Brief 186 | Weiterspaziert

Eine bittere Gurke? Wirf sie weg!

Dornensträucher im Weg?

Weiche ihnen aus! Frage nicht noch:

Wozu gibt es solche Dinge in der Welt?

Marc Aurel

Liebe F.,

ich habe mich während der letzten Tage jetzt sehr mit deinen Ausführungen zum Sinn beschäftigt, weiß aber gar nicht, was ich zitieren soll, denn meine Gedanken mäandern hin und her und knüpfen etwas wirr an mehreren Stellen an. Ich schreibe also ausnahmsweise einmal ohne Zitate.

Unser gegenseitiges Nicht-Verstehen bei diesem Thema hatte ich übrigens doch glatt vergessen! :-) Ich bin dem Thema Sinn ja aber gar nicht so abgeneigt, zumindest diese Woche flattern Montaignes Fetzen einmal so herum.

 

Zuerst bin ich an dem Plastikmüll in unserer Landschaft hängengeblieben (Landschaft im übertragenen Sinne gemeint, also ich mit meiner ganzen Person). Wenn die Landschaft schön ist, braucht sie nach dir keinen Sinn. Welchen Sinn hat dann aber der unschöne Plastikmüll?

Ich kann in dem Plastikmüll den Sinn sehen, dass er mich zur Demut anhält (Gott hat mich absichtlich unvollkommen geschaffen) oder mich zur Weiterentwicklung auffordert (psychologischer Sinn) oder mich dazu bringt mich um eine Welt zu bemühen, in der den Menschen gar nicht erst so viel Seelenmüll aufgeladen wird (politischer Sinn), aber entscheidend ist doch in allen Fällen die Praxis, also was ich ganz konkret mit diesem Müll anfange. Ich kann ihn wegräumen, ich kann versuchen erst gar nicht so viel Müll zu produzieren, ich kann ihn wiederverwenden, ich kann ihn verwandeln, z.B. in ein Kunstwerk … Was ich mit ihm mache, ist entscheidender als herauszufinden, welchen Sinn es hat, dass er da liegt.

Aber normalerweise suchen wir ja gar nicht nach einem Sinn dafür, wie wir sind, sondern dafür, was uns geschieht, was also von außen auf uns zukommt. Für das, worauf wir nicht immer Einfluss haben, sondern dem wir ausgeliefert sind. Im Grunde läuft die Suche nach dem Sinn für diese Geschehnisse also darauf hinaus, irgendwie mit unserer Ohnmacht zurechtzukommen? Alles, was ich nicht beeinflussen kann, versuche ich mit einem außerhalb von mir selbst liegenden Sinn zu versehen? Damit wären wir bei deiner „Medizin“.

 

Dann sind meine Gedanken aber doch wieder in mein Inneres zurückgewandert.

Mir ist nämlich eingefallen, dass nach meiner Vorstellung die Sachen keinen Sinn haben, sondern dass wir ihnen einen Sinn geben. Das läuft in der Praxis vielleicht auf dasselbe hinaus, aber für mich besteht da doch ein Unterschied. Das hängt wohl letzten Endes damit zusammen, dass ich eher zur Immanenz als zur Transzendenz neige. Ich erwarte Sinngebung weder von einem Gott noch vom Schicksal.

Um ein konkretes Beispiel zu geben: Ich kämpfte (und kämpfe gelegentlich noch) damit, dass mir Zazen immer mal wieder als absolut sinnlos erscheint. Welchen Sinn soll es haben, jeden Tag eine halbe Stunde unbeweglich auf einem Kissen zu sitzen?! Ich habe aber festgestellt, dass mir die Erläuterungen und Anweisungen in den buddhistischen Texten (als Beispiel für etwas außerhalb von mir Liegendes, in gewisser Weise (als religiöse Theorie) Transzendentes) dabei überhaupt nicht weiterhelfen. Ich finde sie oft interessant und manchmal auch tröstlich, aber ich habe selten das Gefühl, dass sie in mein Leben hineinreichen. Ich weiß einfach, dass ich meinen ganz eigenen Sinn in meinem Sitzen finden muss. Und der ist für mich dann auch gültig, er muss nicht von irgendeiner Autorität außerhalb legitimiert werden. Und so ist es mit vielen Sachen, bei denen ich das Gefühl habe, dass sie nach einer Sinngebung verlangen.

Dabei fällt mir etwas unmotiviert ein, dass ich nie das Bedürfnis hatte, im Tod meines Mannes einen Sinn zu suchen. Er war einfach eine Tatsache, mit der ich irgendwie umgehen musste, das war alles. Einen Sinn brauchte ich hier nicht. Wie ist das bei dir? Brauchtest du hier die „Medizin“ des Sinns?

Das wiederum führt mich zu der Frage: Für welche Dinge brauchen wir eigentlich einen Sinn und für welche nicht, egal ob immanent oder transzendent? Geht es dabei wirklich immer nur um eine „Medizin“, so wie du es gesagt hast, also um mit Unangenehmem, Traurigem, Schrecklichem besser zurechtzukommen? Zumindest bei mir ist es so, dass ich gerade bei solchen Dingen gar keinen Sinn suche, sondern eher bei neutralen. Oder nein, präziser gedacht:Ich suche keinen Sinn in Sachen, die mir widerfahren, sondern in Sachen, die ich tu. Das ist jetzt ein richtiger Geistesblitz! :-) Warum mache (oder unterlasse) ich etwas? Welchen Sinn hat es beispielsweise, jeden Tag zur Arbeit zu gehen? Welchen Sinn hat es, jetzt nicht mehr jeden Tag zur Arbeit zu gehen, sondern den Lebensmittelpunkt ins Private zu verlagern? Welchen Sinn hat ein solches „privates“ Leben? Genügt mir ein Leben, das nur um mich selbst kreist? Finde ich in dieser Konzentration auf mein eigenes Wohlbefinden, auf das Auskosten des Alleinseins, auf das befreiende Gefühl tun und lassen zu können, was und wann immer ich will, genug Befriedigung? Das sind so die Sinnfragen, die mich umtreiben. Ich brauche Sinn also nicht als Linderung, sondern mehr als Orientierung. Würde mir der Glaube an einen Gott oder an das Schicksal bei der Beantwortung solcher Fragen helfen?

 

Zum Schluss doch noch zwei Zitate, in denen es um „DEN Sinn des Lebens“ geht:

Kurz habe ich überlegt, ob ich denn jetzt sagen könnte, was der Sinn meines Lebens war und ist, aber sehr schnell endete das in Kopfgeplapper, Gerede, „viel Lärm um nichts“. Entweder man weiß den Sinn oder man weiß ihn nicht. Der Sinn meines Lebens war, meinen Mann zu lieben und von ihm geliebt zu werden, das scheint mir der Wahrheit noch am nächsten zu kommen, aber die Wahrheit ist es nicht. Insofern bleibt richtig das im vorhergehenden Abschnitt Geschriebene.

Gibt es denn nur den einen Sinn? Ich brauche, wie beschrieben, eher viele Sinne, für viele verschiedene Aspekte in meinem Leben.

Was tut man, wenn man den Sinn aufgibt? Dann ist alles das, was es ist. Die Freude und der Schmerz! „Das Leben hat keinen Sinn, deshalb ist es so schön“. Ja, wenn man das Leben so betrachtet, dann befreit dies von allen Ansprüchen. Sehr allgemein gesagt, braucht man einfach nur zu leben und sich um das zu kümmern, was gerade ansteht. Hm, das ist leichter geschrieben als getan bzw. gelebt … 

Zu lernen SO zu leben – das könnte ich vielleicht doch als DEN Sinn meines Lebens bezeichnen. Muss ja nicht gleich hundertprozentig klappen. Work in progress ... :-)

B.

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