Liebe F.,
Achtung, ein Karton*
Früher war es tatsächlich so, dass ich entweder über meine positiven, starken Eigenschaften etwas Besonderes aus mir machen wollte oder aber meine Identität über die negativen, d.h. schwachen Eigenschaften zu finden versucht habe. Jetzt nehme ich mich so wahr wie Du. Ich bin eine völlig normale Frau, in keiner Hinsicht irgendetwas Besonderes, ja, auch nicht im Negativen. Vielleicht ist es besser so formuliert: Ich empfinde mich als Ganzes, definiere mich kaum noch über einzelne Eigenschaften von mir. Ich unterlasse es an dieser Stelle, die Begriffe „positiv“ und „negativ“ oder „stark“ und „schwach“ zu problematisieren, eben weil die einzelnen Eigenschaften nur noch am Rande eine Rolle spielen. Wichtig ist die Gesamtsicht. Und – in einem langweiligen und unauffälligen Wort ausgedrückt: Es fühlt sich angenehm an.
Ich hatte das Obige schnell und fast beiläufig geschrieben. Es floß mir „aus der Feder“. Erst jetzt, während des abschließenden Lesens meines Briefes, merke ich, wie gravierend diese Veränderung ist. Oder richtiger, dass es eine gravierende Veränderung ist. Mir kommt sie so bemerkenswert vor, dass ich sie als Überschrift für meinen Brief wähle.
Ich finde den Gedanken des „Gesamtpakets“ intuitiv toll: Ja, das ist wirklich eine bemerkenswerte Entwicklung, und ich bin mir gar nicht sicher, ob ich mich selbst auch so sehen kann. Ich weiß allerdings nicht, ob ich richtig verstehe oder richtig nachempfinde, was du mit dem „nicht mehr auf die einzelnen Eigenschaften gucken“ meinst. Wenn ich beim Bild des Paketes bleibe: Stellst du dir vor, dass dieses Paket geöffnet oder geschlossen ist? Ich weiß nicht, ob das überhaupt wichtig ist, aber irgendwie bleibe ich daran hängen. Ich sehe zwei Bilder vor mir. Im ersten ist der Karton geschlossen – ich kümmere mich nicht mehr um seinen Inhalt, all die vielen kleinen Einzelheiten, die sich darin befinden, sind gar nicht mehr so wichtig, ich „empfinde mich als Ganzes“, ohne genau wissen zu müssen, woraus dieses Ganze besteht, so wie ich auch meinen Körper als Ganzes empfinde, ohne auch nur annähernd zu wissen, was in seinem Innern vor sich geht. Das ist auch gar nicht notwendig, um mich mit ihm durch die Welt zu bewegen.
Beim zweiten Bild ist der Deckel geöffnet, ich sehe alles, was sich darin befindet, und was immer das ist, ist halt einfach da und macht den Gesamtinhalt aus. Ich habe das alles so oft angefasst und hin und her gewendet, all die kleinen Bewertungen – positiv, negativ, stark, schwach – haben dabei weitgehend ihre Bedeutung verloren, ich kann das alles einfach benutzen, wenn ich es brauche, und wieder zurücklegen, ohne weiter darüber nachzudenken.
Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob der Unterschied von Bedeutung ist und ob es überhaupt ein Unterschied für dich ist. Beide Versionen laufen jedenfalls wohl auf dasselbe hinaus: dass es sich „angenehm anfühlt“.
Es gibt noch eine weitere Möglichkeit des Sich-veränderns. Meine Therapeutin hatte den Ausdruck „verhuscht“ für mich entdeckt. Ja, das traf mein Gefühl genau. In Erscheinung treten und zugleich lieber unsichtbar sein wollen, unsicher, sich zuwenden und zugleich abwenden, rasch und flüchtig wie eine Maus zu sein. Nun habe ich eine Kollegin, die ich, wenn wir uns unterhalten, als „verhuscht“ bezeichnen würde. Sie spricht schnell und immer so, als seien die Gedanken, die sie sagt, es nicht wert, ausgesprochen zu werden. Ob es tatsächlich so ist, das weiß ich nicht. Ich nehme sie so wahr. Und diese Frau finde ich derart apart und anziehend, daß ich daraus schließe, auch Verhuschtheit verhindere das Mögen nicht (nebenbei hat sie, rein äußerlich, eine verblüffende Ähnlichkeit mit Dir, wie ich finde. Du in Miniaturausgabe und ungefähr 20 Jahre älter). Wenn man verhuscht auftritt, dann fühlt man sich entsprechend nicht selbstsicher, nicht selbstbewusst. Insofern ist es angenehm, dass ich inzwischen weniger verhuscht auftreten kann als noch vor 4 Jahren. Andererseits bin ich meiner Verhuschtheit auch entgegengekommen und sehe in ihr überhaupt keinen Hindernisgrund mehr, dass ich nicht gemocht werden könnte und das heißt zugleich, mich selber zu mögen. Das entdecke ich interessanterweise wieder über den Umweg meines Blickes auf einen anderen Menschen. Im Unterschied zu Deiner spektakulären Geschichte über das alte und neue Ich, die einander treffen, ist dies hier eine unscheinbare Geschichte von einer Eigenschaft, die ich lediglich modifiziert habe und die ich von der anderen Seite her betrachtet auf einmal sympathisch und anziehend findet.
Das ist ein sehr schönes Beispiel dafür, wie Bewertungen sich auflösen können. Ich mag besonders die Beiläufigkeit daran. :-)
Gerade kommt mir ein Gedanke, bei dem ich nicht weiß, ob du mir zustimmen wirst. Ich habe das Gefühl, als ob all die vielen kleinen Veränderungen, über die wir hier schon des Längeren schreiben, mit einer Hinwendung zu den Menschen einhergehen. Erst wollte ich schreiben, dass sie da ihren Ursprung haben, aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob das stimmt. Vielleicht ist es (wieder einmal) eher ein Wechselspiel. Bei mir ist es auf jeden Fall so. Ich habe mich für andere geöffnet, was überraschenderweise zu einer größeren Öffnung mir selbst gegenüber geführt hat. Mein ausgeprägtes Einsamkeitsbedürfnis ist dazu kein Widerspruch, sondern fügt sich problemlos ein.
Lachen
Da Du Deinen Mann erwähnst, fällt mir eine der schönsten Episoden ein, die ich mit meinem Mann erlebt habe. Wir waren zu dem Zeitpunkt des Ereignisses schon viele Jahre verheiratet. Es war irgendein Nachmittag eines ganz normalen Tages, an dem ich mich im Schneidersitz auf das Sofa setzte, mit verschränkten Armen, in aufrechter Haltung, und in entschiedenem Tonfall zu sprechen anfing: „Nie wieder werde ich in dieser Wohnung einen Handschlag tun, von mir aus kann sie immer schmutziger werden, von mir aus versifft eben alles, wenn man vor lauter Krempel nicht mehr gehen kann, dann ist es mir egal, ich werde hier nichts mehr tun …" Mein Mann, der aus irgendwelchen Gründen auf meinem Schreibtischstuhl vor meinem Computer saß, drehte sich mitsamt dem Stuhl zu mir hin und begann zu lachen. Es war ein so fröhliches, ein so herzliches Lachen, dass ich selbstverständlich auch anfing zu lachen. Ich war ernsthaft verärgert, und mein Mann hat die Komik der Situation erkannt, denn natürlich war dies die soundsovielte Neuauflage desselben Stückes. Soweit ich mich erinnere, habe ich mich nach diesem Vorfall nie wieder über einen bekrümelten Tisch und herumliegende Socken echauffiert.
:-))) Ja, Lachen kann so vieles lösen, einen er-lösen. Das heißt ja nicht unbedingt, dass das, worüber man lacht, nicht trotzdem ernst genommen werden kann. Das Lachen bringt das Problem nicht zum Verschwinden (obwohl es auch das gibt), aber es nimmt die Verbissenheit aus der Situation, so dass man viel besser damit umgehen kann.
Aber worüber rede ich da? Wenn eine Auseinandersetzung mit meinem Mann so richtig heftig war, dann konnte ich selten lachen, dann war ich meist SEHR verbissen. Oft spürte ich ganz unterschwellig, dass ich da einen Stellvertreterkrieg führte, dass es um alte Wunden ging, gar nicht so sehr um etwas, was mein Mann getan oder gesagt hatte. Aber fatalerweise führte das erst recht dazu, dass ich nicht nachgeben konnte. Solche Auseinandersetzungen kamen zum Glück nicht so häufig vor, aber wenn es sie gab, waren sie sehr unangenehm. Dass ich relativ entspannt über mich selbst lachen kann, hat sich eigentlich erst nach seinem Tod entwickelt, mit dieser Haltung, dass, da ich so ziemlich das Schlimmste in meinem Leben hinter mir habe, alles andere dagegen leicht wiegt.
Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Grund für diese neue Leichtigkeit ist meine Begegnung mit dem Zen-Buddhismus. Die Lehre von der Leere und Substanzlosigkeit ist für mich intuitiv so einleuchtend! Mein Ich hat keine Substanz. Das heißt nicht, dass es nicht existiert, aber eben nicht als ein feststehender „Kern“, sondern es „ereignet“ sich im Wechselspiel des jeweiligen Moments – es ist schwierig für mich das auszudrücken. Die Entstehung eines solchen Ichbewusstseins ist evolutionär sinnvoll und notwendig gewesen, ohne es könnten wir gar nicht in Gesellschaft leben. Aber es hat eben auch Probleme in seinem Gefolge, die sich relativieren, wenn man sich klarmacht, dass das alles sich im Grunde nur auf ein flüchtiges Phänomen bezieht.
Das klingt jetzt sehr abstrakt, und es ist auch nicht so, dass ich diesen Gedanken immer präsent hätte, aber er wirkt im Untergrund, weil er wohl auf etwas gestoßen ist, was da ohnehin schon vorhanden war. Das Hereinbrechen in die Praxis kam dann mit dem Montaigne-Zitat von den flatternden Fetzen.
Freude
Du schreibst das Wort „Enttäuschung“ und über dieses Wort habe ich schon häufiger gedacht, dass es „falsch“ ist. Im Rahmen der Freundesgeschichte impliziert es, dass die Vorfreude auf das Treffen eine „Täuschung“ war oder die Erwartung, es könne zu diesem Treffen kommen. War es denn ein Irrtum sich zu freuen oder anzunehmen, das Treffen mit dem Freund würde stattfinden? Ent-täuschung würde meiner Meinung nach nur dann zutreffen, wenn Freund A schon mit der Absicht das Treffen abzusagen, es vereinbart hätte oder wenn die Wahrscheinlichkeit, es könne stattfinden, aus guten Gründen äußerst gering gewesen wäre.
Ich verstehe, was du meinst. Trotzdem denke ich, dass man das Wort auch hier im Sinne einer Ent-Täuschung verwenden kann. Die Täuschung liegt dann aber nicht außen (Freund B hatte beispielsweise ohnehin nicht wirklich vor sich mit mir zu treffen), sondern innen: Es ist eine Täuschung zu glauben, das Leben müsse meine Erwartungen erfüllen oder nach meinen Wünschen ablaufen. Wenn etwas passiert, worüber ich enttäuscht bin, dann erwache ich sozusagen aus dieser Täuschung und erhalte so im besten Fall die Chance einer realistischeren Weltsicht, in der ich nicht im Zentrum stehe. In eine ähnliche Richtung gehst du in deinem nächsten Absatz, wenn ich das richtig sehe.
Wir gebrauchen den Ausdruck und das tue ich ja auch, aber wir gebrauchen ihn nur dann, wenn eine positive Erwartung nicht erfüllt wird. Im umgekehrten Fall, wenn eine negative Erwartung nicht eintrifft, sprechen wir von einer „angenehmen Überraschung“. Ich weiß nicht, ob es Wortklauberei ist?, wenn ich aus dieser Beobachtung schließe, dass sich in unserer Sprache eine Erfahrung ausdrückt, nämlich die, dass zu erwarten, das Erwünschte würde eintreten, eine „Täuschung“ ist. Eine „Erfahrung“ ist nicht ganz richtig, denke ich. Es handelt sich dabei um eine gedankliche „Bewertung“, wie Du weiter unten geschrieben hast.
Das ist ein feiner Unterschied, den du da machst. Ja, es ist eben oft keine Erfahrung, die daraus folgt, im Sinne einer Erkenntnis, sondern wir bleiben in der Bewertung stecken.
Nur am Rande bemerkt, könnte man versuchen, eine Haltung einzunehmen, die sowohl Vorfreude als auch Befürchtung weitgehend vermeidet und die, was Ereignisse betrifft, sie weitgehend nicht als positiv oder negativ bewertet – das wäre dann möglicherweise in die Richtung des Stoizismus oder des Buddhismus weitergeführt.
Dazu fällt mir ein, dass das vorherrschende Gefühl der Erleuchteten im Buddhismus eine große Freude sein soll. Und der Stoizismus hat zum Ziel ein glückliches Leben – ein Werk Senecas heißt ja ausdrücklich „Vom glückseligen Leben“. In beiden Schulen geht es also gar nicht so sehr in Richtung Vermeidung von Gefühlen (was ich früher auch immer gedacht hatte), sondern mehr darum, über die Erkenntnis der Flüchtigkeit unserer alltäglichen Gefühle zu einer Gelassenheit zu kommen, die eine sozusagen übergeordnete und dadurch stetigere Freude im Gepäck hat.
Ergänzend zu dem, was Du schreibst, würde ich noch sagen, dass man zum Beispiel ein Enttäuschtsein –ich gebrauche diesen Ausdruck nun doch mangels eines besseren Ausdrucks- nicht notwendig mit dem Gedanken begleiten muß „das dauert jetzt ewig an“. Auf der anderen Seite muß man eine Freude nicht notwendig mit dem Gedanken begleiten „bestimmt ist sie nur kurz“. Das ist die einzige Lehre, die ich dem Beispiel positiv entnehmen kann. Die Freude kann andauern, über einen längeren Zeitraum, während der Frust, die Traurigkeit, die unangenehme Überraschtheit von kurzer Dauer sein kann.
Dass du hier den Zeitfaktor erwähnst, kommt für mich einigermaßen überraschend, woraus ich schließe, dass mir dieseAssoziationim Alltag nicht sonderlich geläufig ist. Ich glaube, ich habe den Gedanken des Pendels sehr verinnerlicht, wonach kein Zustand länger anhält, weder positive noch negative.
Ich merke gerade, dass ich immer wieder auf dieselben Bilder zurückkomme – Pendel, flatternde Fetzen, sub specie aeternitatis (habe ich zwar in diesem Brief nicht geschrieben, aber hatte ich die ganze Zeit im Hinterkopf), Wechselspiel, Leere ... – und ich staune darüber, wie sich das alles immer mehr zusammenfügt. Ich hoffe nur, dass dabei der (mein) Hauptaspekt der Offenheit und Flüchtigkeit, der mich so befreit hat, nicht verlorengeht, indem sich daraus ein neues Selbstbild verfestigt.
B.
*Da ich mir nicht sicher bin, ob du diesen Spruch kennst: Achtung, jetzt kommt ein Karton
Kommentar hinzufügen
Kommentare