Liebe B.,
Wie aus heiterem Himmel
Als ich diesen letzten Satz las, fiel mir etwas ein, was zwar nicht zum Thema der Unsicherheitstoleranz gehört, aber zur Nicht-Festlegung. Ich habe irgendwann mal darüber nachgedacht, dass ich im Laufe der Jahre eine ganze Menge an sozialer Sicherheit gewonnen habe, der ich aber irgendwie nicht so recht traute, weil sie durch unangenehme Situationen immer wieder ganz leicht umgeworfen werden konnte. Die positiven Erlebnisse überwogen zahlenmäßig inzwischen eindeutig, trotzdem definierte ich mich über die negativen. „Ich kann gerade problemlos in einer größeren Runde was sagen, aber IM GRUNDE bin ich schüchtern.“ „Ich komme mit diesem schwierigen Leser ganz gut zurecht, aber IN WIRKLICHKEIT bin ich leicht zu verunsichern.“ Ich hatte immer das Gefühl, dass mein sicheres Verhalten irgendwie unecht war, nur gespielt, eine Vortäuschung, eine Hochstapelei, während das unsichere Verhalten echt war, meiner wahren Natur entsprach. Aber plötzlich drehte sich irgendwas und ich dachte: Mein Handlungsspielraum hat sich im Laufe meines Lebens enorm ausgedehnt. Das ist keine Hochstapelei, sondern in vielen Fällen einfach die Realität. Und das wird auch nicht dadurch aufgehoben oder entwertet, dass es trotzdem auch immer wieder zu Verunsicherungen kommen kann. Der Spielraum, ganz wörtlich als Raum genommen, bleibt auch dann ausgeweitet, wenn er an seinen Rändern immer mal wieder ausfranst. Durch dieses gedankliche Umschlagen gewann ich plötzlich Vertrauen zu mir selbst. Neben der Freude über dieses neue Vertrauen frappierte mich besonders, dass es ein rein gedanklicher Vorgang gewesen ist, der ein neues Lebensgefühl bewirkt hat. Das Thema hatten wir ja schon gelegentlich: Wie weit kann man mit Gedanken Einfluss nehmen auf sein Gefühlsleben? „Hilft“ das Denken? Spontan würde ich sagen: nein. Um eine dauerhafte Verhaltensänderung oder Einstellungsänderung zu erreichen, kann man nicht nur über den Kopf gehen, das muss irgendwie auch über den Körper laufen (ich lass das mal so vage ausgedrückt stehen). Aber das eben Geschilderte ist für mich eines der seltenen und glücklichen Gegenbeispiele.
Als erstes habe ich ein Bild gesehen. Du in zweierlei Gestalt. Einmal die Person, die auf einem Sandweg vorne weg läuft und dahinter in einigem Abstand die zweite Person, die mit gesenktem Blick hinterhertrottet. Die vorangehende Gestalt dreht sich um und ruft lachend: „Ich bin schon weiter, als du gedacht hast“. Daraufhin blickt die hinterdreinlaufende Gestalt hoch und lacht ebenfalls. Das ist wirklich ein tolles Beispiel für die nachzüglerische Erkenntnis, die feststellt, dass ein wesentlicher Aspekt des alten Selbstbildes gar nicht mehr so ist wie angenommen.
Obwohl ich kein entsprechendes Beispiel für mich habe finden können (vielleicht existiert es und ich sehe es nur nicht), kann ich dennoch gut anknüpfen, weil ich vor kurzem einen ähnlichen Geistesblitz hatte, der mir wie aus heiterem Himmel zufiel. Ich dachte plötzlich, dass je näher man(n) mich in Augenschein nähme, sowohl meine äußere Erscheinung als auch meine Eigenschaften, meine Person in all ihren Lebensäußerungen, dass dies zu einer verstärkten Zuneigung oder auch Liebe führen könne. Dass ich explizit und bewusst immer vom Gegenteil ausgegangen bin, daran kann ich mich nicht erinnern, aber anscheinend war es wohl so. Man wird mich zurückweisen und nicht mögen, sobald man mich besser und näher kennenlernt. Es muß dies eine Grundüberzeugung gewesen sein, eine von denen, die so absurd sind, dass man darüber nur lachen kann. Da ich mich nicht schminke (nur meine Lippen male ich manchmal rot an) und kein Korsett trage, erscheine ich eigentlich so, wie ich aussehe, :-))) es ist keine schöne Fassade, hinter der sich Hässliches verbirgt. Gut, meine Brille kaschiert. Das ist noch eine wunde Stelle. Und was sollte an abstoßenden oder nicht liebenswürdigen Eigenschaften und Verhaltensweisen sichtbar werden, wenn man mich näher kennenlernt?
Wahrscheinlich handelt es sich um so was wie eine Projektion-Introjektion, d.h. ich trete aus mir raus, sehe mich mit dem Blick eines anderen Menschen und gehe wieder zurück zu mir. Das alles bin natürlich ich selbst. Ich weiß nicht, ob man auch unumwegiger auf die Idee kommen kann, liebenswert zu sein. Es muß am Ende etwas mit einem veränderten Verhältnis zu mir selbst zu tun haben. So etwas wie eine Selbstannahme. Ich bin verschiedene Wörter durchgegangen und dies, obwohl es auch nicht präzise „sitzt“, finde ich noch am geeignetsten dafür, was ich meine. Die Gemeinsamkeit mit Deinem Beispiel besteht, so wie ich es sehe, darin, dass die freundliche Betrachtung meiner Person ein unmerklicher Prozess gewesen sein muß, die sich dann zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem Gedanken zeigt, der eben nicht nur Gedanke im Kopf ist, sondern die meine Person erfasst. Der Unterschied liegt darin, dass sich meine Erkenntnis nicht auf bestimmte, einzelne Eigenschaften von mir bezieht, sondern auf mich als Ganzes.
Schwerelos
Ja, ein gewisses Wohlwollen ist wohl Grundvoraussetzung, sonst wäre es Spott. Aber das ist gar nicht das erste, was mir einfällt, wenn ich versuche nachzuspüren, wie ich mich konkret in solchen Momenten der Belustigung fühle. Vorherrschend ist da eher, mich selbst nicht allzu ernst zu nehmen. Auch das hatten wir ja schon mal (wir kreisen immer wieder um dieselben Themen, ich kann nur hoffen, dass wir uns nicht im Kreis drehen, sondern dass das in Spiralen geschieht). Ich gucke meine Befürchtungen, meine Sorgen, meine Ängste nicht nur wohlwollend-liebevoll an, sondern ich finde sie in solchen Momenten wirklich lustig, so wie ich einen Scherz lustig finde. (Was passiert eigentlich bei einem Scherz? Damit habe ich mich noch nie beschäftigt. Aber es gibt bestimmt Literatur dazu. Zumindest zu Witzen, soweit ich weiß. Aber Witze und Scherze sind nicht dasselbe, denke ich.)
Oja, dazu habe ich eine längere Zeit gegoogelt und was aber einen Scherz inhaltlich ausmacht, das scheint niemanden zu interessieren. Über die psychologischen und soziokulturellen Funktionen des Scherzes und auch des Witzes wird man leicht fündig. Dazu gibt es reichlich Literatur, nur wollte ich das gar nicht wissen. Mir ist dann aber auf einmal klar geworden, dass man deswegen über die Inhalte deswegen nichts findet, weil es gar keine speziellen Scherzinhalte gibt. Man kann so gut wie alles, zumindest sehr Vieles zum Scherz machen. „Scherzen“, „lustig finden“, „lachen“ könnte man vielleicht zu den Gefühlen zählen. Sie sind wie eine Entscheidung zu einer bestimmten Haltung in einer beliebigen Situation und zu sich selbst.
Neulich stellte ich meine Waschmaschine an und weder der rote noch der gelbe Knopf färbten sich. Hm? Ich stellte die beiden Schalter wieder aus, drehte sie erneut. Die Maschine sprang nicht an. Ich geriet in den mir bekannten Schreck- und Aufruhrmodus mit den dazu gehörenden Gedanken, neue Waschmaschine, Aufwand, Kosten usw.usf. – beim ungefähr vierten Blick sah ich, dass ich das Kabel vergessen hatte in die Steckdose zu tun. Mit unbewegter Miene und unwirsch, nur wenig erleichtert (das nächste Problem wird sicher kommen), steckte ich den Stecker in die Steckdose. Wenn ich heute auf die Episode zurückblicke, dann hätte ich ebensogut über das Geschehen einer „simplen Lösung für ein großartig scheinendes Problem“ lachen können, und auch über meine Schusseligkeit, den wichtigsten Handgriff übersehen zu haben. Die Belustigung über mich selber hätte dem Schreck- und Aufruhrmodus wie einem Luftballon die Luft entzogen. Diese Haltung ist tatsächlich eine Möglichkeit, Gefühlen der Unbehaglichkeit die Schwere zu nehmen und sie in Leichtigkeit zu verwandeln. Übrigens fällt mir jetzt auf, dass die „unbewegte Miene“, mit der ich reagiert habe, den Schluß zulässt, dass der Impuls zur Belustigung schon existierte, ich sie aber nicht zulassen wollte.
Gefühle abwägen
Das ist wirklich eine sehr schöne Erfahrung und ich freue mich für dich, dass du diesen Kontakt gefunden hast. Es ist zwar vielleicht nicht ganz so schwer wie eine Nadel im Heuhaufen zu finden, aber wiederum auch nicht allzu häufig, dass es „passt“ zwischen zwei Unbekannten. Kannst du dir vorstellen, dass sie ähnliche Befürchtungen wie du gehabt hat? „Wie mag ich auf sie wirken?“, „Wird sie mein Redeschwall nicht abschrecken und sie kommt nicht wieder?“ etc. Aber vielleicht war sie auch einfach unbefangen und offen und entspannt und das hat sich auf dich übertragen? Man kann ja auch in solch einer Situation die Perspektive wechseln oder zumindest die Perspektive der anderen Seite mitbedenken. Was kann ich dafür tun, damit der oder die andere sich in meiner Gegenwart entspannen und wohlfühlen kann?
Nur kurz dazu, dass ich von ihren Befürchtungen wusste. Allerdings weiß ich nicht mehr, welche Befürchtungen sie hatte. Soweit ich mich erinnere, hatte sie die Erfahrung gemacht, dass man sich telefonisch gut verstehen kann und diese Sympathie sich bei einem persönlichen Kennenlernen nicht bestätigt.
Das war mir gar nicht so bewusst oder ich habe es damals, als du es erwähntest, gar nicht als so grundlegend verstanden. Und es wundert mich auch ein wenig, denn du erzählst doch öfter über Gefühle wie beispielsweise Angst, innere Unruhe, Sehnsucht oder Unglücklichsein. Es wundert mich allerdings gar nicht, dass du diese Entwicklung besonders an den leidvollen Gefühlen spürst, denn erstens sind sie, soweit du das schilderst, die bei dir vorherrschenden Gefühle und zweitens sind sie auch auffälliger und leichter zu bemerken. Sehr bemerkenswert finde ich aber, dass dir die neue (wenn sie denn neu ist) Fähigkeit zu fühlen in einer Situation bewusst wird, in der du sie kontrollieren kannst. Es erinnert mich an etwas, was du mir mal ziemlich zu Anfang unserer Bekanntschaft geschrieben hattest, als ich dir davon erzählte, dass ich nicht gern auf den Friedhof gehe, weil der Trauerschmerz dort einfach noch zu groß ist. Da schriebst du: „Ja, man muss sich dem Wuchtschmerz auch nicht aussetzen.“ Das hat mir damals so geholfen!
Ja, das war in der allerersten Zeit unseres Gespräches, in einer Zeit, in der wir uns hastig und ein wenig atemlos Vieles voneinander erzählt haben. Ich erinnere mich, dass ich meine „feeling“-Schwäche auch eher beiläufig erwähnt hatte.
Kürzlich las ich einen Aufsatz über die „Ökonomie der Gefühle“ eine schöne „Lehr“geschichte, die ich Dir erzählen möchte. Zwei Freunde verabreden sich auf einen Zeitpunkt 3 Wochen später. Kurzfristig muß einer der Beiden den Termin absagen. Der Andere ist enttäuscht, traurig und sagt vorwurfsvoll: „Und ich habe mich so sehr darauf gefreut Dich zu sehen“. Daraufhin antwortet der Erste: „Du hattest doch 3 Wochen lang eine Freude“. Wiegt die Enttäuschung schwerer? Die 3 Wochen der Vorfreude sind erlebt worden, durch nichts können sie rückgängig gemacht bzw. gelöscht werden. In dem Aufsatz wurde die Geschichte im Kontext des Themas „Aufmerksamkeit“ erzählt. Die Gefühle sind, was und wie sie sind, aber in der Regel gewichten und bewerten wir sie mit dem Verstand. Das heißt für diesen Fall, dass wir dem unangenehmen Gefühl mehr Aufmerksamkeit widmen, sodaß es zu dominieren scheint. Ich weiß nicht so recht, was ich dazu denken soll. Ich würde eher sagen, dass wir die angenehmen Gefühle für selbstverständlich nehmen, und die unangenehmen Gefühle für einen mehr oder weniger intensiven Einbruch in die Normalität ansehen. Hm, das läuft auf dasselbe hinaus, oder nicht?
F.
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