Brief 184 | Die wunderbare Welt der Zen-Paradoxien

Liebe F.,

Plastikmüll :-)

Während ich überlegte, welches Bild ich zutreffender fände und wohl, weil ich mich nicht entscheiden konnte, ist mir ein noch besseres Vergleichsbild eingefallen, nämlich die Landschaft. Sie ist weder offen noch geschlossen und man umgeht das Problem des „Innen“ und „Außen“. Man erfasst eine Landschaft im Ganzen, obwohl sie natürlich aus diversen Details besteht. Man sieht die sich an einem Bach entlangschlängelnden Pfade, man sieht das klare Wasser des Baches, die ihn säumenden Wiesen, die Baumwipfel, rote Mohn- und blaue Glockenblüten usw. usf., aber man beachtet diese Einzelteile nicht jedes für sich, sondern gibt sich dem Eindruck hin, den die Sicht auf die ganze Landschaft ergibt. Richtiger gesagt: Man sieht die Einzelteile zu einer Landschaft zusammen.

Ja, dieses Bild gefällt mir auch besser. (Wobei mir deine Landschaft etwas zu sehr in die Idylle gerutscht ist – in meiner befinden sich auch Strommasten, kaputte Stacheldrahtzäune und der unvermeidliche Plastikmüll. :-) Aber ich denke, bei/in dir gibt es auch die eine oder andere weniger pittoreske Ecke.) Mir gefällt an dem Bild, dass man nach Belieben den Fokus wechseln kann: Mal sieht man die Landschaft als Ganzes, mal betrachtet man ein Detail aus nächster Nähe, aber es ist immer beides gleichzeitig da, sowohl das Ganze als auch die Einzelheiten. Übertragen auf mich bedeutet das, dass ich mich immer als Ganzheit empfinden kann. Das finde ich wichtig, denn beim Blick auf die Details verliere ich mich als Ganzes manchmal aus dem Blick.

 

Ex negativo

Das ist ein Gedanke von Dir, dem ich sofort und ohne weiter zu überlegen, zustimme. Verliert man den Ehepartner, so ist man gezwungen, sich anderen Menschen zuzuwenden –und zwar alleine. Das heißt, man kann nicht mehr wie vorher, sich nach Begegnungen mit anderen Menschen zurück in das vertraute „Wir“ begeben, den Schutz. Und nicht nur nicht in das vertraute „Wir“, sondern darüber hinaus in die einzig relevante Beziehung. Alle anderen Beziehungen sind von nachgeordneter Bedeutung. Behaupte ich.

Das mit der „einzig relevanten Beziehung“ würde ich auch von mir sagen. Aber ich bin zuvor an dem „und zwar alleine“ hängengeblieben, weil ich das spontan als eine Verheißung, eine unverhoffte Chance verstanden habe und ganz überrascht über deine Fortsetzung war. Der Schutzgedanke spielt offenbar keine große Rolle für mich, weil ich mich allein nicht ungeschützt fühle. Ich weiß nicht, ob das von Anfang an so war, es kann sein, dass ich hier zu sehr vom Jetzt-Zustand ausgehe und die unsicheren Anfänge vergessen habe. Aber ich kann mich erinnern, dass sich schon sehr bald nach dem Tod meines Mannes eine große Neugier eingestellt hat, wie ich wohl ohne dieses „erweiterte Ich“ bin. Ich war neugierig auf mich selbst, auf mich ALLEIN. Die Rückkehr in die Beziehung habe ich früher auch immer als sehr schön und wichtig empfunden, aber mehr unter dem Aspekt der Vertrautheit, des Fallenlassens. Wenn ich jetzt in mein Alleinsein zurückkehre, so ist das Gefühl dabei nicht unähnlich, es ist ebenfalls ein Aufatmen, ein Fallenlassen. Mein Mann und ich haben öfter darüber gesprochen, was für eine merkwürdige Konstellation wir doch sind: Zwei ausgeprägte Einzelgänger, die auch in der Zweisamkeit vor allem das Alleinsein suchen und die beide glücklich damit und miteinander sind. Insofern ist für mich die Diskrepanz zwischen dem Zustand davor und danach vermutlich nicht so groß wie bei dir.

„Hinwendung“ zu anderen Menschen meint nach dem Verlust des Partners zu entdecken, welche Art von Kommunikation und Beziehung man braucht, um sich nicht isoliert zu fühlen oder es zu sein. Bei mir hat die Hinwendung zu anderen Menschen sich so entwickelt, dass ich nach einigen Jahren gemerkt habe, dass ich ohne das vertraute „Wir“ unglücklich bin (ich bleibe bei diesem Wort, weil es am besten mein Lebensgefühl ausdrückt).

Ja, so kann man auch ex negativo (heißt das so?) zu einer Erkenntnis über sich selbst kommen, seine eigenen Bedürfnisse erkennen. Ich meine damit, dass einem dadurch, dass etwas z.B. nicht funktioniert oder nicht geeignet ist, erst richtig deutlich wird, was es denn stattdessen sein müsste. Unsicheres Ahnen wird zu einer Erkenntnis, mit der man weitermachen kann, weil man sich dann nicht mehr in Richtungen verzettelt, die in die Irre führen. Weniger umständlich ausgedrückt (schnörkellos:-)): Dadurch, dass es dir nicht gelungen ist, dem Alleinleben etwas Positives abzugewinnen, weißt du nun, was du wirklich brauchst, nämlich ein „Zweier-Wir“.

 

My Knight in shining armour

Ja, die Gelassenheit. Ich bin überhaupt kein bisschen gelassener geworden und ich kann, was mir irgendwie seltsam vorkommt, auch den Tod meines Mannes gar nicht mehr als das „Schlimmste“ empfinden. Ich glaube, es ist einfach darin begründet, dass ich seit seinem Tod alleine bin und das heißt, jetzt schützt mich niemand mehr vor dem, was „Schlimmes“ sich ereignen könnte. Mit allem, was sein wird, werde ich alleine sein. Das ruft keine Gelassenheit in mir hervor. Irgendetwas daran irritiert mich. Habe ich den Tod meines Mannes gar nicht alleine erlebt? Ist es das? Bis zum letzten Atemzug war er noch bei mir … obwohl er und ich in den Monaten davor ja bereits getrennte Wege gegangen sind. Er zum Tode hin, ich zum alleine Weiterleben hin. Ich habe den Eindruck, dass mir die klare Sicht fehlt, „irgendwas“ stimmt nicht, und ich weiß nicht, an welcher Stelle die Unschärfe sich befindet.

Manchmal sehe ich ja, was du nicht siehst, aber in diesem Falle nicht. (Später: Doch, ich glaube, ich sehe doch was: Mit der Logik stimmt irgendwas nicht. So, wie du es darstellst, hat dein Mann dich vor seinem Tod beschützt, was ja eigentlich widersinnig wäre, oder?) Ich kann nur für mich sagen, dass der Tod meines Mannes tatsächlich das Schlimmste gewesen ist, was mir in meinem Leben bislang widerfahren ist. (Weiteres Schlimme, wonach du nicht gefragt hast, wäre, wenn meinen Töchtern oder meinen Enkelkindern etwas zustoßen würde.) Und die Tatsache, dass ich daran nicht zerbrochen bin, hat mich mit Zuversicht erfüllt, dass ich auch mit vielem anderen, was noch kommen mag, zurechtkommen werde. Ich bin stärker als gedacht. Oder besser: Ich bin tatsächlich so stark, wie ich es vermutet hatte.

Ich habe deinen Absatz jetzt mehrere Male gelesen, weil mich noch irgendwas anderes daran „irritiert“ hat, und ich glaube, jetzt weiß ich, was es ist: Es ist der Satz „...jetzt schützt mich niemand mehr vor dem, was „Schlimmes“ sich ereignen könnte.“ Hat dein Mann dich denn zu Lebzeiten tatsächlich vor allen Widrigkeiten des Lebens beschützen können? War er dein knight in shining armour? Mir kommt das völlig utopisch vor. Selbst Eltern können ihre Kinder nicht vor allem beschützen, und meiner Meinung nach sollten sie das auch gar nicht. Um wie viel weniger im Erwachsenenleben.

 

Schöne Sinn-losigkeit

Das ist so schön, dass ich diese Passage an das Ende meines Briefes stellen möchte. Spontan während des ersten Lesens dachte ich, das sei es, wonach ich mein Leben lang gesucht und gestrebt habe. Das Wort „Freude“ habe ich, soweit ich mich erinnere, nicht gewagt zu denken oder gar auszusprechen. Und, da ich es jetzt so einfach und klar erkenne, denke ich, dass das Fundament dafür ist zu wissen, dass „etwas“, das Leben, mein Leben „Sinn macht“. Ist dieser Sinn vorhanden, dann sind die flüchtige Freude und der flüchtige Schmerz darin eingebettet. Sie werden tatsächlich als „flüchtig“ wahrgenommen, weil der Grund, d.h. in diesem Fall der Sinn, dauerhaft ist.

Ich hoffe, ich mache dir jetzt die Freude über deine neugewonnene Erkenntnis nicht kaputt, aber nach meinem Verständnis ist das Konzept der Flüchtigkeit sehr viel umfassender und betrifft auch Sinngrundlagen. (Und ja – das ist auch nur ein Konzept und insofern ebenfalls ohne Substanz!)

„Das Leben hat keinen Sinn, deshalb ist es so schön!“ (Muho) Das war einer meiner Einstiegssätze in die wunderbare Welt der Zen-Paradoxien. :-)

B.

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.