebungsverlangen von der abverlangten Sinn-Losigkeit her? Niemand verlangt es Dir ab, das ist sicher. Aber Du bist es, die auf Aussagen wie „ZaZen ist gut für nichts“, „das Leben ist sinn-los“ voller Zustimmung reagiert. Die Begeisterung für diese Art von Paradoxien wird immer wieder deutlich. Also bist Du es selbst, die sich die Einsicht in die Sinnlosigkeit des Unternehmens abverlangt? Das Sitzen ist sinnlos und das aber ist der Sinn des Sitzens. Man bewegt sich in einem Kreisel, der keinen Anfang und kein Ende hat, vielmehr sind Anfang und Ende eins. Dann wäre dies ein Rätsel, das Du Dir selber stellst, um es zu lösen.

Das ist gut!!! Das ist eine Erklärung auf einer Ebene oder in einer Sprache, die ich sehr gut nachvollziehen kann, vielleicht besser als das gewiss ebenso richtige „Zazen ist dein Koan“, was mir mein Zenlehrer mal mitgab.

 

Was gab’s zum Frühstück?

Und zu allerletzt noch ein entschiedenes Nein! :-)

Nicht aus der Luft gegriffen, aber ein wenig überfallartig – ist das Ziel die Auflösung (Deines Ichs) im großen Ganzen? Die Sehnsucht nach Einsamkeit, nach mit Dir alleine sein, nach dem Verschwimmen Deiner Grenze, um mit dem Universum harmonisch zu werden? Große Worte, ja, allerdings mit Rückhalt in all den -inzwischen sehr vielen- Informationen, die Du mir gegeben hast. Das wäre in meiner Begrifflichkeit ein Ziel, in der Deinen, ein Sinn. Nein, das wäre in meinem Sinnverständnis ebenfalls ein Sinn.

Um Gottes Willen, nein! Dazu bin ich viel zu pragmatisch und un-esoterisch. Und Zen zum Glück auch (jedenfalls nach meinem Verständnis und nach allem, was ich inzwischen davon kennengelernt habe). Da halte ich es doch lieber mit Muho, der, wenn man ihm kommt mit „Aufgehen im großen Ganzen“ und „wir haben doch gar kein individuelles Ich, sondern sind alle Eins miteinander und mit dem Universum“ (im Fachjargon: Nondualität), fragt: „Dann weißt du ja sicher auch, was ich heute Morgen gefrühstückt habe?“

 

So, und jetzt gehe ich schnell raus – es regnet endlich mal! Ich bin darüber so begeistert, dass ich das spontan zur Überschrift machen musste. :-)

B.

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