Brief 183 | "ich"- kleingeschrieben

Liebe B.,

Doch lieber kein Karton

Nein, ich kannte „Achtung, da kommt ein Karto(o)n“ nicht.

[…]Wenn ich beim Bild des Paketes bleibe: Stellst du dir vor, dass dieses Paket geöffnet oder geschlossen ist? Ich weiß nicht, ob das überhaupt wichtig ist, aber irgendwie bleibe ich daran hängen. Ich sehe zwei Bilder vor mir. Im ersten ist der Karton geschlossen – ich kümmere mich nicht mehr um seinen Inhalt, all die vielen kleinen Einzelheiten, die sich darin befinden, sind gar nicht mehr so wichtig, ich „empfinde mich als Ganzes“, ohne genau wissen zu müssen, woraus dieses Ganze besteht, so wie ich auch meinen Körper als Ganzes empfinde, ohne auch nur annähernd zu wissen, was in seinem Innern vor sich geht. Das ist auch gar nicht notwendig, um mich mit ihm durch die Welt zu bewegen.

Beim zweiten Bild ist der Deckel geöffnet, ich sehe alles, was sich darin befindet, und was immer das ist, ist halt einfach da und macht den Gesamtinhalt aus. Ich habe das alles so oft angefasst und hin und her gewendet, all die kleinen Bewertungen – positiv, negativ, stark, schwach – haben dabei weitgehend ihre Bedeutung verloren, ich kann das alles einfach benutzen, wenn ich es brauche, und wieder zurücklegen, ohne weiter darüber nachzudenken.

Während ich überlegte, welches Bild ich zutreffender fände und wohl, weil ich mich nicht entscheiden konnte, ist mir ein noch besseres Vergleichsbild eingefallen, nämlich die Landschaft. Sie ist weder offen noch geschlossen und man umgeht das Problem des „Innen“ und „Außen“. Man erfasst eine Landschaft im Ganzen, obwohl sie natürlich aus diversen Details besteht. Man sieht die sich an einem Bach entlangschlängelnden Pfade, man sieht das klare Wasser des Baches, die ihn säumenden Wiesen, die Baumwipfel, rote Mohn- und blaue Glockenblüten usw. usf., aber man beachtet diese Einzelteile nicht jedes für sich, sondern gibt sich dem Eindruck hin, den die Sicht auf die ganze Landschaft ergibt. Richtiger gesagt: Man sieht die Einzelteile zu einer Landschaft zusammen.

Ganz nebenbei finde ich das Bild von mir, von uns Menschen als kleineren und größeren Kartons zwar lustig, aber es ist auch ein, wie soll ich sagen?, ein bisschen ödes Bild. Langweilige braune Pappe. Außerdem findet sich bei der Landschaft noch der Vergleichspunkt der Kulturalisierung, d.h. die Natur, die natürlichen Anlagen eines Menschen, die kultiviert werden und zwar beständig während seines ganzen Lebens. Es ist eine andauernde Entwicklung zwischen dem bereits Vorhandenen und den Veränderungen, die an dem, was man vorfindet, vorgenommen werden.            

 

Wechselseitige Hinwendung

Gerade kommt mir ein Gedanke, bei dem ich nicht weiß, ob du mir zustimmen wirst. Ich habe das Gefühl, als ob all die vielen kleinen Veränderungen, über die wir hier schon des Längeren schreiben, mit einer Hinwendung zu den Menschen einhergehen. Erst wollte ich schreiben, dass sie da ihren Ursprung haben, aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob das stimmt. Vielleicht ist es (wieder einmal) eher ein Wechselspiel. Bei mir ist es auf jeden Fall so. Ich habe mich für andere geöffnet, was überraschenderweise zu einer größeren Öffnung mir selbst gegenüber geführt hat. Mein ausgeprägtes Einsamkeitsbedürfnis ist dazu kein Widerspruch, sondern fügt sich problemlos ein.

Das ist ein Gedanke von Dir, dem ich sofort und ohne weiter zu überlegen,  zustimme. Verliert man den Ehepartner, so ist man gezwungen, sich anderen Menschen zuzuwenden –und zwar alleine. Das heißt, man kann nicht mehr wie vorher, sich nach Begegnungen mit anderen Menschen zurück in das vertraute „Wir“ begeben, den Schutz. Und nicht nur nicht in das vertraute „Wir“, sondern darüber hinaus in die einzig relevante Beziehung. Alle anderen Beziehungen sind von nachgeordneter Bedeutung. Behaupte ich. Vielleicht ist der Begriff der „Rolle“ um der Veranschaulichung willen dafür tauglich. Es gibt keine Rolle oder Rollen mehr, denn in jeder Begegnung müsste erst eine neue Rolle etabliert werden. Das scheint mir tatsächlich eine Umwälzung der eigenen Person nach sich zu ziehen. Denn welche Rolle? Wechselspiel, so denke ich auch, ist völlig zutreffend. Wenn ich zurückblicke, dann ist es so, als würde man anderen Menschen auf wackeligen Beinen entgegentreten. Ich meine das gar nicht negativ, sondern ganz nüchtern, dass man einfach unsicher, verunsichert ist, denn man kennt sich in dieser Rolle, ich alleine, nicht aus. Man ist genötigt, sich umzuformen, d.h. zu verändern, eben weil man nicht mehr die Person ist, die man vorher, zu Zweit war (ich erinnere an Deinen Audruck des „erweiterten Ich“). Von Deiner „Introvertiertheit“ hast Du immer schon gewusst; wie Dein Bedürfnis nach Alleinsein parallel zum Bedürfnis nach sozialen Kontakten verlaufen kann, wie beide Aspekte miteinander harmonieren können, das ist eine Veränderung gewesen, die die ganze Person umfasst hat. „Hinwendung“ zu anderen Menschen meint nach dem Verlust des Partners zu entdecken, welche Art von Kommunikation und Beziehung man braucht, um sich nicht isoliert zu fühlen oder es zu sein. Bei mir hat die Hinwendung zu anderen Menschen sich so entwickelt, dass ich nach einigen Jahren gemerkt habe, dass ich ohne das vertraute „Wir“ unglücklich bin (ich bleibe bei diesem Wort, weil es am besten mein Lebensgefühl ausdrückt).             

 

Gelassenheit

[…] Dass ich relativ entspannt über mich selbst lachen kann, hat sich eigentlich erst nach seinem Tod entwickelt, mit dieser Haltung, dass, da ich so ziemlich das Schlimmste in meinem Leben hinter mir habe, alles andere dagegen leicht wiegt.

„So ziemlich das Schlimmste“ räumt ein, dass Du Dir durchaus noch andere Ereignisse vorstellen kannst oder könntest, die annähernd „schlimm“ oder gleich „schlimm“ sein könnten. Aber danach frage ich nicht.

Ist es dasselbe, wenn ich mir nach dem Tod meines Mannes gedacht habe, dass ich nun niemals mehr in meinem Leben vor etwas Angst haben würde? Vier Tage später kroch die Angst in mir hoch, nun könne meine Mutter sterben. Jetzt, rückblickend betrachtet, finde ich diese Reaktion nicht sonderlich bemerkenswert und auch ganz stimmig, denn wenn der wichtigste Halt im Leben weg ist, dann tritt der zweitwichtigste Halt in den Blick.

Ja, die Gelassenheit. Ich bin überhaupt kein bisschen gelassener geworden und ich kann, was mir irgendwie seltsam vorkommt, auch den Tod meines Mannes gar nicht mehr als das „Schlimmste“ empfinden. Ich glaube, es ist einfach darin begründet, dass ich seit seinem Tod alleine bin und das heißt, jetzt schützt mich niemand mehr vor dem, was „Schlimmes“ sich ereignen könnte. Mit allem, was sein wird, werde ich alleine sein. Das ruft keine Gelassenheit in mir hervor. Irgendetwas daran irritiert mich. Habe ich den Tod meines Mannes gar nicht alleine erlebt? Ist es das? Bis zum letzten Atemzug war er noch bei mir … obwohl er und ich in den Monaten davor ja bereits getrennte Wege gegangen sind. Er zum Tode hin, ich zum alleine Weiterleben hin. Ich habe den Eindruck, dass mir die klare Sicht fehlt, „irgendwas“ stimmt nicht, und ich weiß nicht, an welcher Stelle die Unschärfe sich befindet.                     

 

Vom „Ich“ zum „ich“

Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Grund für diese neue Leichtigkeit ist meine Begegnung mit dem Zen-Buddhismus. Die Lehre von der Leere und Substanzlosigkeit ist für mich intuitiv so einleuchtend! Mein Ich hat keine Substanz. Das heißt nicht, dass es nicht existiert, aber eben nicht als ein feststehender „Kern“, sondern es „ereignet“ sich im Wechselspiel des jeweiligen Moments – es ist schwierig für mich das auszudrücken. Die Entstehung eines solchen Ichbewusstseins ist evolutionär sinnvoll und notwendig gewesen, ohne es könnten wir gar nicht in Gesellschaft leben. Aber es hat eben auch Probleme in seinem Gefolge, die sich relativieren, wenn man sich klarmacht, dass das alles sich im Grunde nur auf ein flüchtiges Phänomen bezieht.

Mir gefällt der Gedanke, obwohl ich ihn in eine Richtung weiterführen möchte, die Du vermutlich gar nicht im Sinn hast. Das „Ich“ wäre dann nur der Teil einer Person, der unmittelbar weiß, dass „ich“ es bin, der oder die jeweils etwas fühlt, denkt, handelt, erkennt. In der sprachanalytischen Philosophie hat man es schlicht aufzulösen versucht, indem man sagt, dass man mit „ich“ nichts weiter tut als auf die eigene Person zu referieren. Hm, vielleicht ist Ersteres doch gar nicht so fernab Deines bevorzugten Modells, denn das, was sich im „Wechselspiel des jeweiligen Momentes“ ereignet, ist ja doch immer das unmittelbare Erkennen oder auch das Bewußtsein, daß „etwas“ „mich“ betrifft. Nehme ich als Beispiel den ununterbrochen fließenden oder plätschernden Gedankenstrom, den unser Gehirn produziert, dann würde „ich“ das sein, das ununterbrochen weiß, jetzt denke ich dies, jetzt denke ich das, jetzt denke ich jenes usw. usf. In diesem Modell ist das „ich“ ohne Substanz und leer.

Ich merke gerade, dass ich immer wieder auf dieselben Bilder zurückkomme – Pendel, flatternde Fetzen, sub specie aeternitatis (habe ich zwar in diesem Brief nicht geschrieben, aber hatte ich die ganze Zeit im Hinterkopf), Wechselspiel, Leere ... – und ich staune darüber, wie sich das alles immer mehr zusammenfügt. Ich hoffe nur, dass dabei der (mein) Hauptaspekt der Offenheit und Flüchtigkeit, der mich so befreit hat, nicht verlorengeht, indem sich daraus ein neues Selbstbild verfestigt.

Ich überlege. Offenheit und Flüchtigkeit, die sich verfestigen, wären in sich widersprüchlich. Das aber scheint mir akademisch. Was wäre die fühlbare, die praktische Konsequenz? Woran würde man oder woran würdest Du die Festlegung, d.h. die Geschlossenheit und die Beharrung merken? Das Empfinden einer Einengung? Ich muß so sein? Woraus folgte, dass andere Regungen oder Wünsche keine angemessene Beachtung mehr fänden oder finden dürften? Hm, das kommt mir doch irgendwie sehr theoretisch vor.     

  

Die lange, die kurze und die stete Weile

Dass du hier den Zeitfaktor erwähnst, kommt für mich einigermaßen überraschend, woraus ich schließe, dass mir diese Assoziation im Alltag nicht sonderlich geläufig ist. Ich glaube, ich habe den Gedanken des Pendels sehr verinnerlicht, wonach kein Zustand länger anhält, weder positive noch negative.

Mich überrascht Deine Reaktion, weil ich mich daran erinnert hatte, dass die Einführung des Zeitfaktors vor einigen Jahren in einem Brief von Dir gekommen ist. Es war ein Gedanke von Dir, der mir neu war und aus diesem Grunde, so vermute ich, habe ich ihn behalten. Du hattest damals gemeint, dass uns die dunkleren Phasen länger anzudauern scheinen als die helleren Phasen. Bitte missverstehe mich nicht. Ich denke gar nicht daran, Dich auf etwas festlegen zu wollen, was Du irgendwann einmal gesagt hast. Das wäre absurd, denn es würde bedeuten, Veränderungen nicht wahrnehmen zu wollen. Wenn ich nun überlege, ob es für mich immer noch so ist, dann lautet die Antwort „ja“, und ohne tief zu schürfen, denke ich, dass die angenehmen Phasen oder Tage einfach „wie im Fluge vergehen“, man möchte nicht, dass sie enden, während man die unangenehmen Phasen oder Tage gerne schon beendet sehen möchte. Die Ungeduld lässt die Zeit lang werden.     

Dazu fällt mir ein, dass das vorherrschende Gefühl der Erleuchteten im Buddhismus eine große Freude sein soll. Und der Stoizismus hat zum Ziel ein glückliches Leben – ein Werk Senecas heißt ja ausdrücklich „Vom glückseligen Leben“. In beiden Schulen geht es also gar nicht so sehr in Richtung Vermeidung von Gefühlen (was ich früher auch immer gedacht hatte), sondern mehr darum, über die Erkenntnis der Flüchtigkeit unserer alltäglichen Gefühle zu einer Gelassenheit zu kommen, die eine sozusagen übergeordnete und dadurch stetigere Freude im Gepäck hat.

Das ist so schön, dass ich diese Passage an das Ende meines Briefes stellen möchte. Spontan während des ersten Lesens dachte ich, das sei es, wonach ich mein Leben lang gesucht und gestrebt habe. Das Wort „Freude“ habe ich, soweit ich mich erinnere, nicht gewagt zu denken oder gar auszusprechen. Und, da ich es jetzt so einfach und klar erkenne, denke ich, dass das Fundament dafür ist zu wissen, dass „etwas“, das Leben, mein Leben „Sinn macht“. Ist dieser Sinn vorhanden, dann sind die flüchtige Freude und der flüchtige Schmerz darin eingebettet. Sie werden tatsächlich als „flüchtig“ wahrgenommen, weil der Grund, d.h. in diesem Fall der Sinn, dauerhaft ist.     

F.

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