Liebe F.,
In der Dämmerung
Als erstes habe ich ein Bild gesehen. Du in zweierlei Gestalt. Einmal die Person, die auf einem Sandweg vorne weg läuft und dahinter in einigem Abstand die zweite Person, die mit gesenktem Blick hinterhertrottet. Die vorangehende Gestalt dreht sich um und ruft lachend: „Ich bin schon weiter als du gedacht hast“. Daraufhin blickt die hinterdreinlaufende Gestalt hoch und lacht ebenfalls. Das ist wirklich ein tolles Beispiel für die nachzüglerische Erkenntnis, die feststellt, dass ein wesentlicher Aspekt des alten Selbstbildes gar nicht mehr so ist wie angenommen.
Ein schönes Bild! :-) Besonders gefällt mir daran der gesenkte Blick der hinterhertrottenden Person, die beim Aufblicken feststellt, dass „ein wesentlicher Aspekt […] gar nicht mehr so ist wie angenommen“. Denn dabei kam eine Erinnerung hoch, wie es war, wenn ich als Kind krank im Bett lag und nachmittags fiebrig einschlief, und wenn ich dann irgendwann wieder aufwachte, war das Zimmer fast dunkel, weil die Dämmerung längst eingesetzt hatte. Und ich lag ganz ruhig und erholt da und beobachtete, wie der Raum allmählich in Dunkelheit versank, während draußen nach und nach die Lichter angingen. In solchen Momenten war die Welt so unglaublich still! Bis heute liebe ich die Dämmerung sehr, sowohl abends als auch morgens, wenn die Welt langsam aus der Dunkelheit wieder auftaucht. Als ich das erste Mal davon hörte, dass es in der Nähe des Äquators keine oder so gut wie keine Dämmerung gibt, taten mir die Menschen, die dort leben müssen, sehr leid. :-)
Aber jetzt bin ich abgedriftet. Ja, die Veränderungen finden schleichend statt, und irgendwann blickt man hoch und stellt fest, dass man gar nicht mehr so ist, wie man mal war (oder glaubte zu sein). Wenn das „alte“ und das „neue“ Ich dann gemeinsam darüber lachen, dann werden die beiden Bilder deckungsgleich und „man ist, wie man ist“. :-)
Obwohl ich kein entsprechendes Beispiel für mich habe finden können (vielleicht existiert es und ich sehe es nur nicht), kann ich dennoch gut anknüpfen, weil ich vor kurzem einen ähnlichen Geistesblitz hatte, der mir wie aus heiterem Himmel zufiel. Ich dachte plötzlich, dass je näher man(n) mich in Augenschein nähme, sowohl meine äußere Erscheinung als auch meine Eigenschaften, meine Person in all ihren Lebensäußerungen, dass dies zu einer verstärkten Zuneigung oder auch Liebe führen könne. Dass ich explizit und bewusst immer vom Gegenteil ausgegangen bin, daran kann ich mich nicht erinnern, aber anscheinend war es wohl so. Man wird mich zurückweisen und nicht mögen, sobald man mich besser und näher kennenlernt. Es muß dies eine Grundüberzeugung gewesen sein, eine von denen, die so absurd sind, dass man darüber nur lachen kann. Da ich mich nicht schminke (nur meine Lippen male ich manchmal rot an) und kein Korsett trage, erscheine ich eigentlich so, wie ich aussehe, :-))) es ist keine schöne Fassade, hinter der sich Hässliches verbirgt. Gut, meine Brille kaschiert. Das ist noch eine wunde Stelle. Und was sollte an abstoßenden oder nicht liebenswürdigen Eigenschaften und Verhaltensweisen sichtbar werden, wenn man mich näher kennenlernt?
Uiuiui, wer weiß, vielleicht verbirgt sich hinter der Fassade ein Monster? :-) Aber Scherz beiseite: Ja, warum sollte sich in dir etwas Abstoßendes verbergen? Oder in mir? Oder in sonst irgendwem? Es läuft im Grunde darauf hinaus, dass die meisten von uns „nichts Besonderes“ sind, nicht einmal in negativer Hinsicht. Zu erkennen, dass man eine völlig banale Person ist, mag am Ego kratzen, aber es entlastet auch, finde ich. Es eröffnet einen Freiraum, in dem man einfach so sein kann, wie man gerade ist, ohne etwas spielen zu müssen. Wenn ich solchen – ich nenne es mal: authentischen Menschen begegne, dann finde ich das immer faszinierend. Das zeigt sich aber gar nicht so sehr an Äußerlichkeiten, die du erwähnst, also ich finde z.B. nicht, dass geschminkte Menschen per se vorgeben etwas anderes zu sein, als sie „in Wirklichkeit“ sind. Das kann natürlich so sein, muss es aber nicht. Auf jeden Fall finde ich es immer sehr spannend, wenn ich etwas von dem mitbekomme, was hinter der Fassade liegt (sei es eine mehr authentische oder eine mehr verbergende Fassade – beides sind Fassaden, würde ich sagen). Dahinter liegt fast immer ein weites, interessantes Feld. Bei dir auf jeden Fall. :-)
Wahrscheinlich handelt es sich um so was wie eine Projektion-Introjektion, d.h. ich trete aus mir raus, sehe mich mit dem Blick eines anderen Menschen und gehe wieder zurück zu mir. Das alles bin natürlich ich selbst. Ich weiß nicht, ob man auch unumwegiger auf die Idee kommen kann, liebenswert zu sein. Es muß am Ende etwas mit einem veränderten Verhältnis zu mir selbst zu tun haben. So etwas wie eine Selbstannahme. Ich bin verschiedene Wörter durchgegangen und dies, obwohl es auch nicht präzise „sitzt“, finde ich noch am geeignetsten dafür, was ich meine. Die Gemeinsamkeit mit Deinem Beispiel besteht, so wie ich es sehe, darin, dass die freundliche Betrachtung meiner Person ein unmerklicher Prozess gewesen sein muß, die sich dann zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem Gedanken zeigt, der eben nicht nur Gedanke im Kopf ist, sondern die meine Person erfasst. Der Unterschied liegt darin, dass sich meine Erkenntnis nicht auf bestimmte, einzelne Eigenschaften von mir bezieht, sondern auf mich als Ganzes.
Ich komme noch einmal auf die Dämmerung zurück. Ich stellte mir gerade vor, wie du allmählich aus der Dämmerung, dem Zwielicht (ein schönes Wort!) heraustrittst und in diesem „unmerklichen Prozess“ immer sichtbarer wirst, immer mehr die, die du bist.
Unwirsch :-)))
Neulich stellte ich meine Waschmaschine an und weder der rote noch der gelbe Knopf färbten sich. Hm? Ich stellte die beiden Schalter wieder aus, drehte sie erneut. Die Maschine sprang nicht an. Ich geriet in den mir bekannten Schreck- und Aufruhrmodus mit den dazu gehörenden Gedanken, neue Waschmaschine, Aufwand, Kosten usw.usf. – beim ungefähr vierten Blick sah ich, dass ich das Kabel vergessen hatte in die Steckdose zu tun. Mit unbewegter Miene und unwirsch, nur wenig erleichtert (das nächste Problem wird sicher kommen), steckte ich den Stecker in die Steckdose. Wenn ich heute auf die Episode zurückblicke, dann hätte ich ebensogut über das Geschehen einer „simplen Lösung für ein großartig scheinendes Problem“ lachen können, und auch über meine Schusseligkeit, den wichtigsten Handgriff übersehen zu haben. Die Belustigung über mich selber hätte dem Schreck- und Aufruhrmodus wie einem Luftballon die Luft entzogen. Diese Haltung ist tatsächlich eine Möglichkeit, Gefühlen der Unbehaglichkeit die Schwere zu nehmen und sie in Leichtigkeit zu verwandeln. Übrigens fällt mir jetzt auf, dass die „unbewegte Miene“, mit der ich reagiert habe, den Schluß zulässt, dass der Impuls zur Belustigung schon existierte, ich sie aber nicht zulassen wollte.
Ein schönes Beispiel für die Möglichkeit über sich selbst zu lachen. :-) Das hätte ich wahrscheinlich gar nicht verhindern können, wenn ich in dieser Situation gewesen wäre, das wäre einfach aus mir herausgegluckert. Ja, dass sich hinter der „unbewegten Miene“ zuckende Mundwinkel verbergen könnten, kann ich mir gut vorstellen. Dass du statt zu lachen das „unwirsch“ sein gewählt hast, hat ja noch mal eine ganz eigene Komik. Ich kann mir die Situation lebhaft vorstellen, das erinnert mich sehr an meinen Mann.
Gefühle abwägen?
Kürzlich las ich einen Aufsatz über die „Ökonomie der Gefühle“ eine schöne „Lehr“geschichte, die ich Dir erzählen möchte. Zwei Freunde verabreden sich auf einen Zeitpunkt 3 Wochen später. Kurzfristig muß einer der Beiden den Termin absagen. Der Andere ist enttäuscht, traurig und sagt vorwurfsvoll: „Und ich habe mich so sehr darauf gefreut Dich zu sehen“. Daraufhin antwortet der Erste: „Du hattest doch 3 Wochen lang eine Freude“. Wiegt die Enttäuschung schwerer? Die 3 Wochen der Vorfreude sind erlebt worden, durch nichts können sie rückgängig gemacht bzw. gelöscht werden. In dem Aufsatz wurde die Geschichte im Kontext des Themas „Aufmerksamkeit“ erzählt. Die Gefühle sind, was und wie sie sind, aber in der Regel gewichten und bewerten wir sie mit dem Verstand. Das heißt für diesen Fall, dass wir dem unangenehmen Gefühl mehr Aufmerksamkeit widmen, sodaß es zu dominieren scheint. Ich weiß nicht so recht, was ich dazu denken soll. Ich würde eher sagen, dass wir die angenehmen Gefühle für selbstverständlich nehmen, und die unangenehmen Gefühle für einen mehr oder weniger intensiven Einbruch in die Normalität ansehen. Hm, das läuft auf dasselbe hinaus, oder nicht?
Die Antwort von Freund A hat mich jetzt sehr verblüfft, was mich überrascht, denn sie klingt ja recht „zennig“, sehr nach Hier und Jetzt. Aber ich glaube nicht, dass mir in der Situation diese Umkehr der Perspektive spontan gelungen wäre. Ich kann mir höchstens vorstellen, dass ich gesagt hätte: „Ach schade, aber gut, dann ist das eben so. Es klappt bestimmt ein andermal.“ Ich bin recht schnell darin Sachen abzuhaken, wenn sie aus welchen Gründen auch immer nicht möglich sind. (Jetzt frage ich mich gerade, ob ich mich damit vor der Enttäuschung schützen will, sie nicht fühlen will, das also nur vorgetäuscht ist? Aber bei diesem Gedanken klingelt nichts bei mir, ich glaube, ich bin wirklich selten enttäuscht, jedenfalls kann ich mich gerade an nichts erinnern. Ich denke, das hat mit dem Phlegma zu tun, von dem ich mal schrieb. Ich nehme die Dinge meistens einfach so, wie sie kommen, nicht aus einer radikalen Akzeptanz heraus (also gegen einen Widerstand), sondern aus einer gewissen Nachlässigkeit dem Leben gegenüber.)
Ich habe die Geschichte jetzt mehrmals gelesen, und irgendwas sagt mir, dass mit der Antwort von Freund A etwas nicht stimmt. Oder wörtlich: „Das ist doch Quatsch.“ Logisch mag es richtig sein, aber kein Mensch, nicht nur ich nicht, würde so reagieren und sich, statt enttäuscht zu sein, darüber freuen, drei Wochen lang Vorfreude gehabt zu haben. Wenn Gefühle sind, was sie sind, dann ist auch die Enttäuschung, was sie ist und will jetzt, in diesem Moment, wo sie da ist, akzeptiert sein. Da ist jetzt eben nur Enttäuschung, keine Freude. Freund B hat sich bestimmt auch mal vor einem Jahr über irgendwas gefreut, aber was nützt ihm das jetzt? Gefühle kann man nicht konservieren. Ich denke auch nicht, dass in diesem Fall dem negativen Gefühl mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird als dem positiven. Freund B hat sich ja, wie er sagt, sehr intensiv gefreut, dieses Gefühl also sehr wohl wahrgenommen und ausgelebt.
Je länger ich über die Antwort von Freund A nachdenke, umso unverschämter finde ich sie. Sie ignoriert den Freund, sie spricht ihm sein akutes Gefühl ab, und das auch noch sehr herablassend unter dem Deckmantel eines vermeintlich tieferen oder, noch schlimmer, „ökonomischen“ psychologischen Verständnisses. Wenn diese Geschichte in dem Aufsatz als ein positives Beispiel dafür gebracht worden ist, wie man „besser“ mit seinen Gefühlen umgehen sollte, dann hat da wohl jemand geschrieben, der sehr im Kopf und wenig in der Seele steckt, auch wenn er oder sie vermutlich gerade das Gegenteil behaupten wird.
In welchem Sinne ist eigentlich der Titel „Ökonomie der Gefühle“ gemeint? Ich finde die Kombination der beiden Wörter furchtbar. Ich verstehe zwar den Ansatz, dass es bei manchen Gefühlen einfach nicht „lohnt“, sich zu sehr in sie hineinzusteigern, aber nicht aus irgendwelchen „ökonomischen“ Abwägungen heraus, sondern mehr über die Erkenntnis, dass alle Gefühle, oder vielleicht besser: alle Bewertungen meiner Gefühle nur in meinem Kopf stattfinden und nicht zwangsläufig mit der „Realität“ (was immer das ist) übereinstimmen müssen, es also nicht schaden kann, immer mal wieder aus dem eigenen Kopf „herauszutreten“ und zu gucken, was eigentlich gerade wirklich vor sich geht.
B.
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