Brief 185 | Spaziergang um den "Sinn"

Liebe B.,

Verweilen

Ja, dieses Bild gefällt mir auch besser. (Wobei mir deine Landschaft etwas zu sehr in die Idylle gerutscht ist – in meiner befinden sich auch Strommasten, kaputte Stacheldrahtzäune und der unvermeidliche Plastikmüll. :-) Aber ich denke, bei/in dir gibt es auch die eine oder andere weniger pittoreske Ecke.) Mir gefällt an dem Bild, dass man nach Belieben den Fokus wechseln kann: Mal sieht man die Landschaft als Ganzes, mal betrachtet man ein Detail aus nächster Nähe, aber es ist immer beides gleichzeitig da, sowohl das Ganze als auch die Einzelheiten. Übertragen auf mich bedeutet das, dass ich mich immer als Ganzheit empfinden kann. Das finde ich wichtig, denn beim Blick auf die Details verliere ich mich als Ganzes manchmal aus dem Blick.

Ich möchte noch ein wenig bei der Landschaft verweilen, weil mir Dein Hinweis auf die Idyllisierung bzw. meine Vernachlässigung der Mülltonnen inmitten des Schönen wichtig ist. Die Ausblendung der dunklen Winkel und der zugigen Ecken war mir nämlich entgangen. Und wichtig ist Deine Beobachtung mir, weil sie mich zum Ausgangspunkt des Bildes zurückführt und erklärt, warum es mir an manchen Tagen nicht gelungen ist, mich als eine Landschaft zu sehen. In den Momenten, in denen mein Blick auf Mangelhaftes an meiner äußeren Erscheinung fiel oder auch auf ekliges Verhalten einem anderen Menschen gegenüber, erweiterte sich das Unschöne zum Ganzen - wie „pars pro toto“. Damit zugleich verlor ich das Neue und mir Wohltuende der Gesamtsicht oder der „Ganzheit“, wie Du es nennst. Mich als Ganzes betrachten und empfinden zu können, obwohl ich unvollkommen und unvollendet bin. Naja, ich müsste wohl richtiger sagen, in der Unvollkommenheit die Ganzheit sehen zu können, denn sonst gerate ich schon wieder in den Anspruch der Idylle allüberall :-))).                  

 

Zuversicht

Aber ich bin zuvor an dem „und zwar alleine“ hängengeblieben, weil ich das spontan als eine Verheißung, eine unverhoffte Chance verstanden habe und ganz überrascht über deine Fortsetzung war. Der Schutzgedanke spielt offenbar keine große Rolle für mich, weil ich mich allein nicht ungeschützt fühle. Ich weiß nicht, ob das von Anfang an so war, es kann sein, dass ich hier zu sehr vom Jetzt-Zustand ausgehe und die unsicheren Anfänge vergessen habe. Aber ich kann mich erinnern, dass sich schon sehr bald nach dem Tod meines Mannes eine große Neugier eingestellt hat, wie ich wohl ohne dieses „erweiterte Ich“ bin. Ich war neugierig auf mich selbst, auf mich ALLEIN. Die Rückkehr in die Beziehung habe ich früher auch immer als sehr schön und wichtig empfunden, aber mehr unter dem Aspekt der Vertrautheit, des Fallenlassens. Wenn ich jetzt in mein Alleinsein zurückkehre, so ist das Gefühl dabei nicht unähnlich, es ist ebenfalls ein Aufatmen, ein Fallenlassen. Mein Mann und ich haben öfter darüber gesprochen, was für eine merkwürdige Konstellation wir doch sind: Zwei ausgeprägte Einzelgänger, die auch in der Zweisamkeit vor allem das Alleinsein suchen und die beide glücklich damit und miteinander sind. Insofern ist für mich die Diskrepanz zwischen dem Zustand davor und danach vermutlich nicht so groß wie bei dir.

Wir haben unser Gespräch ein halbes Jahr nach dem Tod Deines Mannes begonnen, und Du hast mich Zeugin Deiner Entwicklung sein lassen. Daher kann ich bestätigen, dass Du die „Neugier“ schon bald angefangen hattest zu erwähnen. Sicher, es gab nicht die Neugier und Du bist nicht wie auf einer Autobahn schnell und störungslos dahingeschnurrt. Das Holpern auf unebenem Pflaster, die Haltepausen, die Verunsicherungen sind schon deutlich geworden. Aber doch eher als nötige Begleiterscheinungen der neuen Form von sozialem Leben, von einem Leben mit neuen und anderen Beziehungen. So habe ich Deinen Weg wahrgenommen und von daher finde ich es verständlich und auch konsequent, dass Du diese ersten Schritte auf wackeligen Beinen –wie bei einem Kind- jetzt gar nicht mehr erinnerst.   

Ich kann nur für mich sagen, dass der Tod meines Mannes tatsächlich das Schlimmste gewesen ist, was mir in meinem Leben bislang widerfahren ist. (Weiteres Schlimme, wonach du nicht gefragt hast, wäre, wenn meinen Töchtern oder meinen Enkelkindern etwas zustoßen würde.) Und die Tatsache, dass ich daran nicht zerbrochen bin, hat mich mit Zuversicht erfüllt, dass ich auch mit vielem anderen, was noch kommen mag, zurechtkommen werde. Ich bin stärker als gedacht. Oder besser: Ich bin tatsächlich so stark, wie ich es vermutet hatte.

Manchmal sehe ich ja, was du nicht siehst, aber in diesem Falle nicht. (Später: Doch, ich glaube, ich sehe doch was: Mit der Logik stimmt irgendwas nicht. So, wie du es darstellst, hat dein Mann dich vor seinem Tod beschützt, was ja eigentlich widersinnig wäre, oder?) Ich habe deinen Absatz jetzt mehrere Male gelesen, weil mich noch irgendwas anderes daran „irritiert“ hat, und ich glaube, jetzt weiß ich, was es ist: Es ist der Satz „...jetzt schützt mich niemand mehr vor dem, was „Schlimmes“ sich ereignen könnte.“ Hat dein Mann dich denn zu Lebzeiten tatsächlich vor allen Widrigkeiten des Lebens beschützen können? War er dein knight in shining armour? Mir kommt das völlig utopisch vor. Selbst Eltern können ihre Kinder nicht vor allem beschützen, und meiner Meinung nach sollten sie das auch gar nicht. Um wie viel weniger im Erwachsenenleben.

Wenn Du so fragst! Nein, natürlich nicht :-). Er hat mich nur davor beschützt, dass ich die Widrigkeiten alleine erleben und mit ihnen klarkommen muß. Was allerdings bedeuten würde, dass sein Tod eben doch das Schlimmste war? „Zerbrochen“ bin ich, wie Du es ausdrückst, ebenfalls nicht. Ich habe überlebt und mein Leben ist weiter gegangen. Die Widrigkeiten, mit denen ich bisher alleine habe klarkommen müssen, „irgendwie“ habe ich sie bewältigt und tue es jetzt auch, nur ein „gutes“ Leben ist es nicht. Wenn ich zurückblicke, dann habe ich nach dem Tod meines Mannes niemals daran gedacht, nun auch nicht mehr leben zu wollen oder dass mein Leben damit ebenfalls beendet sei. Ob ich es alleine schaffe, das habe ich nicht reflektiert, es war im Hintergrund die Zuversicht, dass ich selbstverständlich auch alleine leben kann. Anders als vorher, und wie ich mein zukünftiges Leben alleine mit mir gestalte, wusste ich auch nicht, aber die Zuversicht, dass ich es kann, die war da. Ich habe einmal mit der Trauerbegleiterin zusammen eine Schnur gelegt, die mein Leben von der Geburt bis zum Tod hin symbolisieren sollte. Von dem damaligen imaginierten „Jetzt“-Punkt aus sah ich die Schnur bis zum Ende hin an und es war nichts Düsteres dabei.            

 

Spaziergang um den Sinn

Ich hoffe, ich mache dir jetzt die Freude über deine neugewonnene Erkenntnis nicht kaputt, aber nach meinem Verständnis ist das Konzept der Flüchtigkeit sehr viel umfassender und betrifft auch Sinngrundlagen. (Und ja – das ist auch nur ein Konzept und insofern ebenfalls ohne Substanz!)

„Das Leben hat keinen Sinn, deshalb ist es so schön!“ (Muho) Das war einer meiner Einstiegssätze in die wunderbare Welt der Zen-Paradoxien. :-)

In meinem Brief hatte ich die Erwähnung des „Sinn“ kurz kommentiert, weil ich aus früheren Briefen von unserem gegenseitigen Nicht-Verstehen wusste. „Sinn des Lebens ist eben Sinn des Lebens, das geht nicht zu erläutern“ sage ich. "„Sinn des Lebens“ ist ein Ausdruck, von dem ich nicht weiß, was er meint“ sagst Du. Ich hatte den Einschub wieder gestrichen, weil ich ihn überflüssig fand und zwar überflüssig deswegen, weil wir von unserem gegenseitigen Nicht-Verstehen wissen. „Sinn“ scheint mir dem „Glauben“ zu entsprechen. Entweder man tut’s oder man tut’s nicht und da gibt es keine Brücke.

Ein Mensch, für den der „Sinn des Lebens“ eine sinn-lose Formel ist, wird unmöglich nacherleben können, wie es sich mit Sinn lebt. Andersherum geht es eher. Also habe ich versucht, den „Sinn“ aus meinem Leben und dem Wortschatz der bedeutungsvollen Wörter wegzunehmen, um zu erfahren, wie es dann ist. Und interessanterweise, wie ich finde, bin ich sofort, fast nahtlos zu Formulierungen gekommen, die ich von Dir kenne. Dann „ist alles Oberfläche“ oder dann „ist alles das, was es ist“.

Ich habe verblüfft geschaut und es war so, als würde in meinem Kopf eine leere Fläche entstehen, als würde der Kopf von Gedanken entleert. Natürlich blieben die Gedanken, die um meine Beobachtung kreisten, aber vom Ergebnis her schien es mir, als würde die Wegnahme des „Sinn“ alle die Gedanken zum Verschwinden bringen, die Zusammenhänge produzieren, die Tiefe zu ergründen suchen.

Der nächste Schritt führte mich zum Ausgangspunkt zurück, der Freude und dem (seelischen) Schmerz, über die wir gesprochen haben. Für mich ist es klar, dass ich mich bei einem freudevollen Zustand niemals gefragt habe, ich überhaupt nicht auf die Idee gekommen wäre, nach ihrem „Sinn“ zu fragen. Mir ist auch der Ausdruck von einer „sinnlosen“ Freude noch niemals begegnet, während man und auch ich durchaus von einem „sinnlosen“ Leiden spreche.

Das Konzept „Sinn“ scheint mir daher vergleichbar einer Medizin, die man einnimmt, um Schmerzen zu lindern. Wo keine Schmerzen sind, braucht man auch keine Medizin. Das stört nicht, finde ich. Wenn „Sinn“ hilfreich ist, um Leid zu lindern, dann erfüllt er eine Funktion.

Ich hatte die stete Freude, von der Du geschrieben hattest, aufgegriffen, weil ich unmittelbar wusste, dass ich nach ihr mein Leben lang gesucht habe und folgerichtig war ich auf den „Sinn“ gekommen, der mir die Voraussetzung für die stete Freude zu sein scheint, denn er lindert den Schmerz. Allerdings habe ich nach diesem Sinn ja immer nur gesucht, gefunden hatte und habe ich ihn nicht, und so denke ich mir, ob er so etwas wie eine in Aussicht stehende Erfüllung war und ist. Indem man nach ihm sucht, hat man etwas zu tun. Nein, das ist unernst, aber indem man nach ihm sucht, weil man überzeugt ist, es gäbe ihn zu finden, lebt man immer auf ein „Später“ hin, eine Zukunft, in der „alles gut sein wird“.

Kurz habe ich überlegt, ob ich denn jetzt sagen könnte, was der Sinn meines Lebens war und ist, aber sehr schnell endete das in Kopfgeplapper, Gerede, „viel Lärm um nichts“. Entweder man weiß den Sinn oder man weiß ihn nicht. Der Sinn meines Lebens war, meinen Mann zu lieben und von ihm geliebt zu werden, das scheint mir der Wahrheit noch am nächsten zu kommen, aber die Wahrheit ist es nicht. Insofern bleibt richtig das im vorhergehenden Abschnitt Geschriebene.

Was tut man, wenn man den Sinn aufgibt? Dann ist alles das, was es ist. Die Freude und der Schmerz! „Das Leben hat keinen Sinn, deshalb ist es so schön“. Ja, wenn man das Leben so betrachtet, dann befreit dies von allen Ansprüchen. Sehr allgemein gesagt, braucht man einfach nur zu leben und sich um das zu kümmern, was gerade ansteht. Hm, das ist leichter geschrieben als getan bzw. gelebt … 

F. 

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