Liebe B.,
ich habe mich während der letzten Tage jetzt sehr mit deinen Ausführungen zum Sinn beschäftigt, weiß aber gar nicht, was ich zitieren soll, denn meine Gedanken mäandern hin und her und knüpfen etwas wirr an mehreren Stellen an. Ich schreibe also ausnahmsweise einmal ohne Zitate.
Und ich habe Deine Gedanken aufgesammelt, einige beiseite gelegt und diejenigen, an die ich angeknüpft habe, vollständig umsortiert :-).
Sinniges
Mir ist nämlich eingefallen, dass nach meiner Vorstellung die Sachen keinen Sinn haben, sondern dass wir ihnen einen Sinn geben. Das läuft in der Praxis vielleicht auf dasselbe hinaus, aber für mich besteht da doch ein Unterschied. Das hängt wohl letzten Endes damit zusammen, dass ich eher zur Immanenz als zur Transzendenz neige. Ich erwarte Sinngebung weder von einem Gott noch vom Schicksal.
Es war diese Bedeutung des Wortes „Sinn“, von der ich meinte, wir könnten uns darüber untereinander nicht verständigen. Nur in der Bedeutung, die ein Größeres und Anderes als uns selbst zur Bedingung hat, diesen Sinn hatte ich unterstellt und vorausgesetzt. Das ist mir aber erst jetzt aufgrund Deiner Antworten deutlich geworden. Dieses Sinnverständnis setzt ein Äußeres, von uns Unabhängiges voraus, das den Sinn gibt. Wir müssen ihn nur suchen und werden ihn –vielleicht- finden. Richtiger noch sprechen weder Gott noch das Schicksal mit uns so wie Menschen miteinander sprechen. Den Sinn geben auch wir genau genommen, nur leiten wir ihn her aus der Verankerung in Gott oder dem Schicksal. Ich stelle diese Passage an den Beginn, weil mir die „vielen Sinne“, von denen Du schreibst, nicht vorschwebten, und ich möchte meinen „Sinn“ auch nicht als Verengung bezeichnen, denn er scheint mir eine zentrale Bedeutung von „Sinn“. Dennoch:
Gibt es denn nur den einen Sinn? Ich brauche, wie beschrieben, eher viele Sinne, für viele verschiedene Aspekte in meinem Leben.
Ja und nein. Ja, weil ich unter „Sinn“ tatsächlich dies verstehe und die „vielen Sinne“ anders bezeichne, nämlich als „Zweck“ oder auch „Ziel“. Wenn Du mein „Zweck“ und „Ziel“ als andere Bedeutungen von „Sinn“ ansiehst, dann können wir uns aber von mir aus gerne darauf einigen. An meinen Bezeichnungen hänge ich überhaupt nicht.
Dabei fällt mir etwas unmotiviert ein, dass ich nie das Bedürfnis hatte, im Tod meines Mannes einen Sinn zu suchen. Er war einfach eine Tatsache, mit der ich irgendwie umgehen musste, das war alles. Einen Sinn brauchte ich hier nicht. Wie ist das bei dir? Brauchtest du hier die „Medizin“ des Sinns?
Nein, und ich brauche auch gar nicht zu überlegen. Die „Sinn“-Frage zu stellen ist mir überhaupt nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen. So, als sei die Frage außerhalb meines Denk-Horizontes gewesen.
„Das ist doch ganz einfach …“
Wenn die Landschaft schön ist, braucht sie nach dir keinen Sinn. Welchen Sinn hat dann aber der unschöne Plastikmüll?
Ich kann in dem Plastikmüll den Sinn sehen, dass er mich zur Demut anhält (Gott hat mich absichtlich unvollkommen geschaffen) oder mich zur Weiterentwicklung auffordert (psychologischer Sinn) oder mich dazu bringt mich um eine Welt zu bemühen, in der den Menschen gar nicht erst so viel Seelenmüll aufgeladen wird (politischer Sinn), aber entscheidend ist doch in allen Fällen die Praxis, also was ich ganz konkret mit diesem Müll anfange. Ich kann ihn wegräumen, ich kann versuchen erst gar nicht so viel Müll zu produzieren, ich kann ihn wiederverwenden, ich kann ihn verwandeln, z.B. in ein Kunstwerk … Was ich mit ihm mache, ist entscheidender als herauszufinden, welchen Sinn es hat, dass er da liegt.
Mir fällt sofort und als Einziges ein, dass wir das Schöne als Schönes überhaupt nur dann erkennen können, wenn wir das Hässliche als das Hässliche erkennen. Wie die Dinge „an sich“ sind, falls es dieses „an sich“ gibt, ist egal. Unsere Wahrnehmung lässt uns eine Landschaft als „schön“ erkennen und dies ist nur möglich, wenn wir „hässlich“ wahrnehmen. Vielleicht kommt es nicht auf die Gegensätze an, aber es kommt zumindest darauf an, Unterschiede wahrnehmen zu können. Täten wir das nicht, hätten wir nicht die Fähigkeit dazu, würden wir, glaube ich, nur einen einheitlichen Brei wahrnehmen. Ich denke, dass es sich beispielsweise ebenso mit „nützlich“ und „nutzlos“ verhält. Wir treffen die Unterscheidung begrifflich und zugleich ist es eine Unterscheidung, die unsere Praxis betrifft. In einer schönen Landschaft ist der Plastikmüll nutzlos, deswegen sammeln wir ihn auf und tragen ihn fort. An einer anderen Stelle, der Wiederverwertungsanlage hingegen, hat er einen Nutzen.
Wenn ich die Differenz für eine Bedingung halte, damit „denken“ und „erkennen“ überhaupt möglich ist, würde ich dies einen „Sinn“ nennen? Vielleicht passt „Funktion“ besser? Hm, es kommt mir vor wie Wortklauberei. „Sinn“ oder „Funktion“ – Beides geht. Jedenfalls ist dies meine Erklärung dafür, dass es das Hässliche gibt. Damit wir fähig sind, das Schöne zu erkennen.
Es liegt auf der Hand, wie ich finde, den Sinn vom Schönen und Hässlichen auf die Freude und den Schmerz zu übertragen. Freude könnten wir ohne den Schmerz nicht empfinden. Das heißt, wir brauchen auch für die Empfindungen die Fähigkeit der Unterscheidung. Eins ohne das Andere geht nicht, zumindest bedarf es der Unterschiede.
Und nun sträube ich mich, die einfache und mich überzeugende Erklärung auf der Empfindungsebene zu akzeptieren. Der Sinn von Freude und Schmerz ist es, dass sie nur über die Unterscheidung möglich sind. Sie bedingen sich wechselseitig. Das ist das Muster der menschlichen Natur und Punkt. Das ist alles? Kein Tiefgründigeres dahinter?
Das wiederum führt mich zu der Frage: Für welche Dinge brauchen wir eigentlich einen Sinn und für welche nicht, egal ob immanent oder transzendent? Geht es dabei wirklich immer nur um eine „Medizin“, so wie du es gesagt hast, also um mit Unangenehmem, Traurigem, Schrecklichem besser zurechtzukommen? Zumindest bei mir ist es so, dass ich gerade bei solchen Dingen gar keinen Sinn suche, sondern eher bei neutralen. Oder nein, präziser gedacht: Ich suche keinen Sinn in Sachen, die mir widerfahren, sondern in Sachen, die ich tu. Das ist jetzt ein richtiger Geistesblitz! :-) Warum mache (oder unterlasse) ich etwas? Welchen Sinn hat es beispielsweise, jeden Tag zur Arbeit zu gehen? Welchen Sinn hat es, jetzt nicht mehr jeden Tag zur Arbeit zu gehen, sondern den Lebensmittelpunkt ins Private zu verlagern? Welchen Sinn hat ein solches „privates“ Leben? Genügt mir ein Leben, das nur um mich selbst kreist? Finde ich in dieser Konzentration auf mein eigenes Wohlbefinden, auf das Auskosten des Alleinseins, auf das befreiende Gefühl tun und lassen zu können, was und wann immer ich will, genug Befriedigung? Das sind so die Sinnfragen, die mich umtreiben. Ich brauche Sinn also nicht als Linderung, sondern mehr als Orientierung.
Nun bin ich in die Spurrille des Unterscheidens als Bedingung unseres Vermögens zu erkennen gekommen und lese auch Deine obigen Überlegungen unter diesem Aspekt. „Tun und lassen können, was und wann immer ich will“ braucht eine Begrenzung, weil andersfalls die Freiheit gar keine ist. Sie existiert nur dadurch, dass sie eine Grenze hat, ein Anderes, das nicht Freiheit ist. Nur unter dieser Voraussetzung können wir ein Freiheits- oder Freiseingefühl haben.
Ich bin ziemlich sicher, dass die Erinnerung an eine Zeit, in der ein Arbeitsplatz, den ich jetzt einmal symbolisch und stellvertretend für die Unfreiheit einsetze, als Begrenzung nicht genügt. Wir brauchen diesen Wechsel beständig, d.h. er muß in allen Lebensphasen spürbar sein. So können wir für die Freiheit des „tun und lassen, was und wann immer man will“ das Gegenstück der Selbstverpflichtung ersinnen. Ob sie darin besteht, zweimal am Tag für eine Stunde ZaZen zu üben oder sich im Rahmen einer sozialen Organisation zu betätigen, ist, so nehme ich an, unter dem übergeordneten Gesichtspunkt des wechselseitigen Bedingens unerheblich.
Was treibe ich da? :-)
Um ein konkretes Beispiel zu geben: Ich kämpfte (und kämpfe gelegentlich noch) damit, dass mir Zazen immer mal wieder als absolut sinnlos erscheint. Welchen Sinn soll es haben, jeden Tag eine halbe Stunde unbeweglich auf einem Kissen zu sitzen?! Ich habe aber festgestellt, dass mir die Erläuterungen und Anweisungen in den buddhistischen Texten (als Beispiel für etwas außerhalb von mir Liegendes, in gewisser Weise (als religiöse Theorie) Transzendentes) dabei überhaupt nicht weiterhelfen. Ich finde sie oft interessant und manchmal auch tröstlich, aber ich habe selten das Gefühl, dass sie in mein Leben hineinreichen. Ich weiß einfach, dass ich meinen ganz eigenen Sinn in meinem Sitzen finden muss. Und der ist für mich dann auch gültig, er muss nicht von irgendeiner Autorität außerhalb legitimiert werden. Und so ist es mit vielen Sachen, bei denen ich das Gefühl habe, dass sie nach einer Sinngebung verlangen.
Ja, das ist ein spannender Punkt, weil Du diese Frage, die das ZaZen begleitet hat und begleitet, öfter erwähnt hast. Wir hatten das „Sitzen“ auch einmal schon mit dem Spielen verglichen. Ähnlich einem Puzzle oder einer Patience könnte man zwar sagen, das Ziel oder der Zweck seien die Puzzle-Teile zu einem Ganzen zusammenzulegen oder die Patience aufgehen zu lassen, aber nach einem Sinn oder einem Sinn in diesem Sinne fragt man dabei nicht. Man spielt um des Spieles willen. Beim ZaZen scheint der Sinn zu fehlen und damit ein Defizit.
Ich mache Dir einen Erklärungs- oder Interpretationsvorschlag, der mir sofort eingefallen ist. Rührt das Sinngebungsverlangen von der abverlangten Sinn-Losigkeit her? Niemand verlangt es Dir ab, das ist sicher. Aber Du bist es, die auf Aussagen wie „ZaZen ist gut für nichts“, „das Leben ist sinn-los“ voller Zustimmung reagiert. Die Begeisterung für diese Art von Paradoxien wird immer wieder deutlich. Also bist Du es selbst, die sich die Einsicht in die Sinnlosigkeit des Unternehmens abverlangt? Das Sitzen ist sinnlos und das aber ist der Sinn des Sitzens. Man bewegt sich in einem Kreisel, der keinen Anfang und kein Ende hat, vielmehr sind Anfang und Ende eins. Dann wäre dies ein Rätsel, das Du Dir selber stellst, um es zu lösen.
Nicht aus der Luft gegriffen, aber ein wenig überfallartig – ist das Ziel die Auflösung (Deines Ichs) im großen Ganzen? Die Sehnsucht nach Einsamkeit, nach mit Dir alleine sein, nach dem Verschwimmen Deiner Grenze, um mit dem Universum harmonisch zu werden? Große Worte, ja, allerdings mit Rückhalt in all den -inzwischen sehr vielen- Informationen, die Du mir gegeben hast. Das wäre in meiner Begrifflichkeit ein Ziel, in der Deinen, ein Sinn. Nein, das wäre in meinem Sinnverständnis ebenfalls ein Sinn.
F.
Kommentar hinzufügen
Kommentare