Liebe B.,
Das Gesamtpaket
[…] Ja, warum sollte sich in dir etwas Abstoßendes verbergen? Oder in mir? Oder in sonst irgendwem? Es läuft im Grunde darauf hinaus, dass die meisten von uns „nichts Besonderes“ sind, nicht einmal in negativer Hinsicht. Zu erkennen, dass man eine völlig banale Person ist, mag am Ego kratzen, aber es entlastet auch, finde ich. Es eröffnet einen Freiraum, in dem man einfach so sein kann, wie man gerade ist, ohne etwas spielen zu müssen.
Früher war es tatsächlich so, dass ich entweder über meine positiven, starken Eigenschaften etwas Besonderes aus mir machen wollte oder aber meine Identität über die negativen, d.h. schwachen Eigenschaften zu finden versucht habe. Jetzt nehme ich mich so wahr wie Du. Ich bin eine völlig normale Frau, in keiner Hinsicht irgendetwas Besonderes, ja, auch nicht im Negativen. Vielleicht ist es besser so formuliert: Ich empfinde mich als Ganzes, definiere mich kaum noch über einzelne Eigenschaften von mir. Ich unterlasse es an dieser Stelle, die Begriffe „positiv“ und „negativ“ oder „stark“ und „schwach“ zu problematisieren, eben weil die einzelnen Eigenschaften nur noch am Rande eine Rolle spielen. Wichtig ist die Gesamtsicht. Und – in einem langweiligen und unauffälligen Wort ausgedrückt: Es fühlt sich angenehm an.
Ich hatte das Obige schnell und fast beiläufig geschrieben. Es floß mir „aus der Feder“. Erst jetzt, während des abschließenden Lesens meines Briefes, merke ich, wie gravierend diese Veränderung ist. Oder richtiger, dass es eine gravierende Veränderung ist. Mir kommt sie so bemerkenswert vor, dass ich sie als Überschrift für meinen Brief wähle.
Aber jetzt bin ich abgedriftet. Ja, die Veränderungen finden schleichend statt, und irgendwann blickt man hoch und stellt fest, dass man gar nicht mehr so ist, wie man mal war (oder glaubte zu sein). Wenn das „alte“ und das „neue“ Ich dann gemeinsam darüber lachen, dann werden die beiden Bilder deckungsgleich und „man ist, wie man ist“. :-)
Es gibt noch eine weitere Möglichkeit des Sich-veränderns. Meine Therapeutin hatte den Ausdruck „verhuscht“ für mich entdeckt. Ja, das traf mein Gefühl genau. In Erscheinung treten und zugleich lieber unsichtbar sein wollen, unsicher, sich zuwenden und zugleich abwenden, rasch und flüchtig wie eine Maus zu sein. Nun habe ich eine Kollegin, die ich, wenn wir uns unterhalten, als „verhuscht“ bezeichnen würde. Sie spricht schnell und immer so, als seien die Gedanken, die sie sagt, es nicht wert, ausgesprochen zu werden. Ob es tatsächlich so ist, das weiß ich nicht. Ich nehme sie so wahr. Und diese Frau finde ich derart apart und anziehend, daß ich daraus schließe, auch Verhuschtheit verhindere das Mögen nicht (nebenbei hat sie, rein äußerlich, eine verblüffende Ähnlichkeit mit Dir, wie ich finde. Du in Miniaturausgabe und ungefähr 20 Jahre älter). Wenn man verhuscht auftritt, dann fühlt man sich entsprechend nicht selbstsicher, nicht selbstbewusst. Insofern ist es angenehm, dass ich inzwischen weniger verhuscht auftreten kann als noch vor 4 Jahren. Andererseits bin ich meiner Verhuschtheit auch entgegengekommen und sehe in ihr überhaupt keinen Hindernisgrund mehr, dass ich nicht gemocht werden könnte und das heißt zugleich, mich selber zu mögen. Das entdecke ich interessanterweise wieder über den Umweg meines Blickes auf einen anderen Menschen. Im Unterschied zu Deiner spektakulären Geschichte über das alte und neue Ich, die einander treffen, ist dies hier eine unscheinbare Geschichte von einer Eigenschaft, die ich lediglich modifiziert habe und die ich von der anderen Seite her betrachtet auf einmal sympathisch und anziehend findet.
Lachen
Ein schönes Beispiel für die Möglichkeit über sich selbst zu lachen. :-) Das hätte ich wahrscheinlich gar nicht verhindern können, wenn ich in dieser Situation gewesen wäre, das wäre einfach aus mir herausgegluckert. Ja, dass sich hinter der „unbewegten Miene“ zuckende Mundwinkel verbergen könnten, kann ich mir gut vorstellen. Dass du statt zu lachen das „unwirsch“ sein gewählt hast, hat ja noch mal eine ganz eigene Komik. Ich kann mir die Situation lebhaft vorstellen, das erinnert mich sehr an meinen Mann.
Da Du Deinen Mann erwähnst, fällt mir eine der schönsten Episoden ein, die ich mit meinem Mann erlebt habe. Wir waren zu dem Zeitpunkt des Ereignisses schon viele Jahre verheiratet. Es war irgendein Nachmittag eines ganz normalen Tages, an dem ich mich im Schneidersitz auf das Sofa setzte, mit verschränkten Armen, in aufrechter Haltung, und in entschiedenem Tonfall zu sprechen anfing: „Nie wieder werde ich in dieser Wohnung einen Handschlag tun, von mir aus kann sie immer schmutziger werden, von mir aus versifft eben alles, wenn man vor lauter Krempel nicht mehr gehen kann, dann ist es mir egal, ich werde hier nichts mehr tun …" Mein Mann, der aus irgendwelchen Gründen auf meinem Schreibtischstuhl vor meinem Computer saß, drehte sich mitsamt dem Stuhl zu mir hin und begann zu lachen. Es war ein so fröhliches, ein so herzliches Lachen, dass ich selbstverständlich auch anfing zu lachen. Ich war ernsthaft verärgert, und mein Mann hat die Komik der Situation erkannt, denn natürlich war dies die soundsovielte Neuauflage desselben Stückes. Soweit ich mich erinnere, habe ich mich nach diesem Vorfall nie wieder über einen bekrümelten Tisch und herumliegende Socken echauffiert.
Können Gefühle „falsch“ sein?
Die Antwort von Freund A hat mich jetzt sehr verblüfft, was mich überrascht, denn sie klingt ja recht „zennig“, sehr nach Hier und Jetzt. Aber ich glaube nicht, dass mir in der Situation diese Umkehr der Perspektive spontan gelungen wäre. Ich kann mir höchstens vorstellen, dass ich gesagt hätte: „Ach schade, aber gut, dann ist das eben so. Es klappt bestimmt ein andermal.“ Ich bin recht schnell darin Sachen abzuhaken, wenn sie aus welchen Gründen auch immer nicht möglich sind. (Jetzt frage ich mich gerade, ob ich mich damit vor der Enttäuschung schützen will, sie nicht fühlen will, das also nur vorgetäuscht ist? Aber bei diesem Gedanken klingelt nichts bei mir, ich glaube, ich bin wirklich selten enttäuscht, jedenfalls kann ich mich gerade an nichts erinnern. Ich denke, das hat mit dem Phlegma zu tun, von dem ich mal schrieb. Ich nehme die Dinge meistens einfach so, wie sie kommen, nicht aus einer radikalen Akzeptanz heraus (also gegen einen Widerstand), sondern aus einer gewissen Nachlässigkeit dem Leben gegenüber.)
Du schreibst das Wort „Enttäuschung“ und über dieses Wort habe ich schon häufiger gedacht, dass es „falsch“ ist. Im Rahmen der Freundesgeschichte impliziert es, dass die Vorfreude auf das Treffen eine „Täuschung“ war oder die Erwartung, es könne zu diesem Treffen kommen. War es denn ein Irrtum sich zu freuen oder anzunehmen, das Treffen mit dem Freund würde stattfinden? Ent-täuschung würde meiner Meinung nach nur dann zutreffen, wenn Freund A schon mit der Absicht das Treffen abzusagen, es vereinbart hätte oder wenn die Wahrscheinlichkeit, es könne stattfinden, aus guten Gründen äußerst gering gewesen wäre.
Wir gebrauchen den Ausdruck und das tue ich ja auch, aber wir gebrauchen ihn nur dann, wenn eine positive Erwartung nicht erfüllt wird. Im umgekehrten Fall, wenn eine negative Erwartung nicht eintrifft, sprechen wir von einer „angenehmen Überraschung“. Ich weiß nicht, ob es Wortklauberei ist?, wenn ich aus dieser Beobachtung schließe, dass sich in unserer Sprache eine Erfahrung ausdrückt, nämlich die, dass zu erwarten, das Erwünschte würde eintreten, eine „Täuschung“ ist. Eine „Erfahrung“ ist nicht ganz richtig, denke ich. Es handelt sich dabei um eine gedankliche „Bewertung“, wie Du weiter unten geschrieben hast. Freund B. hat mit gutem Grund davon ausgehen können, er würde seinen Freund treffen, seine Freude war begründet. Eine Bewertung, die beinhaltet, man solle sich besser erst gar nicht auf „etwas“ freuen, weil sich das Erwünschte nicht erfüllt, führt dazu, die Freude und somit auch die Enttäuschung von vorneherein auszuschließen, d.h. die Gefühle an sich zu löschen. Eine Freude, die gleichzeitig einkalkuliert, am Ende in Enttäuschung zu münden, kann man eigentlich gar nicht als Freude bezeichnen. Sie wird in sich zerstört.
Nur am Rande bemerkt, könnte man versuchen, eine Haltung einzunehmen, die sowohl Vorfreude als auch Befürchtung weitgehend vermeidet und die, was Ereignisse betrifft, sie weitgehend nicht als positiv oder negativ bewertet – das wäre dann möglicherweise in die Richtung des Stoizismus oder des Buddhismus weitergeführt.
Je länger ich über die Antwort von Freund A nachdenke, umso unverschämter finde ich sie. Sie ignoriert den Freund, sie spricht ihm sein akutes Gefühl ab, und das auch noch sehr herablassend unter dem Deckmantel eines vermeintlich tieferen oder, noch schlimmer, „ökonomischen“ psychologischen Verständnisses. Wenn diese Geschichte in dem Aufsatz als ein positives Beispiel dafür gebracht worden ist, wie man „besser“ mit seinen Gefühlen umgehen sollte, dann hat da wohl jemand geschrieben, der sehr im Kopf und wenig in der Seele steckt, auch wenn er oder sie vermutlich gerade das Gegenteil behaupten wird.
In welchem Sinne ist eigentlich der Titel „Ökonomie der Gefühle“ gemeint? Ich finde die Kombination der beiden Wörter furchtbar. Ich verstehe zwar den Ansatz, dass es bei manchen Gefühlen einfach nicht „lohnt“, sich zu sehr in sie hineinzusteigern, aber nicht aus irgendwelchen „ökonomischen“ Abwägungen heraus, sondern mehr über die Erkenntnis, dass alle Gefühle, oder vielleicht besser: alle Bewertungen meiner Gefühle nur in meinem Kopf stattfinden und nicht zwangsläufig mit der „Realität“ (was immer das ist) übereinstimmen müssen, es also nicht schaden kann, immer mal wieder aus dem eigenen Kopf „herauszutreten“ und zu gucken, was eigentlich gerade wirklich vor sich geht.
Und je länger ich über Deine Reaktion nachdenke, :-))) desto richtiger finde ich sie. Sie trifft auch mein Verständnis von Gefühlen. Sie sind das, was sie sind. Deswegen können sie in sich auch nicht „richtig“ oder „falsch“ sein. Selbstverständlich können sie unangemessen oder angemessen sein und die Vorfreude auf den Lottogewinn am kommenden Wochenende könnte man vielleicht sogar als „falsch“ bezeichnen, aber dies betrifft nicht die Gefühle in sich, sondern die gedankliche Ebene, die Situationen „falsch“ einschätzt, unvernünftigerweise eine Erwartungserfüllung voraussetzt oder für wahrscheinlich hält.
Ergänzend zu dem, was Du schreibst, würde ich noch sagen, dass man zum Beispiel ein Enttäuschtsein –ich gebrauche diesen Ausdruck nun doch mangels eines besseren Ausdrucks- nicht notwendig mit dem Gedanken begleiten muß „das dauert jetzt ewig an“. Auf der anderen Seite muß man eine Freude nicht notwendig mit dem Gedanken begleiten „bestimmt ist sie nur kurz“. Das ist die einzige Lehre, die ich dem Beispiel positiv entnehmen kann. Die Freude kann andauern, über einen längeren Zeitraum, während der Frust, die Traurigkeit, die unangenehme Überraschtheit von kurzer Dauer sein kann.
F.
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